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# taz.de -- Filmdoku über Sklaverei in Europa: Alle Schritte muss sie allein g…
> Bernadett Tuza-Ritters „A Woman Captured“ zeigt einen Fall von moderner
> Sklaverei. Ein Film über die Grenzen dokumentarischer Filmarbeit.
Bild: Marisch, die Protagonistin in der Doku „A Woman Captured“
Wenn ein Dokumentarfilm sich wie ein Thriller anfühlt. Als die ungarische
Filmemacherin Bernadett Tuza-Ritter die Haushälterin Marisch kennenlernt,
will sie die Frau für einen Tag mit der Kamera bei ihrer Arbeit begleiten.
Doch was ihr in Marischs Zuhause begegnet, ist völlig unerwartet: Die
Hausherrin Eta bezahlt ihr nichts, hat ihr den Ausweis weggenommen und hält
sie seit zehn Jahren wie eine Sklavin. Marisch wird geschlagen und darf nur
das Haus verlassen, um jeden Tag 12 Stunden in der Fabrik zu arbeiten.
Ihren Lohn behält Eta und lebt damit gut.
Bernadett Tuza-Ritter entscheidet sich, sich für 18 Monate nicht mehr
abzuwenden und Marisch zu begleiten. Das Resultat trägt den Titel „A Woman
Captured“, ein Film über moderne Sklaverei in Europa und weltweit. Und ein
Film über die Grenzen und Möglichkeiten dokumentarischer Filmarbeit.
Tuza-Ritter bezahlt Eta, um in ihrem Haus mit Marisch filmen zu dürfen.
Jedes Mal muss sie um Erlaubnis fragen. Im Haus ist die Kamera ebenso
unfrei wie die drei Angestellten: Etas Zimmer darf nicht betreten werden,
wenn sie vor Ort ist. Und das Gesicht der Matriarchin soll niemals sichtbar
werden. Sie bleibt im Film am Rande des Bilds, lauert in den Unschärfen.
Eta wird zu einem monströsen Phantom, zu einer ungreifbaren, willkürlichen
Gewaltherrscherin.
In einigen wenigen Momenten erlaubt Eta Fragen und spricht direkt mit
Tuza-Ritter. Sie zeigt dann keinen Sinn für die Drastik ihrer Hausordnung
und redet die Dinge mit einer unterschwelligen Aggression schön. Kontrolle,
die sei doch in allen Familien üblich. Hände mit langen Fingernägeln
umschließen ein Brötchen und reißen ein Stück heraus. Das bekommt der Hund,
serviert mit freundlichen Worten. Für Marisch indes hat sie keine milden
Worte übrig, misshandelt sie nicht nur mit Schlägen: „Was für eine
armselige Frau du bist. Du wirst dich nie ändern. Du bist nichts wert.“
Psychologische Zermürbung hat in diesem Haushalt lange Tradition und
System. Zielsicher versucht Eta, ihre Angestellten klein zu halten. Marisch
hat ihr nur noch wenig entgegenzusetzen. Sie ist gebrochen, wirkt
resigniert und ohne Zähne viel älter als 52 Jahre. Die Kamera erkundet
immer wieder ihr Gesicht, das mit tiefen Furchen von harten Jahren
gezeichnet ist. Auch vor der Anstellung bei Eta war ihr Leben aus den
Bahnen. Seit Langem fehlt das Geld und sie kann sich nicht frei bewegen.
„Ich fühle mich, als hätte ich gar nicht geschlafen“, meint sie, als sie …
Beginn des Films von der flüsternden Filmemacherin geweckt wird. Sie filmt
Marisch schon einen Augenblick zuvor, bevor sie aufwacht, und ohne
Zustimmung.
## Ein Ausbruch wird möglich
Eine Einstellung, die vorausgreift: Bernadett Tuza-Ritter und ihre Kamera
werden zu den engsten Vertrauten von Marisch, die es lange schon nicht mehr
gewohnt ist, dass ihr jemand zuhört. Immer mehr öffnet sie sich über die
Monate und gibt erst unmerklich, bald bewusster, ihre Lebensgeschichte
preis. Ganz allmählich weitet sich der Blick von Marisch und damit der des
Films. Aus der stilisierten Klaustrophobie des Hauses heraus öffnet sich
eine zaghafte Außenperspektive. Marisch zweifelt an ihrer Gefangenschaft
und schöpft neuen Mut aus der unerwarteten Komplizinnenschaft. Und so
zeichnet sich nach viel zu langer Zeit die ungeahnte Möglichkeit das
Ausbruchs ab.
Unklar bleibt, wie tatkräftig die Filmemacherin Marisch in dieser Zeit
unterstützt. „Ich hoffe, dass du mir vertraust“, meint die Regisseurin und
Kamerafrau zur Hälfte des Films. Zu diesem Zeitpunkt steht im Zentrum
bereits die Idee von Marischs Ausbruch, die Hoffnung auf einen großen
Moment, der alles verändern kann: Wird es Marisch gelingen, ohne jede
Unterstützung der Behörden von ihrer Peinigerin zu fliehen? Marisch wagt zu
hoffen und zweifelt immer wieder an der Loyalität ihrer neuen Freundin. Ihr
Plan kann nur gelingen, wenn niemand Bescheid weiß.
Tuza-Ritter untermalt indes das Geschehen mit einer intensiven bis
übergriffigen Musik, die immer deutlicher kommentiert und dramatisiert. Und
so stellt sich wiederholt die Frage, welche Agenda die Filmemacherin
während des Drehs eigentlich verfolgte. Die Hoffnung auf das Vertrauen
ihrer Heldin vermischt sich mit dem Interesse an einer Spannungskurve und
der Abhängigkeit der Künstlerin von ihrer Protagonistin. Während die
Filmemacherin bei Marisch Mut weckt, bleibt sie doch, zumindest dem
Anschein nach, passiv und verweigert ihr über die ersten Monate ihrer
gemeinsamen Zeit hinweg jede direkte Unterstützung.
Marisch heißt eigentlich Edith und weiß, dass sie alle Schritte allein
gehen muss. Die kleinsten Schritte, aus einer Totale heraus über die Straße
hinweg gefilmt, macht sie auf ihre Tochter zu. Die 19-Jährige rennt ihr
entgegen. Ab diesem Moment wahrt Tuza-Ritter eine neue Distanz zu der Frau,
die ihr über fast zwei Jahre alles von sich gezeigt hat. Die letzten
Schritte in die Unabhängigkeit befreien sie endlich von der Kamera.
11 Oct 2018
## AUTOREN
Dennis Vetter
## TAGS
Dokumentarfilm
Sklaverei
Ungarn
Ausbeutung
Reiseland USA
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