| # taz.de -- Ostbeauftragter über neue Bundesländer: „Inmitten des ostdeutsc… | |
| > Christian Hirte ist Bundesbeauftragter für die neuen Länder. Er spricht | |
| > über gefühlte Einheit und darüber, warum der Osten keine | |
| > „Wahrheitskommission“ braucht. | |
| Bild: Wie viel Ost und West steckt noch in der Bundesrepublik? | |
| taz: Herr Hirte, Sie sind Jahrgang 1976, waren also 13 Jahre alt, als die | |
| Mauer fiel. Was prädestiniert Sie für das Amt des Bundesbeauftragten für | |
| die neuen Bundesländer? | |
| Christian Hirte: Ich habe noch als Kind und Jugendlicher die Endphase der | |
| DDR erlebt. Ich komme aus dem westlichsten Wahlkreis der neuen | |
| Bundesländer, habe später einen Teil meiner beruflichen Laufbahn im Westen | |
| verbracht. Insofern bin ich wohl ein neuer Typus des Ostbeauftragten: Ich | |
| kenne beide Teile. | |
| Wie neu sind diese „neuen Länder“ nach fast dreißig Jahren noch? Schlägt | |
| sich nicht allein in der Bezeichnung ein Wir und ein Die nieder? | |
| Die Frage ist berechtigt. Es ist eine historisch entstandene Bezeichnung, | |
| aber man könnte ernsthaft darüber nachdenken, ob die noch angemessen ist. | |
| Haben Sie einen Vorschlag? | |
| „Ostbeauftragter“ ist zumindest sprachlich einfacher als „Beauftragter f�… | |
| die neuen Bundesländer“. Andererseits liegt Erfurt westlicher als München. | |
| Wichtiger als der Titel ist am Ende, dass wir die Themen des Ostens ernst | |
| nehmen. | |
| Sie sind in den Nullerjahren nach Ihrem Jurastudium in den Westen | |
| rübergemacht. Haben Sie Verständnis für die jungen Leute, vor allem Frauen, | |
| die den Osten verlassen? | |
| Ich habe in Hessen gearbeitet, aber immer in Thüringen gewohnt. Insofern | |
| war ich einer der vielen tausend Tagespendler. Die Lage in diesen Jahren | |
| war für Berufsanfänger ja in ganz Deutschland völlig anders als heute. | |
| Bestimmte Jobs gab es gerade im Osten kaum, mit dem Ende der maroden | |
| Kombinatswirtschaft waren vielerorts die Strukturen weg. Wenn man in seinem | |
| Beruf weiter arbeiten wollte, blieb einem in aller Regel nichts anderes | |
| übrig, als in den Westen zu gehen. Gesamtgesellschaftlich war das ja besser | |
| als eine noch höhere Arbeitslosigkeit. Aber die Konsequenzen sind für die | |
| Regionen bis heute natürlich schmerzhaft. | |
| Wie ist denn in „den Regionen“ die Lage? | |
| Die Situation hat sich glücklicherweise geändert. Arbeitslosigkeit ist in | |
| weiten Teilen des Ostens kaum noch ein Problem. Die meisten finden in ihrer | |
| Heimat einen Job. Aber zur Wahrheit gehört, dass ganz bestimmte | |
| spezialisierte Jobs nach wie vor gerade in den ländlichen Regionen, von | |
| denen es im Osten viele gibt, Mangelware sind. Das sind auch die Jobs mit | |
| den sehr hohen Löhnen. Im Osten fehlen die großen etablierten Global | |
| Player. Da sind wir schlecht aufgestellt und das bleiben wir auch | |
| perspektivisch. | |
| In Ihrem gerade vorgelegten Bericht zum Stand der deutschen Einheit stellen | |
| Sie fest, dass „viele Menschen im Osten sich als Bürger zweiter Klasse, als | |
| abgehängt“ verstehen. Auch wenn es aufwärtsgeht im Osten – die können ja | |
| nicht alle falsch liegen, oder? | |
| Objektiv war die wirtschaftliche Lage nie besser als aktuell. Die | |
| Arbeitslosigkeit ist dramatisch gesunken. Die Löhne haben sich | |
| überproportional entwickelt, auch die Renten und die Lebensbedingungen. | |
| Aber es gibt die berechtigte Wahrnehmung, dass es nach wie vor Unterschiede | |
| gibt, etwa bei den Gehältern. Die steigen im Osten weiter, aber auch im | |
| Westen bleibt die Entwicklung ja nicht stehen. Es ist also auch eine Frage | |
| des Maßstabs. Im Grunde könnte man sagen: Seien wir froh, dass es im ganzen | |
| Land aufwärtsgeht, in West und Ost. | |
| Das sind die Statistiken. Was ist mit dem Gefühl der Zweitklassigkeit? | |
| Das ist ein Punkt, der nicht nur mit der unterschiedlichen Geschichte vor | |
| dem Fall der Mauer zu erklären ist. Das hat auch zu tun mit dem, was nach | |
| 1989 passiert ist, mit dem kompletten Zusammenbruch, den die DDR-Bürger | |
| erleben mussten, die mit großer Euphorie in die deutsche Einheit gestartet | |
| sind. All die Brüche in den Lebensläufen, in den beruflichen Perspektiven – | |
| das wird jetzt spürbar, wenn es um die Rente geht. Daran gibt es | |
| berechtigte Kritik. Margaret Thatcher hat angeblich mal gesagt: Alle 30 | |
| Jahre wollen die Menschen etwas völlig Neues, bricht sich etwas Bahn. Seit | |
| 1990 sind wir eine Generation weiter. Es ist, glaube ich, kein Zufall, dass | |
| genau mit diesem Abstand Fragen auftauchen, was damals eigentlich mit uns | |
| geschehen ist. Zeitlich eingeordnet sind wir inmitten des ostdeutschen | |
| „68“. | |
| Gerade hat die Bundesregierung die „Kommission gleichwertige | |
| Lebensverhältnisse“ unter dem Dach des Innenministeriums gebildet. Was | |
| wären denn gleichwertige Lebensverhältnisse? | |
| Schon der Name der Kommission signalisiert, dass es nicht um Gleichheit | |
| geht. Sondern darum, dass man am Ende im ganzen Land gute | |
| Lebensverhältnisse schafft. Es gehört zur Prägung der Bundesrepublik, dass | |
| sie regional unterschiedlich ist. Das ist nichts Schlimmes. Entscheidend | |
| ist, dass keine Region, kein Mensch abgehängt wird. Die Kommission will | |
| erreichen, dass man in der Fläche gute Lebensverhältnisse schafft. Das wird | |
| uns im Osten gelingen. | |
| Der jährliche Bericht zur deutschen Einheit ist so erhellend wie ermüdend. | |
| Wie könnte echtes Interesse der Westdeutschen am Osten entstehen? Müssen | |
| immer erst Nazis marodieren? | |
| Ich bezweifle, dass es unser drängendstes Anliegen sein muss, dass das | |
| ganze Land ständig einen besonderen Fokus auf den Osten richtet. Auch viele | |
| Bayern sind nicht brennend interessiert an Schleswig-Holstein. | |
| Wozu braucht es dann also einen Ostbeauftragten? | |
| Es gibt ihn, damit die Politik die strukturellen Unterschiede und | |
| Herausforderungen besonders aufmerksam in den Blick nimmt und sich darum | |
| kümmert. Und das machen wir. Wir haben mit gigantischen Milliardenbeträgen | |
| ganz viel getan, etwa bei den Verkehrsprojekten deutsche Einheit, bei den | |
| Renten, den Forschungsinvestitionen. Wir sind im Osten inzwischen auf einem | |
| wirtschaftlichen Niveau, das sich mit den meisten Regionen in Westeuropa | |
| messen kann. Das ist ein großer Erfolg, den man nicht kleinreden sollte. | |
| Das sind die Zahlen. Aber was ist mit echtem Interesse für den Osten, mit | |
| Augenhöhe? | |
| Das Interesse ist in der Politik vorhanden. Wenn Sie sich den | |
| Koalitionsvertrag anschauen, werden Sie feststellen, dass der sich in einer | |
| Intensität der neuen Bundesländer annimmt wie selten zuvor. In dieser | |
| Koalition liegt ein klarer Fokus auf der Situation dort. Sowohl was die | |
| Wirtschaftspolitik angeht als auch die soziokulturellen Unterschiede. | |
| Was halten Sie vom Vorschlag des SPD-Ostbeauftragten Martin Dulig, eine | |
| Wahrheitskommission zur Aufarbeitung der Nachwendezeit einzurichten? | |
| Die Wortwahl finde ich völlig inakzeptabel. Ostdeutschland ist nicht | |
| Südafrika oder Ruanda. Dass man sich mit der Situation nach 1990 noch mal | |
| intensiver beschäftigen muss, daran besteht kein Zweifel. Das müssen wir | |
| nicht alles staatlich organisieren, denn diese Beschäftigung passiert ja | |
| schon und wird sich fortsetzen. Ich werde mich unter anderem in einer | |
| Studie mit der Arbeit der Treuhand auseinandersetzen. Wir müssen gucken, | |
| was dort genau passiert ist, welche Fehlentwicklungen stattgefunden haben. | |
| Wir müssen den Bürgern signalisieren, dass wir ernst nehmen, was damals | |
| schiefgegangen ist. Aber mit einer „Wahrheitskommission“ den Eindruck zu | |
| erwecken, dass quasi staatlich organisierte Verbrechen im Osten verübt | |
| wurden, das finde ich daneben. Wir achten ja in unserem Land sonst penibel | |
| genau auf den politisch korrekten Umgang mit Sprache. Auch deshalb finde | |
| ich die Leichtfertigkeit, mit der hier bewusst überzogen wird, | |
| unangemessen. | |
| Die Treuhand und der Einigungsvertrag stehen bis heute symbolisch für die | |
| Übernahme des Ostens durch den Westen. Den unzufriedenen Ostdeutschen immer | |
| nur zu sagen, dass sie froh sein sollen, dass es die DDR nicht mehr gibt – | |
| reicht das heute noch? | |
| Das reicht weder heute noch hat es 1990 gereicht. Der Historiker Marcus | |
| Böick hat für die Treuhand den Begriff einer „erinnerungspolitischen Bad | |
| Bank“ geprägt: Was nicht gut gelaufen ist, wird auf diese Institution | |
| projiziert. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass man im Westen auf die | |
| konkrete Situation der Wiedervereinigung nicht vorbereitet war und sie | |
| teilweise falsch eingeschätzt hat. Insgesamt war das ein gewaltiges | |
| Zuschussgeschäft. Trotzdem sollte man den Ostdeutschen nicht sagen: Jetzt | |
| seid mal zufrieden, ihr kriegt immerhin unsere Hilfe. Das kann nicht der | |
| Anspruch sein. Wir müssen in staatlichem Handeln ausdrücken, dass wir den | |
| Osten wahrnehmen. Und das tut diese Bundesregierung. | |
| 3 Oct 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Anja Maier | |
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