# taz.de -- Deutschtürke in türkischer Haft: Zwischen Hoffnung und Ungewisshe… | |
> Die Ausreisesperre gegen die Journalistin Meşale Tolu wurde aufgehoben. | |
> Der Kölner Adil Demirci sitzt immer noch im Hochsicherheitsgefängnis von | |
> Silivri. | |
Bild: Meşale Tolu darf endlich nach Deutschland ausreisen. Ist das ein gutes Z… | |
Sein Sohn sitzt wegen Terrorvorwürfen in der Türkei im Gefängnis, aber der | |
Mann in beiger Stoffhose, weißem Poloshirt, Schirmmütze und grauweißem | |
Schnauzer lächelt zuversichtlich. Sein Sohn heißt Adil Demirci, Adil | |
bedeutet „der Gerechte“. Eyyüp Karatekin spricht unaufgeregt und leise mit | |
einem Türkisch, das Kurdisch gefärbt ist: „Der kommt bald raus. Das ist | |
sicher.“ Gegen seinen Sohn hätten sie doch nichts in der Hand. | |
Am frühen Morgen des 13. April stürmte die Polizei die Wohnung im | |
Istanbuler Stadtteil Kartal, in der sich der 33-jährige Adil Demirci | |
aufhielt und nahm ihn mit. Demirci, der die deutsche und türkische | |
Staatsbürgerschaft besitzt, war für ein paar Tage mit seiner krebskranken | |
Mutter in die Türkei gekommen. Demirci arbeitet eigentlich als | |
Sozialarbeiter beim Jugendmigrationsdienst in Remscheid mit traumatisierten | |
Jugendlichen aus Kriegsgebieten. Daneben ist er seit knapp fünf Jahren als | |
Korrespondent und Übersetzer für die sozialistische Nachrichtenagentur Etha | |
tätig, für die auch eine andere deutsche Journalistin arbeitete, die vor | |
kurzem noch in Haft war: Meşale Tolu. Als der Polizeizugriff auf Demirci | |
stattfand, wurden zwei weitere Journalistinnen von Etha festgenommen. | |
Die türkische Staatsanwaltschaft wirft Adil Demirci vor, Mitglied in einer | |
terroristischen Vereinigung zu sein, der marxistisch-leninistischen MLKP, | |
die in der Türkei verboten ist. Vorgeworfen wird ihm das, weil er in den | |
Jahren 2013, 2014 und 2015 an Beerdigungen von Personen teilnahm, die gegen | |
den sogenannten Islamischen Staat gekämpft haben. Auch gegen Meşale Tolu | |
bestehen Terrorvorwürfe, weil sie an diesen Beerdigungen teilgenommen hat. | |
Eine davon war die Gedenkveranstaltung für die Deutsche Ivana Hoffmann, die | |
in den Reihen der YPG gegen den IS kämpfte. | |
Adil Demirci ist Kölner. Er war auch anderweitig politisch engagiert, etwa | |
bei der Föderation der Arbeitsimmigranten aus der Türkei in Deutschland | |
e.V. (AGIF). Eine Genossin, die ihn aus der politischen Arbeit kennt, sagt: | |
„Er war ernsthaft in seinem politischen Engagement, aber auch offen | |
gegenüber neuen Menschen.“ Für Etha schrieb Demirci Artikel über „Black | |
Lives Matter“, die Nachwirkungen des Arabischen Frühlings oder Proteste | |
gegen die französische Arbeitsmarktreform, er übersetzte Artikel über die | |
Auseinandersetzungen in Katalonien oder rassistische Polizeigewalt im | |
US-amerikanischen Ferguson. | |
## Adil Demirci ist nicht Deniz Yücel | |
Für die 18. wöchentliche Mahnwache auf dem Kölner Wallrafplatz baut | |
Demircis Vater am Mittwochabend mit drei anderen älteren Herren einen | |
Pavillon auf. Während der Redebeiträge stellen sich Mitglieder des | |
Unterstützerkreises mit „Freiheit für Adil Demirci“-Schildern davor. Ein | |
paar andere sammeln Unterschriften. Immer wieder löst sich jemand vom | |
Passantenstrom und bleibt stehen, hört zu. | |
Aber Adil Demirci ist nicht Deniz Yücel. Nur knapp über dreißig Menschen | |
nehmen an der Mahnwache für ihn teil. Zwar setzt sich der bekannte | |
Investigativjournalist Günter Wallraff für Demirci ein. Aber kein | |
Bundesaußenminister nimmt seinen Namen in den Mund, keine Bundeskanzlerin. | |
Hinter ihm steht kein großes Verlagshaus. Es finden keine Auto-Korsi in | |
unzähligen Städten Deutschlands für ihn statt, an denen auch ein Jan | |
Böhmermann teilnimmt. Aber Adil Demirci und Deniz Yücel haben auch etwas | |
gemein: Beide wurden mit absurden Vorwürfen eingesperrt. Deniz Yücel kam | |
nach knapp einem Jahr Untersuchungshaft im Hochsicherheitsgefängnis von | |
Silivri frei. Adil Demirci sitzt noch immer dort. | |
Wie lange noch, das weiß niemand so genau. Seit dieser Woche ist die | |
Hoffnung auf eine baldige Freilassung aber größer. Denn diese Woche wurde | |
bekannt, dass die Ausreisesperre gegen die deutsche Journalistin Meşale | |
Tolu aufgehoben wurde. Die Ulmerin, die im Mai 2017 wegen „Mitgliedschaft | |
und Propaganda in einer terroristischen Vereinigung“ verhaftet worden war, | |
saß acht Monate in Haft. Nachdem sie freigelassen wurde, durfte sie aber | |
zunächst das Land nicht verlassen. Jetzt darf sie mit ihrem Sohn ausreisen, | |
ihr Mann, gegen den auch ein Verfahren läuft, muss da bleiben. | |
Tolu und Demirci kennen sich schon lange. Beide arbeiteten für die | |
Nachrichtenagentur Etha, ihre Familien sind befreundet. Als Tolu in Haft | |
kam, organisierte Adil Demirci einen Unterstützerkreis und Mahnwachen für | |
sie. Efsun Kızılay, eine gute Freundin von Demirci hat einen Text über ihn | |
geschrieben. Der Titel: „Warten auf Freiheit“. Sie schreibt: „Stets war | |
Adil da, wenn es darum ging, sich zu solidarisieren oder wenn Hilfe | |
benötigt wurde.“ | |
Nun, da Adil Demirci selbst in Haft sitzt, organisiert sein jüngerer Bruder | |
Tamer Mahnwachen für ihn. Der 25-Jährige hält den Kontakt zu Medien und | |
Politikern, er bemüht sich, dass der Fall seines Bruders Aufmerksamkeit | |
bekommt. Hinzu kommt, dass Tamer sich jetzt auch ohne seinen Bruder Adil um | |
seine krebskranke Mutter kümmern muss. Deshalb, und auch aus finanzieller | |
Not, die mit der Abwesenheit seines Bruders zu tun hat, hat er sein | |
Masterstudium in Informatik vorerst abgebrochen. Derzeit arbeitet er bei | |
einem IT-Dienstleister. | |
## Diplomatische Dinge | |
Dass Meşale Tolu ausreisen darf, freut die Menschen hier. Demircis Vater | |
sagt: „Ich habe mich sehr gefreut, als ich das gehört habe. Ich kenne sie | |
seit ihrer Kindheit“. Aber er sagt auch, dass es kein Zufall sei, dass dies | |
gerade jetzt passiere: Die Türkei wolle nicht dieselben Probleme mit | |
Deutschland erleben, die sie derzeit mit den USA erlebt. Vater Karatekin | |
lächelt wieder und sagt: „Diplomatische Dinge.“ | |
Tamer Demirci findet auch, dass der Zeitpunkt für die Aufhebung der | |
Ausreisesperre für Tolu kein Zufall ist. Schließlich befinde sich die | |
Türkei gerade in einer ernsthaften Krise. Als er davon gehört habe, habe er | |
gleich an seinen Bruder denken müssen. Kommt Adil jetzt auch frei? Ist das | |
der nächste Schritt bei dem türkischen Versuch, sich wieder an Deutschland | |
anzunähern? Ein weiteres Zuckerl, jetzt, wo Ende September ein | |
Erdoğan-Besuch bei Merkel ansteht? „Das kann sein“, sagt Tamer Demirci. | |
„Andererseits sind die doch einfach unberechenbar.“ | |
Kızılay dagegen sagt, dass der Fall Tolu zeige, wie entscheidend in | |
politischen Verfahren der öffentliche Druck sei. Tolu und Demirci würden | |
zwar die gleichen Vorwürfe gemacht: „Tolu darf jetzt glücklicherweise | |
ausreisen, weil ihr Fall große Aufmerksamkeit hatte. Adil ist noch drin, | |
weil sein Fall das bisher nicht hat.“ Vielleicht kommt Adil Demirci auch | |
noch nicht frei. Vielleicht braucht die türkische Regierung ihn und sechs | |
weitere politische Gefangene mit deutschem Pass noch als Druckmittel. | |
Neben all den Fragezeichen gibt es auch ein paar Gewissheiten: Adil Demirci | |
geht es gut. Und die Anklageschrift ist endlich da, seit vergangener Woche, | |
somit der Termin für den Prozessbeginn auch klar: 20. November. Das gab der | |
Solidaritätskreis „Freiheit für Adil“ am Freitag in einer Presseerklärung | |
bekannt. Darin steht: “Obwohl die Anklageschrift fertig formuliert ist, | |
wurde der Prozesstermin erst für den 20.11.2018 angesetzt. Das bedeutet, | |
dass Adil Demirci noch drei weitere Monate im Hochsicherheitsgefängnis auf | |
seine Freiheit warten muss!“ | |
Tamer hat erst letzte Woche mit seinem Bruder telefoniert. Er habe sich | |
munter angehört. Am Telefon wolle Adil Demirci lieber erfahren, wie es | |
seinen Nächsten geht, als von sich selbst zu erzählen. Er lese viel, bis zu | |
fünf Bücher in der Woche, er mache viel Sport, er schreibe. Er schaffe es, | |
den Mut nicht zu verlieren, weil er es wisse, sich sinnvoll zu | |
beschäftigen, sagt Tamer Demirci. Auch wenn alle Tätigkeiten bis auf die | |
Minute getaktet sind. Und die Freiheit damit eingeschränkt ist. | |
## Er liest und lacht viel | |
Ein Mitarbeiter des deutschen Konsulats, der Adil Demirci zuletzt besucht | |
hat, erzählte Bruder Tamer am Telefon, dass sie während des Besuchs so viel | |
gelacht hätten, dass er danach ein schlechtes Gewissen gehabt habe. Gerade | |
ist Adil Demirci dabei, eine Fußballmannschaft zu organisieren. Eigentlich | |
hatten sie schon elf Personen zusammen und auch den Antrag auf den | |
Mannschaftskick bewilligt bekommen. Doch dann wurden Teammitglieder | |
freigelassen. Vielleicht schafft Adil Demirci auch gar kein erstes Spiel. | |
Und vielleicht erreicht den VFL Bochum-Fan auch das Kicker-Sonderheft nicht | |
mehr, das ihm sein Bruder Tamer per Einschreiben geschickt hat – weil Post | |
aus Deutschland ihn entweder gar nicht oder erst nach vier bis sechs Wochen | |
erreicht. | |
Vielleicht tut sich auch vorher schon etwas. Denn für den 28. September hat | |
sich der türkische Staatspräsident Erdoğan, der nach der Wahl am 24. Juni | |
seine faktisch unbeschränkte Macht institutionalisieren konnte, zum | |
deutschen Staatsbesuch angekündigt. Sie seien in Kontakt mit dem Konsulat | |
und deutschen Politikern, die im Auswärtigen Amt beschäftigt sind, erzählt | |
Tamer. | |
Macht Deutschland genug für den türkischen und deutschen Staatsbürger | |
Demirci? Demircis Vater sagt: „Ich erwarte von niemandem etwas.“ Tamer | |
Demirci erwartet dagegen schon etwas: Die deutschen Behörden könnten dafür | |
sorgen, dass sein Bruder die Post aus Deutschland tatsächlich und auch früh | |
genug erhält, sagt er. Sie könnte das erreichen, indem sie Druck auf die | |
Türkei ausübe. Und mit Blick auf den anstehenden Besuch von Erdoğan sagt | |
er: „Klare Worte finden und nicht immer so indirekt.“ | |
Dass Meşale Tolu freigelassen wurde und jetzt ausreisen darf, gibt denen | |
Hoffnung, die Adil vermissen. Auch wenn der Prozess gegen sie noch nicht | |
beendet ist. Andererseits harren sie aus zwischen dieser Hoffnung und einer | |
quälenden Ungewissheit. Adils Vater, der sich vor der Mahnwache so | |
zuversichtlich gibt, steht während der Mahnwache in der Reihe der Leute, | |
die Bilder seines Sohnes halten, ganz außen. Er schaut jetzt trauriger und | |
presst die Lippen zusammen. Nach der Mahnwache, als der Unterstützerkreis | |
über ein nächstes Treffen spricht, sitzt er erschöpft auf einer Bank auf | |
dem Wallrafplatz und blickt ins Leere. | |
24 Aug 2018 | |
## AUTOREN | |
Volkan Ağar | |
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