| # taz.de -- Selbstverbrennung in Ingolstadt: Videobotschaft gegen Erdoğan | |
| > Aus Protest gegen den Staatsbesuch des türkischen Präsidenten verbrannte | |
| > sich ein junger Kurde. Seine Familie kann es nicht fassen. | |
| Bild: Frank-Walter Steinmeier und Recep Tayyip Erdoğan am Freitag in Berlin | |
| Als Ümit A. aus Ingolstadt am Donnerstagmorgen gerade das Haus verlassen | |
| wollte, sah sein Bruder Sertaç, mit dem er zusammenwohnte, den | |
| Benzinkanister in seiner Hand. „Was willst du denn damit?“, fragte der | |
| Bruder noch. „Nichts Besonderes“, lautete Ümits Antwort. „Ich geh Benzin | |
| holen für das Motorrad von einem Freund. Kannst du mir ein bisschen Geld | |
| geben?“ | |
| Ümit A. verließ das Haus und ging in ein Waldstück. Gegen 11 Uhr schickte | |
| der 26-Jährige seinen Standort an einen Freund. Stunden später fand die | |
| Polizei an diesem Standort seinen verbrannten Leichnam. Er hatte sich das | |
| Leben genommen. | |
| A. hatte auf Facebook eine Videobotschaft in kurdischer Sprache | |
| hinterlassen: „Wie ihr wisst, kommt Erdoğan heute nach Deutschland, das ist | |
| einer der Gründe für meinen Protest. Wie sich die [1][Freundschaft zwischen | |
| Deutschland und der Türkei] auf uns auswirkt, ist euch ja bekannt.“ | |
| Ümit A. stammte aus Kozluk, einer kleinen Kreisstadt in der Provinz Batman | |
| im Südosten der Türkei. Der Vater Hayrettin A. ist dort Mitglied der | |
| prokurdischen HDP, auch die Söhne Ümit und Sertaç beteiligten sich in der | |
| Kleinstadt an Protestaktionen gegen die Regierung. 2015, als der | |
| Friedensprozess zwischen dem türkischen Staat und der PKK endete, wurde das | |
| Leben in den kurdischen Städten schwieriger. Auch der Druck auf die Familie | |
| A. in Batman nahm zu. Sertaç A. berichtet, der Staat habe die Menschen in | |
| der Region zu einer Entscheidung gezwungen: „Entweder ihr stellt euch auf | |
| die Seite des Staates oder ihr verschwindet hier!“ | |
| So ging die Familie Ende 2015 nach Istanbul. Als es nach dem Putschversuch | |
| vom Juli 2016 zu Massenverhaftungen von politisch aktiven Kurd*innen kam, | |
| schickte der Vater die beiden Söhne nach Deutschland. Hier stellten sie | |
| Asylanträge. „Wenn man woanders hingeht, wird man verletzlicher und noch | |
| zorniger“, erzählt Sertaç A. „Dazu kommt die psychische Krise. Wir wollten | |
| uns für unser Volk engagieren, aber das ging hier gar nicht.“ | |
| Die beiden Brüder hatten kein leichtes Leben in Ingolstadt. Sertaç A. bekam | |
| einen Job in einem Döner-Imbiss, Ümit war arbeitslos. Der Rest der Familie | |
| lebte weiter in Istanbul. | |
| Noch ist unklar, wo Ümits Leichnam bestattet wird, denn die Familie hat | |
| weder das Geld, ihn in die Türkei zu überführen, noch zur Beerdigung nach | |
| Deutschland zu kommen. Der bis zur Unkenntlichkeit verbrannte Leichnam des | |
| jungen Mannes liegt derzeit in einem gerichtsmedizinischen Leichenschauhaus | |
| in Ingolstadt. | |
| Bereits in der Vergangenheit gab es unter Kurd*innen ähnliche | |
| Selbstverbrennungen. Sie nahmen zu, als PKK-Chef Abdullah Öcalan auf Druck | |
| der Türkei 1998 aus Syrien ausgewiesen, im Jahr darauf in Kenia gefasst und | |
| auf der Gefängnisinsel Imralı interniert wurde. | |
| Am 17. November 1998, nach Öcalans Ausweisung aus Syrien, verbrannten sich | |
| die beiden jungen Kurden Ahmet Yıldırım und Remzi Akkuş in Russland, dabei | |
| riefen sie Parolen. In der ersten Woche nach Öcalans Entführung in die | |
| Türkei verbrannten sich insgesamt 63 Menschen, darunter die elfjährige | |
| Zehra Çelik. In jüngerer Zeit, 2014, verbrannte sich in Izmir der | |
| 22-jährige Mahsun Özen am zweiten Jahrestag des Massakers von Roboski (bei | |
| dem am 28. Dezember 2011 34 meist jugendliche Zivilisten vom türkischen | |
| Militär als angebliche Schmuggler getötet worden waren), um gegen Öcalans | |
| Haft zu protestieren. | |
| Ümit A.s Videobotschaft auf Facebook weist Ähnlichkeiten zu diesen Aktionen | |
| auf: Er fordert darin die Freilassung Öcalans und verweist darauf, dass für | |
| die Übergriffe gegen Kurd*innen neben der Türkei auch Deutschland | |
| verantwortlich sei. | |
| Der Schwager des Toten, der seit 26 Jahren in Deutschland lebt und seinen | |
| Namen aus Sicherheitsgründen nicht nennen möchte, kann die Aktion seines | |
| Verwandten nicht verstehen. | |
| „Er hat sein Leben beendet und damit Verzweiflung bei seiner Familie | |
| ausgelöst. Er hätte auf dem politischen Weg, dem er sich verschrieben | |
| hatte, viel mehr für sein Volk erreichen können“, sagt er. | |
| Der Schwager glaubt, Ümit A. habe seine Aktion „im Rahmen des | |
| Sympathisantentums“ mit der PKK geplant. Sein Verwandter sei aber sicher | |
| nicht Mitglied irgendeiner Organisation gewesen. „Wir glauben, dass er auch | |
| den Beschluss zu dieser Aktion allein gefasst hat. Er hat diesen Schritt | |
| aus einem Gefühl von Einsamkeit und Verzweiflung heraus getan.“ | |
| Die Psychologin Olga Hünler sagt, Suizide dieser Art seien nicht bloß | |
| individuell und psychologisch motiviert. Auch soziale und gesellschaftliche | |
| Aspekte würden dahinter stecken. „Studien haben ergeben, dass solchen | |
| Handlungen tiefe Verzweiflung und das Bedürfnis zugrunde liegen, erlittenes | |
| Unrecht auszugleichen.“ | |
| Hünler sagt, wenn Personen meinen, auf ihre Forderungen werde nicht | |
| eingegangen, könnten sie sich zu einem solchen Akt in der Öffentlichkeit | |
| entschließen. „Dahinter stecken psychologische Faktoren wie Stress, | |
| Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit und Depression, aber man muss auch die | |
| sozialen und politischen Voraussetzungen verstehen, die einem solchen | |
| Schritt Vorschub leisten.“ | |
| Aus dem Türkischen übersetzt von Sabine Adatepe. | |
| 30 Sep 2018 | |
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| ## AUTOREN | |
| Erk Acarer | |
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