# taz.de -- China-Roman von Stephan Thome: Als der Westen sich überlegen fühl… | |
> Millionen Menschen starben bei einem Aufstand in China – mittendrin | |
> Europas Kolonialmächte. Davon erzählt Stephan Thome in seinem Roman. | |
Bild: Hongkong 1885: Ausschnitt aus einem Gemälde des französischen Malers Je… | |
In einer der eindrücklichsten Szenen des Romans sucht Lord Elgin, der | |
britische Sonderbotschafter in China, ausgerechnet im „Garten der | |
vollkommenen Klarheit“ verzweifelt nach dem berühmten Sommerpalast. Es ist | |
Herbst, er hat Fieber, dennoch will er sich einen Eindruck vom frisch | |
eroberten Terrain verschaffen. | |
Allein irrt er durch das Gelände, das ihm in seiner verspielten Pracht auf | |
die Nerven geht, er stößt auf Leichen im See, ärgert sich über Plünderung | |
und Verwüstung, die britische und französische Truppen bereits hinterlassen | |
haben, und begegnet sogar, am Fuß des bereits mit „Rule, Britannia!“ | |
beritzten kaiserlichen Throns, seinem kürzlich von den Chinesen getöteten | |
Sekretär Maddox: eine Geistererscheinung. Kurz darauf erteilt er den | |
Befehl, das ganze Areal niederzubrennen. | |
Die Zerstörung des Sommerpalastes im Oktober 1860 war mehr als die | |
kalkulierte Vergeltungsaktion für ein halbes Dutzend getöter Geiseln. Sie | |
war Ausdruck tiefer Missachtung der chinesischen Kultur gegenüber, der sich | |
das Empire als liberale Kolonial- und Handelsmacht haushoch überlegen | |
wähnte. | |
Und doch ist diese Auslöschung ähnlich aus dem westlichen Fokus geraten wie | |
der historische Hintergrund, vor dem sie stattfand. Die Taiping-Rebellion, | |
in der zu einem radikalen Christentum konvertierte Chinesen den | |
mandschurischen Kaiser und seine korrupten Mandarine stürzen wollten, zog | |
einen Bürgerkrieg nach sich, in dem 20 bis 30 Millionen Menschen starben. | |
Der Sinologe und Philosoph Stephan Thome hat sich als Schriftsteller bisher | |
vor allem für die Brüche im Leben von Akademiker*innen interessiert. Jetzt | |
versucht er mit seinem vierten Roman „Gott der Barbaren“, ein umfassend | |
recherchiertes Panorama jenes west-östlichen Kulturkampfes zu zeichnen, in | |
dem sich viele Konflikte von heute spiegeln. Mit drei Protagonisten in | |
unregelmäßig wechselnden Erzählsträngen fächert Thome die Perspektiven auf. | |
## Gutwillige Glücksritter | |
Der preußische Ex-Revolutionär Philipp Johann Neukamp ist darunter die | |
einzige fiktive und dennoch nicht unplausible Figur, die ihre überraschende | |
Abgründigkeit erst am Schluss offenbart. Der sprachbegabte Zimmermannssohn, | |
der zunächst aus der Ich-Perspektive erzählt, ist eine Art Jedermann der | |
Kolonisation, ein entwurzelter, gutwilliger Glücksritter, der nach der | |
gescheiterten Revolution von 1848 einen Missionsposten in dem | |
Opiumschmugglerdorf Hongkong annimmt. Die Missionsschwester, in die er | |
sich dort verliebt, weist seinen Heiratsantrag zurück, weil er nicht | |
gläubig genug ist – vielleicht reist er deshalb nach ihrem Tod ins Gebiet | |
der Rebellen. Eine Schiffsreise durch dunkle Gewässer, die an Joseph | |
Conrads „Herz der Finsternis“ erinnert und im Verlust von Neukamps linker | |
Hand gipfelt. | |
Doch selbst als er später von den „Langhaarigen“ zu einer Art Nebenkönig | |
„Heiliges Gefäß“ ernannt wird – hier wechselt Thome merkwürdigerweise … | |
Weile in die auktoriale Erzählhaltung –, bleibt ihm deren synkretistischer | |
Ideologiemix aus traditioneller Magie und Urchristentum fremd. | |
Nicht nur an Neukamp nagen Zweifel. Auch der historische Kolonialpolitiker | |
James Bruce, Earl of Elgin, dessen Briefwechsel mit seiner Frau Mary Louisa | |
Thome gründlich studiert haben dürfte, fragt sich nach Einsätzen in Jamaika | |
und Kanada nun auch in China, was er eigentlich am anderen Ende der Welt | |
sucht. Mit strikt aus Elgins Perspektive erzählten Passagen fühlt Stephan | |
Thome sich suggestiv in den machtbewussten Strategen ein und zeichnet das | |
Porträt eines Wegbereiters der Globalisierung, den weder Frau noch Kinder | |
zu Hause halten können und der dafür den Preis andauernder Melancholie | |
bezahlt. | |
## „Lotusfüßige“ Sexsklavin | |
Immer wieder muss Elgin die auch militärische Erpressung von sogenannten | |
Handelsverträgen sich oder anderen gegenüber fortschrittsphilosophisch | |
legitimieren, und auch seine Gin-befeuerten Monologe gegenüber einer | |
„lotusfüßigen“ Sexsklavin zeigen, dass ihm diese britische Praxis zunehme… | |
unter die Haut geht. Und doch platzt ihm beim Irrgang durch den | |
Sommerpalastgarten der Kragen: „Es war dieselbe Scheinwelt, in der China | |
seit zweitausend Jahren vor sich hin vegetierte. Nicht nur ohne | |
Fortschritt, sondern ohne Bewegung. | |
Den Kompass hatten sie erfunden und trauten sich nicht aufs Meer; das | |
Schießpulver, aber ihre Kanonenrohre platzten nach dem dritten Schuss; den | |
Buchdruck, nur um immer wieder die gleichen hohlen Sinnsprüche zu | |
produzieren. Eine ganze Zivilisation, die sich mangels Vision abschottete | |
und einigelte. Statt einmal ins Weite zu schweifen und Möglichkeiten zu | |
erkennen, blieb der Blick am nächsten hübschen Kleinod hängen“, so | |
pointiert schildert Thome den chauvinistischen Fieberschub des Lords. | |
Obwohl der Autor sich gerade nicht über seine historischen Figuren erhebt, | |
sie als reflektierte komplizierte Charaktere zeichnet, ist es oft ein | |
schmaler Grat, sie dennoch nicht allzu nachdrücklich durch die | |
postkoloniale Brille zu inszenieren. Das gilt auch für den dritten | |
Protagonisten Zeng Guofan, ebenfalls eine reale historische Figur. Der | |
General der Hunan-Armee sieht den starken Zentralstaat von drei Seiten | |
bedroht: durch die militärisch zunächst äußerst erfolgreiche Rebellion von | |
innen; durch die „ausländischen Teufel“, die vom chinesischen Bürgerkrieg | |
gnadenlos profitieren, von außen; und schließlich durch den mandschurischen | |
Kaiser selbst, der ganz dem Privatleben unter Konkubinen frönt. | |
Thome schildert Zeng Guofan als eisern disziplinierten Intellektuellen, der | |
seinerseits eng eingebunden ist in streng kodifizierte | |
Lehrer-Schüler-Strukturen, in denen erwachsene Männer sich mit vertrackten | |
Essay-Hausaufgaben bestrafen und das Strategiespiel Go als Blaupause fürs | |
Leben gilt. Wer dächte nicht an [1][das China von heute], wenn Zeng Guofan | |
seinen Schüler belehrt, dass er den Feind beobachten und verstehen muss, um | |
ihn zu schlagen? | |
Und doch ähneln einige Argumente des Generals, der sich auf den | |
„nationalistischen“ Philosophen Wang Fuzhi (1619–1692) beruft, denen des | |
Lords auf verblüffende Weise: Beide sind Vertreter männlich definierter | |
Weltbilder, die nichts mehr fürchten als „Verweiblichung“, sprich | |
Kontrollverlust. | |
Im Wechsel dieser drei Perspektiven erzählt Stephan Thome fast beiläufig | |
von den eigennützigen Allianzen der Engländer und der blutigen | |
Zurückdrängung der Rebellen. Das chinesische Volk taucht dabei meist nur | |
als Masse auf, und sei es von Leichen, die als dichter Teppich den Yangtze | |
hinabtreiben. Hier spiegelt Thomes Gewichtung bewusst den Stand der | |
Überlieferung, nicht die historische Realität, mit einer Ausnahme: Ein | |
renitenter Buchdrucker und seine Tochter, die Neukamp nach seiner | |
Amputation versorgt, repräsentieren in einem eigenen Dokumentenstrang die | |
Opfer beider gleich grausamer Systeme, des kaiserlichen wie des | |
rebellischen. | |
Dass zudem Philipp Neukamps abenteuerliche Odyssee gegenüber den | |
reflexiveren Parts von Zeng Guofan und Lord Elgin eine wichtige | |
Entlastungsfunktion erfüllt, merkt man spätestens, wenn er im letzten | |
Drittel als gehätschelter, opiumbedröhnter Pseudokönig fast ausfällt. | |
Dennoch taucht man in die Fülle an Figuren und Entwicklungen auch deshalb | |
mit gespannter Aufmerksamkeit ein, weil Stephan Thomes meist schnörkellose, | |
dabei äußerst lebendige Sprache ihren Standpunkt in der Gegenwart nicht | |
verleugnet und letztlich alle Perspektiven miteinander verbindet. Dabei | |
gelingt Thome das Außerordentliche, die Geschichten dreier Sieger oder | |
zumindest Überlebender – denn das sind Elgin, Zeng Guofan und Neukamp am | |
Ende auf je ihre Weise – als unaufhaltsame Niederlagen zu erzählen: als | |
Verlust von Identität, Familie und Mitgefühl. | |
5 Oct 2018 | |
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## AUTOREN | |
Eva Behrendt | |
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