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# taz.de -- Kinoempfehlung für Berlin: Visueller Abenteurer
> Wolf Wirth war einer der besten Kameramänner des Landes. Das Zeughauskino
> widmet dem 2005 verstorbenen Quergänger eine Werkschau.
Bild: „Die Ente klingelt um halb 8“ (1968)
Ein verschneites Landhaus: modernistisch im Stil der frühen 60er
eingerichtet, aber doch verwunschen wie ein Gothic-Schloss. Sieben Frauen
finden sich hier nach und nach ein, verbringen hier auf Wunsch des
Frauenarztes Alphonse ein Wochenende. Der Gastgeber bleibt eine Leerstelle:
Um ihn drehen sich zwar die Gespräche, wohl auch die eine oder andere
amouröse Hoffnung, doch bleibt er der Gesellschaft fern – zur Verwunderung
der Frauen selbst.
Unklar bleibt der Charakter dieser Zusammenkunft, das Verhältnis der Frauen
zu ihrem abwesenden Gastgeber – mal ist von „Regeln“ die Rede, die in
diesem Haus herrschen, die gebrochen werden, als eine der Frauen ihren
Chauffeur für eine Nacht auf dem Zimmer behält.
Sich allein überlassen, umschleichen die Frauen einander, sprechen
miteinander, tanzen, schwimmen, lesen, tauschen bisweilen Gehässigkeiten im
Stil der alten, damals noch jungen Bundesrepublik aus: scharf, schneidend,
maßregelnd.
Diva ist die eine Frau, Femme fatale die andere, eine abgeklärte
Akademikerin findet sich in der Gruppe genauso wie eine naive junge Frau,
die sich von Alphonse die Scheidung seiner Ehe erhofft, zumal sie ein Kind
von ihm bekommt. Im Dunkel der Nacht umschleicht derweil ein Mann das Haus
– und versetzt, wann immer er sich bemerkbar macht, die Gesellschaft der
Frauen in Aufregung. Eine Leerstelle indes auch er.
Was Männer denken, was Frauen sprechen, wenn Männer nicht anwesend sind:
„Venusberg“ heißt diese 1963 entstandene Schwarz-Weiß-Trouvaille des
BRD-Kinos. Als Skandalfilm lanciert – es gibt Anflüge von Nacktheit, es
geht um weibliche Sexualität und Abtreibung, einmal zerlegen die Frauen
diverse Hühner – , floppte der Film an den Kassen und fiel dem Vergessen
anheim.
2013 wurde er bei einem Hofbauer-Kongress, einer eingeschworenen
Zusammenkunft eingefleischter Cinephiler aus dem ganzen Land, zu später
Stunde wiederentdeckt. Seitdem tourt er durch die Programme der
Kinematheken.
Ein verrätselt kristalliner Film, der gängige Vermessungen des BRD-Kinos
einen Moment lang in Frage stellt: Der Gegensatz zwischen Altbranche
(Heimatfilm, Edgar Wallace, Winnetou) und Jungem Deutschen Film
(Oberhausen, Fassbinder, Herzog) greift hier zu kurz. Regisseur Rolf Thiele
zählte damals noch zu „Papas Kino“, in den 50ern drehte er mit Romy
Schneider, galt dem Spiegel aber bald als „Chef-Erotiker des deutschen
Films“.
Der Kameramann aber ist Wolf Wirth, einer der Unterzeichner des
Oberhausener Manifests, und so etwas wie das visuelle Gewissen des Jungen
Deutschen Films, dessen ersten Langfilm, Herbert Veselys Böll-Adaption „Das
Brot der frühen Jahre“, er 1962 schoss: Ein etwas bemüht kunstwollender
Film, der jedoch dank Wirths verspielter Kamera-Formalismen als urbaner
Bilderbogen nahezu jazzige Qualitäten erreicht – mit dem U-Bahnhof
Gleisdreieck als heimlicher Kinostar.
In „Venusberg“ reifen Wirths Augenmensch-Qualitäten allerdings erst richtig
heran: Immer wieder entzieht er das Bild durch originelle Perspektiven dem
einschlägigen Nachvollzug, greift dankbar Fensterspiegelungen auf,
fragmentiert im Bildanschnitt seine Sujets und holt einen Hauch von
Antonioni ins bayerische Landhaus, während er zugleich noch die
morbid-melancholischen Bildstrategien der Gothic-Melodramen des
Nazi-Filmers Veit Harlan aufruft.
Thiele und Wirth blieben einander treu: In 19 Filmen, darunter die
fantastische, haarsträubend wild inszenierte Gesellschaftssatire „Moral 63“
mit Nadja Tiller, nahmen sie die Scheinheiligkeiten der BRD aufs Korn. Die
aufregende [1][Wirth-Schau] des Zeughauskinos ist damit auch eine heimliche
Thiele-Retrospektive.
In der farbenfrohen Komödie „Die Ente klingelt um halb 8“ von 1968 lassen
die beiden ausgerechnet einen verwirrt aus der Wäsche guckenden Heinz
Rühmann und eine Demo von LSD-Rebellen aufeinandertreffen – aus der der
Biedermann des deutschen Films denn auch als einziger verhaftet wird.
Es sind solche irritierenden Bilder, die aus dem Team Thiele/Wirth eine
Kostbarkeit der deutschen Filmgeschichte machen. Am Ende landeten die
beiden im psychedelischen Softporno, aus dem sich Wirth in die
Werbefotografie rettete.
Seinerzeit wurde Wirth als bester Kameramann des Landes landauf, landab
gewürdigt. Seitdem ist dieser 2005 verstorbene Quergänger etwas in
Vergessenheit geraten. Umso verdienstvoller ist die von Jan Gympel
kuratierte Erinnerung daran, dass in den Nischen jenseits des gängigen
BRD-Filmkanons weit mehr visuelle Abenteuerlust schlummert als einschlägige
Einschätzungen es für möglich halten.
Dieser Text erscheint im taz.plan. Mehr Kultur für Berlin und Brandenburg
immer Donnerstags in der Printausgabe der taz
25 Oct 2018
## LINKS
[1] https://www.dhm.de/zeughauskino/filmreihen/der-kameramann-wolf-wirth.html
## AUTOREN
Thomas Groh
## TAGS
Werkschau
Filmgeschichte
BRD-Film
BRD-Film
Retrospektive
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