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# taz.de -- Kolumne Ich meld mich: Die Gnade der früheren Geburt
> Unser Autor durfte es noch erleben: als Langhaariger mit erhobenen Daumen
> an der Autobahnauffahrt. Er ist auch immer mitgenommen worden.
Bild: Hat heute Seltenheitswert: Tramper an der Autobahn (Archivbild von 1982)
Es klingt unwahrscheinlich, aber: Ich freue mich über die Gnade der frühen
Geburt – zumindest, was das Reisen betrifft. Sie hat mir Erfahrungen und
Erlebnisse beschert, die den Twenty-, Thirty-, Fortysomethings von heute
für immer vorenthalten bleiben werden.
Ich habe in Prag für ein großes Bier und ein Gulasch umgerechnet 40 Pfennig
bezahlt. Ich habe am Barrier Reef getaucht, bevor ein Großteil der Korallen
der Bleiche zum Opfer fiel, und in den Wäldern Lapplands gezeltet, ehe sie
zum Teil in Flammen aufgingen.
Als im polnischen Riesengebirge die Tante eines Freundes uns ein
fünfgängiges Menü vorsetzte, obwohl doch die Läden ratzfatz leer waren,
habe ich am realen Realsozialismus zu zweifeln begonnen. Nachts saß ich auf
den Ramblas von Barcelona, rauchte „Celtas Cortos“ ohne Filter und sah zu,
wie ein alter Taschendieb seinem zehnjährigen Lehrling das Handwerk
beibrachte.
Ich stand, Daumen raus, an vielen Autobahnen Europas – und kam fast immer
weg. Im tiefsten Rumänien hing ich auf Bahnhöfen herum, an denen es keine
gedruckten Fahrpläne gab und niemand ein Wort Deutsch oder Englisch sprach.
Ähnliches in Magdeburg direkt nach der Wende: Nachts um drei war der
Wartesaal brechend voll, und ich dachte: So ist es, wenn man in der
Weltgeschichte landet.
In Asturien blieb ich mit dem Auto hängen und wurde, langhaarig und
ungewaschen, von alten Frauen in die Kirche geschleppt und vom
Bürgermeister zum Mittagessen in seine Großfamilie eingeladen. In Island
nahm ich am Großen Geysir eine Dusche – und es standen noch keine fünf
Busse herum. Im Lissabon Salazars traf ich die Freundin eines Deserteurs,
die sich fahrig jede Minute nach Spitzeln umsah. Und im Jemen staunte ich
über die farbigen Glasfenster in den Zuckerbäckerhäusern von Sanaa, und die
Nacht war, doch, ja: schön wie in einem Märchen von Scheherazade.
Für all dies bin ich unendlich dankbar. Aber nichts ist vollkommen: Dass
ich keinen Shuttle zum Mond mehr besteigen werde, kümmert mich wenig.
Vielleicht aber wird es nach mir Reisesimulationen geben, die so aufregend,
beglückend und gehaltvoll sind, dass den Mitreisenden daneben jede fremde
Realität fade vorkommt. Gern wäre ich auch dabei gewesen, wenn der letzte
Billigflieger bankrottgeht, der letzte Schweröl-Kreuzfahrer angekettet
wird. Noch miterleben werde ich dagegen, dass für den Besuch Venedigs
Eintrittskarten vergeben werden. Und dass aus den Ruinen des Belttunnels
auf Fehmarn, dessen Bau mangels Kohle nach ersten Arbeiten eingestellt
wurde, der Löwenzahn sprießt.
Alles kann man im Leben nicht haben. Aber alles in allem, finde ich, bin
ich gut weggekommen.
14 Oct 2018
## AUTOREN
Franz Lerchenmüller
## TAGS
Tourismus
Rituale
Frühstück
Schwerpunkt Rassismus
Werbung
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