# taz.de -- Beschuldigungen gegen Indie-Musiker: „Er war 31, ich gerade 16“ | |
> Von wegen Feel-Good-Sound: Zahlreiche Frauen werfen der argentinischen | |
> Indie-Band „Onda Vaga“ im Netz sexuelle Übergriffe vor. | |
Bild: Onda Vaga bei einem Auftritt 2015 | |
Ende September im Berliner Festsaal Kreuzberg. Ein Konzert der | |
argentinischen Indie-Band Onda Vaga. Die Stimmung ist ausgelassen, die fünf | |
Jungs kiffen auf der Bühne, das Publikum singt mit. Gitarrist und Sänger | |
Tomás Gaggero schwankt teilweise bedenklich an seinem Mikrofon. Er liebe | |
Berlin, grölt er immer wieder. Er trägt eine rote Adidas-Jogginghose. | |
Betont lässig. | |
Im Publikum: Latinxs und Menschen, die so aussehen, als hätten sie | |
mindestens einen Backpacking-Urlaub in Lateinamerika hinter sich. Onda Vaga | |
hat auch in Deutschland eine feste Fangemeinde. Anfangs spielte die Band in | |
Berlin noch auf der Straße, später in linken Clubs wie dem Kreuzberger SO | |
36. Der fröhliche Indie-Sound der Band, die wuscheligen Haare der | |
Mitglieder – alles ein bisschen hippiemäßig, ein bisschen auf heile Welt | |
getrimmt. | |
Kaum eine Woche später platzt die Feel-Good-Blase von Onda Vaga: Am | |
3.Oktober launcht die [1][Webseite „Denuncias Onda Vaga“]. Dort berichten | |
Frauen von sexuellen Übergriffen und Vergewaltigungen der Bandmitglieder. | |
Anfangs sind es zehn Berichte, keine 24 Stunden später zwanzig. Und nach | |
fünf Tagen 42. | |
Sänger Tomás habe sie 2013 nach einem Konzert ungefragt mit der Zunge über | |
ihr Gesicht lecken wollen, schreibt eine Frau auf der Webseite. Sie habe | |
sich gewehrt, daraufhin sei er wütend geworden. „Hau ab, du | |
Scheiß-Schlampe, du würdest es lieben, mit mir zu schlafen. Weißt du | |
eigentlich, dass ich alle Texte schreibe?“, soll er gesagt haben. Es ist | |
nur ein Vorwurf von vielen, die nun auf der Homepage stehen. Die | |
Betroffenen beschreiben anonym, aber äußerst detailreich, welche Übergriffe | |
die fünf Bandmitglieder sich geleistet haben – von anzüglichen | |
Facebook-Nachrichten über ungefragte Penisshow bis hin zu Psychoterror und | |
Stalking. Bereits am ersten Tag nach der Veröffentlichung schlug das Blog | |
große Wellen in den sozialen Netzwerken und argentinischen Medien. | |
## Frauenrechte, klar doch | |
Nur wenige Stunden vor dem Konzert in Berlin, Ende September, ein Interview | |
mit zwei Bandmitgliedern, Germán Cohen und Marcelo Blanco. Zu diesem | |
Zeitpunkt sind die Vergewaltigungsvorwürfe noch nicht veröffentlicht. | |
Stattdessen geht es um ihr neues Album, ihr Standing als nun international | |
erfolgreiche Indieband, um die Wirtschaftskrise in Argentinien. Insgesamt | |
nichts Brisantes. Am Ende die Frage: haben die beiden eigentlich auch ein | |
pañuelo – ein grünes Halstuch, das seit Monaten in Argentinien omnipräsent | |
ist, als Symbol der Bewegung für die Legalisierung von Abtreibung? Er habe | |
keins, aber er trage es „im Herzen“, antwortet Germán Cohen und lacht. | |
Marcelo Blanco nickt zustimmend. Frauenrechte, klar doch, | |
selbstverständlich in ihren linksalternativen Kreisen. | |
„Er war 31, ich gerade 16“, schreibt eine Frau in dem Blog über eben jenen | |
Marcelo Blanco. „Er penetrierte mich ohne zu fragen, ohne zu zögern, ohne | |
nachzudenken. Morgens um fünf zahlte er mein Taxi, damit ich rechtzeitig | |
zur Schule kam. So ging das anderthalb Jahre lang.“ Eine andere Frau | |
schreibt: „Über fast 2 Jahre lief etwas zwischen uns. Ich war 18, Marcelo | |
31. In dieser gesamten Zeit nutzte er meine emotionale Unreife und meine | |
Unsicherheit beim Thema Sex aus.“ | |
„Missbrauch gibt es nicht. Wenn Gott derjenige war, der wollte, dass es | |
passiert…Gib mir nicht die Schuld, ich habe dir nur beigebracht auf | |
Zehenspitzen zu küssen…Höre auf niemanden. Ich bin gar nicht so grausam.“ | |
So beginnt ein Song von Onda Vaga. Lolita heisst er. Sie spielen ihn | |
mittlerweile nicht mehr live, wegen „legalen Problemchen“ wie die Band | |
verniedlichend mitteilt. Auch die meisten anderen Songs handeln davon, dass | |
sie doch nur liebe Jungs seien, die das Leben feiern und die sich ab und an | |
in eine schöne Frau verguckten. | |
Mehrere Frauen berichten: die „Onda Vaga“-Bandmitglieder sollen sich | |
gegenseitig gedeckt haben. Das Machogehabe habe innerhalb der Band nie zu | |
einer kritischen Auseinandersetzung oder gar einem Zerwürfnis geführt. | |
Stattdessen sollen alle fünf ihre Berühmtheit dazu genutzt haben, um | |
Grenzen zu überschreiten. Dauerwitzelnd, selbstverliebt, ein richtiger | |
Jungsclub: auch beim Konzert in Berlin stehen nur Männer auf der Bühne, vom | |
Techniker bis zum Background-Gitarristen. | |
## Schon lange vor #MeToo | |
Die Vorwürfen gegen Onda Vaga sind nicht die ersten Fälle sexualisierter | |
Gewalt in der argentinischen Musikbranche, die öffentlich werden. Die | |
Strategie der sogenannten „Escraches“, des öffentlichen Anklagens, hat sich | |
in den letzten Jahren in vielen Ländern Lateinamerikas etabliert. Im Netz | |
wird sie praktiziert, aber auch zum Beispiel in Form von Graffiti an den | |
Hauswänden korrupter Politiker*innen oder Sexualstraftäter*innen. Bereits | |
1995 machte die Organisation HIJOS so auf die unaufgeklärten Verbrechen der | |
argentinischen Militärdiktatur aufmerksam. Lange vor #MeToo galt für | |
Feminist*innen in Argentinien die Devise: „Wenn es Gewalt gibt, gibt es | |
Escraches. Wenn es keine Gerechtigkeit gibt, gibt es Escraches.“ | |
Zwei Jahre ist es her, da begann das Kollektiv „Ya no nos callamos más“ | |
(„Wir schweigen nicht mehr“) auf einer [2][Webseite] Vorwürfe gegen | |
argentinische Musiker zu veröffentlichen. Die Idee dazu war auf einer | |
Veranstaltung mit dem Titel „Schluss mit den Vergewaltigungen im Rock und | |
überall“ in Buenos Aires entstanden. In fast allen Beiträgen finden sich | |
neben den Klarnamen auch Fotos der Täter. Es handelt sich um Größen der | |
argentinischen Alternativ-Musikszene, wie etwa den Sänger von „El Otro Yo“, | |
Christian Aldana, gegen den seit Mai 2018 auch ein Prozess wegen sexuellem | |
Missbrauch von Minderjährigen läuft, den ehemaligen Gitarristen von „La | |
Yegros“, David Martinez oder Guillermo Ruiz Diaz, den Gitarristen der Band | |
„El mató a un policia moterizado“. | |
Vornehmlich männliche Stimmen haben den Betreiberinnen der Webseite | |
vorgeworfen, dass sie Rufmord von Personen des öffentlichen Lebens | |
betreiben – unter dem Deckmantel der Anonymität, unter dem die Vorwürfe | |
erhoben werden. Diese Anonymität sei wichtig, um die Frauen zu schützen, | |
schreiben die Aktivistinnen von „Ya no nos callamos más“ auf der Seite. Und | |
um einem „System der Täter-Opfer-Umkehrung entgegenzuwirken, in dem meist | |
viel mehr Zweifel und Fragen an die Opfer laut werden als gegen die Täter“. | |
„Ciao Machistas!“ | |
Dass die Vorwürfe gegen die Band Onda Vaga gerade jetzt publik werden, | |
obwohl die Vorfälle teilweise über 10 Jahre zurückliegen, sagt viel über | |
das veränderte Standing der Frauen*bewegungen in der argentinischen | |
Gesellschaft aus. Das bereits erwähnte pañuelo, das grüne Halstuch als | |
Symbol der feministischen Bewegung für ein Recht auf legale, sichere und | |
kostenlose Abtreibung, prägte in den vergangenen Monaten das Bild der | |
Straßen, Plätze und Schulen von Buenos Aires. Der argentinische Senat | |
lehnte ein Gesetz zur Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen im August | |
zwar knapp ab, trotzdem sind feministische Themen weiter und stärker als je | |
zuvor auf der politischen Tagesordnung zu finden. Die feministische | |
Bewegung Argentiniens gilt mittlerweile als größte oppositionelle Kraft | |
gegen die neoliberale Regierung. Gesellschaftliche Verhältnisse verändern | |
sich und Feminismus ist in diesen Tagen in Argentinien kein Schimpfwort | |
mehr. | |
Stimmen, die die Bandmitglieder von Onda Vaga vehement verteidigen und die | |
den Vorwürfen sichtbar widersprechen, werden kaum laut, seit die Vorwürfe | |
laut geworden sind – weder in den sozialen Medien noch in den | |
traditionellen. Stattdessen wird die Forderung immer lauter, Onda Vaga | |
solle doch einfach ganz aufhören, aufzutreten. Hunderte liken entsprechende | |
Posts. Auch viele Männer posten Kommentare wie „Ciao Machistas!“ auf | |
[3][Onda Vagas Facebook-Seite]. Die letzten beiden Konzerte ihrer | |
Europatournee Anfang Oktober in Brüssel und Madrid haben die | |
Veranstaltenden bereits abgesagt – im Fall des Brüsseler Kulturzentrums La | |
Tentation ausdrücklich, weil bei einem Konzert von Onda Vaga nicht mehr von | |
einem safe space für Frauen ausgegangen werden könne. | |
Und wie Onda Vaga selbst auf die Vorwürfe reagiert? Weder die Band als | |
Ganzes noch eines ihrer Mitglieder haben sich bislang öffentlich geäußert. | |
Eine erneute Interview-Anfrage der taz wurde abgelehnt. | |
12 Oct 2018 | |
## LINKS | |
[1] https://denunciasondavaga.wordpress.com/ | |
[2] http://xn--Ya%20no%20nos%20callamos%20ms-t0b0005pza | |
[3] https://es-la.facebook.com/ondavaga | |
## AUTOREN | |
Julia Wasenmüller | |
## TAGS | |
Musik | |
Sexuelle Übergriffe | |
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Gewalt | |
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Schwerpunkt #metoo | |
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