| # taz.de -- Institut für Sozialforschung etabliert Preis: Fragen größter Dri… | |
| > Das Hamburger Institut für Sozialforschung hat seinen neuen Preis für | |
| > soziologische Arbeit nach dem zu wenig bekannten Wissenschaftler | |
| > Siegfried Landshut benannt. | |
| Bild: Immer das Gemeinwohl im Blick: Siegfried Landshut in den 1960er Jahren | |
| Berlin taz | Einen Preis auszuloben ist für jede Institution, die diese | |
| Auszeichnung vergeben will, immer auch ein aufmerksamkeitsökonomisch | |
| gesinnter Akt: Er zeigt die Wichtigkeit an, mit der die Preisauslobenden | |
| Öffentlichkeit beanspruchen. Das Hamburger Institut für Sozialforschung | |
| (HIS) hat einen Preis ausgelobt – jenes Haus, das weithin für die in ihrer | |
| ersten Fassung umstrittene Ausstellung zu den Verbrechen der Wehrmacht | |
| bekannt wurde, obwohl die wesentlichen Befunde dieser in vielen deutschen | |
| und österreichischen Städten gezeigten Schau nicht neu waren. | |
| Aber das Institut, das der Hamburger Philologe Jan Philipp Reemtsma 1984 | |
| gründete, machte die deutschen (Militär-)Verbrechen vor allem in Osteuropa | |
| zu einem öffentlichen Skandal: Das HIS entwickelte aus dem in den | |
| Geschichtswissenschaften Erforschten einen Diskurs über die Fachwelt | |
| hinaus. Keine schlechte Leistung, im Gegenteil. Wie überhaupt viele | |
| Wissenschaftler*innen am HIS mit starken Leistungen, nicht zuletzt von | |
| Reemtsma selbst, das Institut im Gespräch hielten, zuletzt besonders im | |
| Bereich der Gewaltforschung. | |
| Mit Wolfgang Knöbl, der Reemtsma 2015 als Direktor des Hauses ablöste, kam | |
| absichtsvoll ein anderer Geist ins HIS. Es zählte, so könnte man sagen, nun | |
| mehr die wissenschaftliche Feinarbeit, das Wirken und Werken an Kategorien. | |
| Knöbl, bis zu seinem Jobwechsel nach Hamburg Soziologieprofessor in | |
| Göttingen, hat sich nun mit Kolleg*innen einen Preis ausgedacht: Dass der | |
| in Los Angeles lehrende, britische Soziologe Michael Mann ihn als Erster | |
| erhält, ist keine schlechte Wahl. | |
| Mann kniffelt an sozialwissenschaftlichen und Fragen so gründlich herum, | |
| wie dies von Knöbl selbst bekannt ist – im Falle Manns vor allem solchen | |
| zur Gewalt. | |
| Seine These, die er in seinen beiden Hamburger Vorträgen ausführen wird, | |
| ist folgende: Keineswegs sei der Krieg als solcher im Begriff auszusterben | |
| – nur sei er in der nördlichen Hemisphäre in gewisser Weise nicht mehr so | |
| intensiv lokalisierbar wie im Süden. Es sei falsch, von einer Verbesserung | |
| der Welt zu sprechen, nur weil keine großen Kriege mehr angezettelt würden; | |
| auch die Behauptung, es seien die Länder des Südens, die sich noch in | |
| dieser tödlichen Technik der Konfliktlösung übten, sei falsch: Der reiche | |
| Norden sei vielmehr in diese Kriege involviert, in beinah jeder Hinsicht. | |
| Das wird, in beiden Vorträgen, spannend genug. | |
| Mann kümmert sich, ließe sich sagen, um das, was als globale Fragestellung | |
| Relevanz hat: die Frage nach Gewalt und ihrer Einhegung etwa. Und damit | |
| ist, eventuell mit unbewusster Kraft, die Brücke zum eigentlich Clou dieses | |
| Preises geschlagen – zu seinem Namensgeber. | |
| Nach dem Suhrkampschen Heiligen der bundesdeutschen Aufklärung und | |
| Selbstvergewisserung, Theodor W. Adorno, ist mindestens ein kulturell | |
| inspirierter Preis benannt, so überlegte man im HIS. Nach Siegfried | |
| Landshut, wie Adorno ein jüdischer Deutscher, der nach der | |
| nationalsozialistischen Zeit remigrierte und in Hamburg als Professor für | |
| Politikwissenschaft einen Lehrstuhl innehatte, war dagegen noch keine | |
| Auszeichnung benannt. | |
| Insofern war die Wahl seines Namens schon originell genug. Aber sie ist | |
| auch inhaltlich, wissenschaftsstofflich prima zu begründen: Landshut | |
| verstand sich nicht als Soziologe, wie man diesen akademischen Berufsstand | |
| heute begreifen könnte, sondern als Politikwissenschaftler in einem | |
| übergeordneten Sinn. Als Wissenschaftler in seinem Fach komme es auf | |
| historisches Bewusstsein, auf gründliche Kenntnis geschichtlicher Vorgänge | |
| und auf mehr als nur vage Informiertheit an. Die Wissenschaft von der | |
| Politik sei die älteste und grundlegendste Disziplin, sie habe sich immer | |
| schon am Gemeinwohl orientiert: Politikwissenschaft sei mehr als die Kunde | |
| von Verwaltungen, von Institutionen und vom Ringen um Macht. | |
| ## Wissenschaft von der Politik | |
| Landshut, 1897 in Straßburg, Elsass, zur Welt gekommen, kam in den | |
| zwanziger Jahren an die eben gegründete Universität Hamburgs. Mit seinen | |
| „Untersuchungen über die ursprüngliche Fragestellung zur sozialen und | |
| politische(n) Problematik“ bewarb er sich als erster deutscher | |
| Wissenschaftler im 20. Jahrhundert um Habilitation im damals nicht | |
| existierenden Fach Politik – ihre Annahme wurde verweigert. | |
| Unter dem Titel „Kritik der Soziologie“ wurde die Studie 1929 | |
| veröffentlicht und erntete gleich heftige Einsprüche. Landshut, politisch | |
| selbst kein Linker, veröffentlichte 1932 die sogenannten „Pariser | |
| Manuskripte“ Karl Marx’ – ohne den Theoretiker der sozialistischen Utopie, | |
| so Landshut, könne man soziologische Fragestellungen nicht entfalten: | |
| Analytisches ohne die Ermittlung von ökonomischen Konstellationen und | |
| solcher der Machtausübung schlechthin sei von unvollständigem Wert für das | |
| Gemeinwohl. | |
| ## Flucht vor den Nazis | |
| Mit der NS-Machtübernahme musste Landshut mit seiner Familie emigrieren; in | |
| Ägypten und Palästina lebten die Landshuts unter materiell zeitweise | |
| erbärmlichen Bedingungen. Siegfried Landshut erarbeitete für das Economic | |
| Research Institute in Jerusalem die erste Studie über die soziologischen | |
| Grundlagen der Gemeinschaftssiedlungen („Kibbuz“) in Palästina – und fand | |
| für dieses Lebens- und Arbeitsmodell durchaus nicht nur freundliche Worte. | |
| 1950 kam Landshut nach Hamburg zurück; seine akademischen Kollegen hießen | |
| ihn nicht besonders warmherzig willkommen. Zum ordentlichen Professor wurde | |
| er 1951 berufen, viele Jahre akademischen Wirkens schlossen sich an. 1964 | |
| wurde er zum Vorsitzenden der Deutschen Vereinigung für Politische | |
| Wissenschaften gewählt. Am 8. Dezember starb Siegfried Landshut im Alter | |
| von 71 Jahren in Hamburg. | |
| Sein Werk hat nicht die Prominenz erfahren, die etwa sein ebenfalls aus der | |
| Emigration in die Bundesrepublik zurückgesiedelter Kollege Adorno genießen | |
| konnte: Während von dem in Frankfurt lehrenden Soziologen die zum | |
| Alltagsmodus gewordene kritische Haltung zu lernen war, alles zu | |
| hinterfragen, nichts so gelten zu lassen, wie es scheint, und immer hinter | |
| allen sogenannten Fassaden das Eigentliche zu vermuten – weil es ein gutes | |
| Leben im Falschen nicht geben könne –, lud ein Wissenschaftler vom | |
| Politischen wie Siegfried Landshut dazu ein, das Gemeinwohl, so fernstehend | |
| und entfremdet es dem Einzelnen auch scheinen mag, nicht aus dem Blick zu | |
| verlieren. | |
| Es könnte, zumal in Zeiten, da Parteien wie die AfD beanspruchen, für das | |
| „Volk“ zu sprechen, klug sein, das Werk Landshuts zu entdecken: Ein Volk | |
| ohne ausdifferenzierten Blick könne es nicht geben. Die schiere Empirie, | |
| ohne die eine politische Soziologie nicht auskommen kann, lehrt, dass jedes | |
| Sprechen über das, was „Volk“ genannt wird, eine grundsätzliche Lüge | |
| enthält: Weil es einen Gesamheit ohne Einzelne, also ohne differente, auch | |
| gegensätzliche Interessen, nicht geben kann. Dass das HIS seinen Preis nach | |
| Siegfried Landshut benennt, ist in diesem Sinne so hochaktuell wie | |
| nützlich. | |
| 3 Oct 2018 | |
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| Theodor W. Adorno | |
| Jan Philipp Reemtsma | |
| Soziologie | |
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