# taz.de -- Sachbuch „Der gute Deutsche“: Bislang das Beste | |
> Nah am pragmatischen Machiavellismus: Josef Joffe untersucht die BRD | |
> zwischen Wiedergutmachung und Wiederbewaffnung. | |
Bild: Ein guter Deutscher: Martin Sonneborn als „Stauffenberg“ auf der Fran… | |
Einst galt Die Zeit als Zentralorgan des deutschen Bildungsbürgertums. Das | |
mag den heutigen Herausgeber und Kolumnisten [1][Josef Joffe] dazu | |
verleitet haben, die Geschichte Deutschlands nach 1945 als einen | |
Bildungsroman nach dem Muster von Goethes Wilhelm Meister zu erzählen: | |
Jugendjahre, Wanderjahre, Meisterjahre. | |
Die Jugendjahre sollen die Integration Deutschlands in den Westen | |
bezeichnen, die Wanderjahre beginnen mit dem Auschwitzprozess 1964, der | |
Ostpolitik, dem [2][Terror der RAF] und der Nachrüstungsdebatte, die | |
Meisterjahre mit der Wiedervereinigung 1990. Die Prüfungen der ersten | |
beiden Etappen auf dem Wege des „Wiedergutwerdens“ hat die Bundesrepublik | |
nach Joffes Urteil bewundernswert gemeistert. | |
An der Reife Deutschlands hat Joffe seine Zweifel. Sein Buch „Der gute | |
Deutsche“ liest sich als Polemik gegen Deutschland als „moralische | |
Supermacht“. Joffe möchte als Erziehungsziel Deutschland einen | |
„republikanischen Patriotismus“ verordnen. | |
Gesellschaften durchleben keine Kindheit, Jugend und Reife. Deutschland | |
erlebte 1945 auch keine Stunde null; es war weder Waisen- noch wurde es | |
Wunderkind. Die deutsche Gesellschaft nach 1945 wurde regiert von Menschen, | |
die ihre Erfahrungen in Weimarer Republik und Nazizeit gemacht hatten. | |
Adenauer und Brandt machten nach 1945 keine Kinder- und Jugendzeit durch. | |
Weimarer Republik und Nationalsozialismus sind konstitutive | |
Erfahrungsbestandteile von Nachkriegsdeutschland, nicht etwa tote | |
Buchstaben in historischen Lehrbüchern. Westdeutschland nach 1945 sah ganz | |
alt aus – gezeichnet vom verlorenen Krieg, international diskreditiert | |
durch Massenmord und Kriegsverbrechen. | |
Joffe widerspricht sich selbst: Welcher Jugendliche bedarf schon einer | |
Resozialisierung? Zudem kommt Joffes deutscher Bildungsroman ganz ohne die | |
DDR aus, als ob ohne sie das vereinigte Deutschland nach 1990 mit seinen | |
ethnozentrischen Hitzewallungen zu verstehen wäre. Deutschland zwischen | |
1945 und 1990 lässt sich eben nicht als Bildungsgeschichte eines | |
Individuums, sondern nur als Entwicklungsprozess zweier unterschiedlicher | |
Gesellschaften begreifen. | |
Joffe braucht seine lebensgeschichtliche Konstruktion, um Deutschlands | |
Großwerden als Geschichte einer Läuterung darzustellen; denn das | |
Deutschland von heute gilt ihm als das beste Deutschland, das es je gab. | |
Ausgehend von dem moralischen Bankrott des Dritten Reiches erlebte | |
Deutschland unter Adenauer eine Integration in die westliche Welt. | |
Seine Entscheidungen für „Wiedergutmachung“ und „Wiederbewaffnung“, die | |
Adenauer gegen erhebliche Widerstände durchsetzte, bewundert Joffe als | |
kluge Realpolitik, die den Weg zur Wiedergewinnung der Souveränität im | |
Gewand moralischer Läuterung anzeigt: „Wiedergutmachung am Judentum“, wie | |
Adenauer zu sagen pflegte, und Eintritt in die Nato unter US-amerikanischer | |
Hegemonie, um die BRD als Partner des freien Westens zu etablieren. | |
## Ressentiment, nicht Praxis? | |
Auch die spätere Ostpolitik kann Joffe als Realpolitik im Gewande einer | |
Idealpolitik verstehen: Deutschland als Vorreiter der Entspannung, der ein | |
zuverlässiger Bündnispartner bleibt. Hätte es diese moralische Läuterung | |
nicht gegeben, wäre nach Joffe die „Wiedervereinigung“ Deutschlands von | |
seinen Nachbarn nicht so leicht akzeptiert worden. Nun aber sei die | |
altruistische Verkleidung nationaler Interessen nicht mehr nötig, | |
Deutschland müsse sich endlich seiner machtpolitischen Verantwortung in der | |
Mitte Europas bewusst werden. Es schwebt ihm eine Art pragmatischer | |
Machiavellismus vor. | |
Das erwachsene Deutschland nach 1989 aber gebärdet sich nach Joffe wie eine | |
„moralische Supermacht“, die sich die Finger nicht schmutzig machen will. | |
Als Beweis dienen ihm zwei Kapitel über „Antiamerikanismus“ und | |
„Antisemitismus“. Das Wesentliche an beiden scheußlichen Praktiken scheint | |
ihm die moralische Denunziation der Macht im Dienste der „Wiedergutwerdung | |
der Deutschen“ zu sein – ein Ausdruck, den Joffe [3][von Eike Geisel | |
übernommen hat] (s. „Die Wiedergutwerdung der Deutschen“, Edition Tiamat | |
2015). | |
Geisel stellte vor 20 Jahren die deutsche Politik der | |
„Vergangenheitsbewältigung“ radikal in Frage, während Joffe sie inzwischen | |
für überflüssig hält. Antiamerikanismus und Antisemitismus erscheinen bei | |
Joffe nur noch als Ressentiments und nicht als bedrohliche | |
antidemokratische Praktiken. Bei aller Abgeklärtheit ist Joffe aber der | |
weltweite Aufstieg des Populismus entgangen, der stärker noch als | |
Deutschland das Herzland der westlichen Demokratie, die USA, erfasst hat | |
und alle Schulweisheit infrage stellt. | |
Die Argumentationen Joffes stehen vorrangig im Dienst der polemischen | |
Absicht, nicht der Erkenntnis. Die Lust am Bonmot dominiert. Ärgerlich | |
wirkt der flapsige Ton, in dem ernste Probleme verhandelt werden. | |
Vertraulich ist von „Wilhelm“ und „Adolf“ die Rede. Psychoanalyse schru… | |
zur Küchenpsychologie. „Unser aller Onkel Sigmund lehrt“, heißt es bei | |
Joffe. Englische und französische Gemeinplätze pflastern seinen Text. Sie | |
sollen Weltläufigkeit demonstrieren. | |
Wissenschaftliche Kategorien wie „sekundärer Antisemitismus“ werden wie | |
Schlagwörter benutzt, ohne entwickelt zu werden. Viele Zitate kommen aus | |
zweiter Hand, manche sind schlichtweg nur zugeschrieben, werden aber als | |
wörtliche ausgegeben. Diese Art zu schreiben erweist der politischen | |
Bildung einen Bärendienst. | |
21 Oct 2018 | |
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## AUTOREN | |
Detlev Claussen | |
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