# taz.de -- Armut trotz Arbeit: Australiens stille Epidemie | |
> Die Wirtschaft boomt. Doch immer mehr Australier sind auf | |
> Lebensmittelspenden angewiesen, so wie Susan Thompson und ihr Sohn. | |
Bild: Einkaufen ohne zu kaufen: Susan Thompson und ihr Sohn Brendan | |
GOULBURN taz | Weiße Bohnen in Tomatensauce scheinen kein Favorit zu sein | |
von Brendan. Der 11-Jährige blickt skeptisch auf die Dosen im Regal. | |
Brendan und seine Mutter Susan Thompson stehen in einem kleinen Laden. | |
Zumindest sieht dieser Raum so aus. Doch hier können die beiden Waren | |
mitnehmen, ohne dafür bezahlen zu müssen. Oder sie legen einen symbolischen | |
Betrag auf den Tisch. Brendan und Susan sind in einer sogenannten Foodbank. | |
Sie sind zwei von Zehntausenden von Australierinnen und Australiern, die | |
sich das Leben schlicht nicht mehr leisten können. So sehr, dass sie | |
gelegentlich hungern müssen. | |
Manchmal habe sie Hunger gelitten, damit wenigstens ihre Kinder essen | |
konnten, erzählt Thompson. „Aber es ist es wert gewesen.“ Irgendwann hörte | |
sie von der Foodbank. Von da an habe sich die Situation gebessert. | |
Susan Thompson entspricht nicht dem Bild, das man von einem Sozialfall | |
haben könnte. Die alleinstehende Mutter ist gut gekleidet, eloquent, | |
gebildet. Thompson ist Teil eines Phänomens, das Sozialverbände als „stille | |
Epidemie“ bezeichnen. Obwohl sie eine Teilzeitstelle hat, reiche das Geld | |
nirgendwo hin. Die Lebenshaltungskosten sind einfach zu stark gestiegen. So | |
hoch, dass sich Tausende von Menschen nicht mehr leisten können, sich | |
ausreichend zu ernähren. | |
Eine von der landesweiten Organisation Foodbank herausgegebene Studie kommt | |
zum Schluss, dass jedes fünfte Kind in Australien in einem Haushalt lebt, | |
in dem es nicht genügend zu essen gibt. 15 Prozent aller Australier hätten | |
Probleme, sich zu ernähren. Die Zahlen überraschen jene nicht, die sich | |
täglich mit Armut und Bedürftigen abgeben. Einen leeren Bauch zu haben, | |
werde für immer mehr Kinder zur Norm, sagt Melina Skidmore. Sie ist die | |
Gründerin der Foodbank in der Kleinstadt Goulburn, südlich von Sydney. Sie | |
nennt ihre Organisation „Angels of the Forgotten“ – Engel der Vergessenen. | |
Die Stiftung wird von einem Team von Freiwilligen betrieben und über | |
Spenden finanziert. „Einige Familien können sich nur einmal am Tag ein | |
Essen leisten“, so die Hausfrau und Mutter, die vor acht Jahren zwei | |
Ausgabestellen gegründet hatte, wo sich Bedürftige mit Nahrungsmitteln | |
eindecken können. „Immer wieder gehen Kinder auch ohne Verpflegung in die | |
Schule“. Deshalb hat Skidmore in ihrem kleinen Laden auch immer Müsliriegel | |
ausliegen. Sie beschreibt Situationen, wo Kinder einen ganzen Tag lang | |
überhaupt nichts zu essen hätten. | |
## Dasselbe Prinzip wie bei der deutschen Tafel | |
Die Foodbank verfügt nur über eine beschränkte Auswahl an Lebensmitteln: | |
Teigwaren, Reis, Getränke. Und auch ab und zu mal etwas Süßes. „Es ist | |
nichts schlimmer für sozial Benachteiligte, jeden Tag weiße Bohnen essen zu | |
müssen“, erzählt Skidmore. Die Lebensmittel werden von der Foodbank | |
entweder eingekauft, oder es handelt sich um Geschenke. Großverteiler wie | |
Aldi liefern abgelaufene, aber noch essbare Produkte. „Alles, was sonst in | |
den Müll wandern würde“, sagt Skidmore. Es ist der Überschuss der | |
Überflussgesellschaft. „Das meiste muss ohne Kühlung haltbar sein. Viele | |
Familien können sich keinen Kühlschrank leisten, oder Elektrizität“, sagt | |
sie. „Denn sie brauchen im Winter viel Strom, um sich warm zu halten. Im | |
Sommer haben sie dann kein Geld mehr, um die Rechnung zu bezahlen.“ | |
Skidmore führt über alle Kunden genau Buch, kennt ihre Lebensumstände, ihre | |
Probleme. Viele seien einsam. Deshalb habe sie auch Hunde- und Katzenfutter | |
im Gestell. „Vor allem ältere, alleinstehende Leute essen nicht mehr, wenn | |
sie dafür noch ihre Tiere füttern können. Ihr Haustier ist oft der einzige | |
Kontakt, den sie im Leben noch haben.“ | |
Vor allem ältere Menschen profitierten von einem anderen Dienst, den | |
Skidmore bietet: aus überschüssigen Lebensmitteln kocht sie Fertigmenüs – | |
Reis mit Currywurst etwa, Gulasch, Nudeln und Gemüse. Das Essen wird | |
anschließend tiefgefroren. Drei Portionen verkauft sie für umgerechnet | |
einen Euro an Bedürftige. „Es gibt Leute, die sonst nie eine komplette | |
Mahlzeit hätten“, glaubt Skidmore. | |
## Der Boom nützt den Armen nicht | |
Hunger, Armut, soziales Elend: Karitative Organisationen wie Foodbank und | |
die Heilsarmee haben in den letzten Jahren in Australien einen | |
kometenhaften Anstieg der Nachfrage nach ihren Diensten verzeichnet. Und | |
das in einem Land, das seit über einem Vierteljahrhundert wirtschaftliches | |
Wachstum genießt. Viele Australier haben von der weltweiten Nachfrage nach | |
Rohstoffen profitiert. Hohe Einwanderungszahlen führten zudem zu einem | |
Immobilienboom. Doch mit dem Wohlstand für einige haben sich die | |
Lebenskosten für alle dramatisch erhöht. Sozialverbände geben primär einer | |
Kombination von extrem hohen Mietkosten und immer unsicherer werdenden | |
Arbeitsbedingungen die Schuld. Immer weniger Leute hätten Festanstellungen | |
– Teilzeit würde zur Norm, sagt auch Melina Skidmore. Man wisse nie, ob am | |
Ende des Monats noch Geld da ist, um über die Runden zu kommen. | |
Noch schlimmer ist die Lage für jene, die gar keinen Job haben. Arbeitslose | |
erhalten pro Woche umgerechnet etwa 170 Euro Sozialhilfe. Der | |
durchschnittliche Mietpreis in Sydney liegt bei über 250 Euro für den | |
selben Zeitraum. So überrascht es nicht, dass die Zahl der Obdachlosen | |
rapide anwächst. Den aktuellsten Zahlen des Amtes für Statistik zufolge | |
hatten 2016 landesweit 116.000 Australier kein Dach über dem Kopf – fünf | |
Prozent mehr als fünf Jahre vorher und etwa 0,5 Prozent der | |
Gesamtbevölkerung. Der Chef der Abteilung Bevölkerungsstatistik, Paul Jelfs | |
sagt: „Ein Viertel aller Obdachlosen ist zwischen 20 und 30 Jahre alt“. Wer | |
zwischen 65 und 74 Jahre alt ist, laufe ebenfalls häufiger Gefahr, auf der | |
Straße schlafen zu müssen. | |
Sozialorganisationen stellen vor allem bei alleinstehenden Frauen einen | |
Trend zur Obdachlosigkeit fest. Selbst wenn sie Jahrzehnte lang gearbeitet | |
haben, reicht ihnen eine magere Rente, Erspartes und vielleicht Geld aus | |
der Pensionskasse nicht, um sich einen einigermaßen angenehmen Lebensabend | |
zu finanzieren. | |
Alleinstehende, ältere Frauen gehören zu den häufigsten Nutzern der | |
Foodbank. Und Studierende wie Kiara, die sich davor scheut, ihren Nachnamen | |
zu nennen. Da in Australien Universitäten gewinnorientiert sind, können | |
Studiengänge bis zum Abschluss mehrere hunderttausend Euro kosten. Auch | |
Kiara muss sich das Geld fürs Studium und ihre Unterkunft in harter | |
Nachtarbeit verdienen. Tagsüber sitzt sie im Hörsaal. Trotzdem reiche es | |
nicht zum Leben. Seit elf Monaten holt sie sich ihre Lebensmittel in der | |
Foodbank. Karitative Organisationen stellen fest, dass auch immer häufiger | |
Familien bedürftig werden, in denen beide Elternteile arbeiten. Denn auch | |
ein doppelter Verdienst reiche oft nicht aus, wenn die Jobs nur Teilzeit | |
seien. „Das System ist kaputt“, davon sei sie überzeugt, sagt Melina | |
Skidmore. | |
## Experte warnt vor einer Dramtisierung | |
Und doch sei die Situation nicht so extrem. Das jedenfalls glaubt Ben | |
Philipps, Professor an der australischen Nationaluniversität. „Ich richte | |
mich nach den offiziellen Statistiken“ erklärt er. Die Zahlen zeigten zwar, | |
dass es in Australien stellenweise „Einkommensstress gibt“ und | |
„wirtschaftliche Benachteiligung“, so der Sozialforscher und Ökonom. Auch | |
der Graben zwischen Arm und Reich sei in den letzten 20 bis 30 Jahren | |
tiefer geworden. Generell aber stehe Australien im Vergleich gut da. | |
Nur die Lebensumstände vieler Ureinwohner, der Aborigines, vergleicht er | |
mit einer Dritte-Welt-Situation. „Viele leiden unter wirklich extremer | |
Armut. Vor allem in isolierten Regionen des Landes.“ Es sei eine Armut, | |
„viel schlimmer, als man sie vielleicht in einer Foodbank sehen kann“. | |
Dass es anderen Menschen noch schlechter geht, ist Susan Thompson und ihrem | |
Sohn Brendan ein schwacher Trost. Ihr Kampf ums Überleben ist hart und | |
zermürbend. Längst ist der tägliche Besuch der Foodbank mehr als nur ein | |
Einkauf zum Billigpreis. Hier treffe man Menschen, die dabei helfen, sich | |
selbst wiederzufinden und Stolz und Selbstachtung zurückzugewinnen. Vor | |
allem könne man herkommen „und auch mal lachen“. Das bringe Licht in den | |
Alltag – „trotz allem, was draußen im Leben geschieht“. | |
22 Sep 2018 | |
## AUTOREN | |
Urs Wälterlin | |
## TAGS | |
Australien | |
Schwerpunkt Armut | |
Tafel | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Australien | |
Schwerpunkt Klimawandel | |
Great Barrier Reef | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Australien arbeitet Kindesmissbrauch auf: „Für immer eine Schande für uns“ | |
Australiens Regierung entschuldigt sich bei den Opfern von sexuellem | |
Kindesmissbrauch. Doch vielen reicht auch die geplante Entschädigung nicht. | |
Klimaziele von Australien: Konservative wollen weiterheizen | |
Premier Turnbull will den Ausstoß von Treibhausgasen nicht mehr eindämmen. | |
Es gebe zuwenig Abgeordnete, die den Kampf gegen den Klimawandel stützen, | |
sagt er. | |
Australien will Korallenriff retten: Millionen für das Great Barrier Reef | |
Die australische Regierung will eine dreistellige Millionensumme einsetzen, | |
um beschädigte Korallenriffe zu reparieren und die Wasserqualität zu | |
verbessern. |