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# taz.de -- Debatte Das Leben der anderen: Das Leben als Postwurfsendung
> Niemand stellt mehr Fragen nach dem Leben der Anderen. Warum? Aus Angst
> vor dem Eingeständnis, dass man selbst gescheitert ist.
Bild: Zeiten, in denen man noch Fragen nach dem Leben des anderen stellte
Es waren Abende, nach denen meine Frau und ich wortlos Hand in Hand nach
Hause gingen: als müssten wir uns einer Übereinstimmung versichern, ohne
noch sagen zu können, was uns eigentlich am gerade Erlebten so irritiert
hatte; Abende in Groß-und Kleinstädten, in Kneipen und in Biergärten, nach
Besuchen in unseren Familien – die man sich bekanntlich nicht aussucht –
wie bei Treffen mit Freunden und Bekannten.
Nach dem fünften oder sechsten Mal, wenn wir noch ein Glas tranken oder im
Bad waren, wenn wir von unseren Büchern aufschauten, die wir im Bett lasen,
war es dann schon fast ein Witz geworden, die Frage: „Hat dir heute Abend
eigentlich irgendwer eine einzige Frage gestellt?“ Die Antwort war immer
„Nein“ – , beziehungsweise diese so schreckliche wie nicht loszuwerdende
Formulierung „Nicht wirklich“.
Denn was sollte ich etwa von der Frage eines Freundes meines Bruders
halten, den ich dreißig Jahre nicht gesehen hatte und der fragend
feststellte, dass ich schon noch in unserer gemeinsamen Heimatstadt leben
würde, was ich leider nicht mit Ja beantworten konnte und was dann weitere
Fragen seinerseits überflüssig machte und er sich so zügig wie möglich ans
andere Ende des Tisches begab, um dort mit Gleichgesinnten das zu
besprechen, was sie seit dreißig Jahren besprachen.
## Wir leben von Antworten
Im Gegensatz zur großen Unlust zu fragen, ist die Unlust zuzuhören als
Phänomen schon oft thematisiert worden. Vor zehn Jahren etwa hieß es in
einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung, „die Theoretiker“ seien sich
einig, dass das Zuhören ins Abseits gerate „in einer Gesellschaft, die
immer selbstbezogener, schneller, effizienter ist, in der alle unter Druck
arbeiten, lesen, essen, sprechen“.
Der Text verweist historisch solide auch auf das grundsätzliche Problem,
sich über die jeweils aktuellen Sitten auszulassen: dass es nämlich immer
schon jemand gegeben hat, der die Jugend oder das Alter, die Moderne oder
die Reaktion, das Telegraphenkabel oder das Smartphone für unangenehme
zeitgenössische Veränderungen verantwortlich gemacht hat. Halten wir es
also erst mal persönlich.
Meine Frau und ich, wir sind Journalisten. Wir lieben es zu fragen, es ist
unser Beruf. Wir stellen Fragen, weil wir von den Antworten leben,
insbesondere von denen, die uns die Befragten eigentlich gar nicht haben
geben wollen. Es war für mich durchaus eine Entdeckung, dass diese
Herangehensweise auch im Privaten sehr viel mehr Befriedigung und Vergnügen
beschert als das Abspulen von Inhalten, deren man sich ja eh schon bewusst
ist – wer hätte die drei besten Anekdoten seines Lebens nicht schon
mindestens zehnmal erzählt?
Völlig unvorbereitet kam diese Erkenntnis nicht: Ich bin in einer
dialogischen Gesprächskultur des Frotzelns, des „Schmäh führens“
aufgewachsen, die vielleicht südlich ist. Bayern, Österreicher, Italiener
führen jedenfalls stundenlange Gesprächswettbewerbe, wo es fast
ausschließlich darauf ankommt, die schnelle, witzige, auch bösartige
Erwiderung zu finden, die Pointe – ein sogenanntes Fremdwort.
## Stunden des Schwatzens
Ich mag das immer noch sehr gerne, ich mag auch die großen Redenschwinger –
solange sie klug sind und lustig und zart –, die trunkenen Stunden des
Lachens und Schwatzens, wie sie der Dichter Konstantinos Kavavis einst am
Mittelmeer gegen die wortkargen Barbaren verteidigte: „Schatten und Nacht
ist das Schweigen; Tag das Wort.“
Aber ich habe auch erfahren, jene treudeutsch-protestantische Innigkeit
wertzuschätzen, die sich alles sagt – soweit sie denn von Sympathie, von
Freundschaft und gemeinsamen Erfahrungen gedeckt ist.
Doch darum geht es hier nicht. Es geht um heute. Es geht um die Unlust am
Anderen, schlimmer, um die Unlust am Selbst. Denn zu der Beobachtung des
Nichts-gefragt-Werdens gehört die Beobachtung des
Nichts-von-sich-erzählen-Könnens.
So oft geschieht es mir, dass ich von Menschen etwas über ihre konkrete
Tätigkeit, sei es als Lehrer oder Installateur oder Hobbygärtner, wissen
will; eine Tätigkeit, der sie doch einen Großteil ihrer Lebenszeit widmen.
Ich erwarte, finde ich, nicht viel, ich bin je nach Gegenüber gespannt auf
einen nüchternen Bericht mit Zahlen und Fakten oder auf eine emotionale
Schilderung.
Ich will wissen, was ich nicht weiß, und ich weiß es nicht, weil ich nicht
die Erfahrungen mache, die die von mir Gefragten machen. Doch stattdessen
erzählen mir die Lehrer von dem 600-Seiten-Künstlerroman, den sie
„eigentlich“ schreiben, die Institution Schule haben sie längst abgehakt;
und die Installateure ergehen sich, statt über ihr Handwerk und über die
Bedingungen, unter denen sie es ausüben, zu sprechen, in nicht minder
ermüdenden politisierenden Weltbetrachtungen (oder umgekehrt).
Nicht mal bei ihrem Garten kommen die Leute noch ins Schwärmen, sie sagen
nicht, was sie anbauen oder was sie mit der neuen Heckenschere so alles
vorhaben, sondern sie explodieren wie geschüttelte Sektflaschen über das
Schnäppchen, das ihnen gelungen ist, wenn sie nicht gleich die
Flüchtlingsfrage im Gemüsebeet entdecken.
## Hervorgewürgtes Halbwissen
Wer keine Worte für das eigene Tun übrig hat, sagt aber damit trotzdem
etwas: nämlich dass das eigene Leben gar kein Leben ist. Die Leute leben
auf einem Friedhof von gescheiterten Ambitionen, von hervorgewürgtem
Halbwissen und Postwurfsendungen. Und nachdem sie sich ausgekotzt haben,
schweigen sie natürlich erschöpft vor sich hin und wollen von nichts mehr
etwas wissen.
Dieses wortreiche Verstummen riecht dann entsprechend schlecht. Es riecht
nach Angst, nach Misstrauen, nach Arroganz, nach Verachtung und nach Hass:
die Angst, etwas Dummes zu sagen; das Misstrauen, dass der andere das, was
gesagt wird, nur benutzt, um einen fertigzumachen; die Arroganz, dass das,
was man sagt, gar keiner Gegenstimme bedarf (aber auch keine aushält); die
Verachtung, dass, was der andere erzählt, ja nur die selbe Scheiße sein
kann, die ich selber erzähle; und der Hass, dass der andere etwas sagen
könnte, das bedrohlich ist, irrelevant, unbegreiflich, krank.
Das große Schweigen wie das große Schwadronieren sind die Ausdrucksformen
einer Gesellschaft, die nichts miteinander zu besprechen hat und nichts
voneinander wissen oder miteinander zu tun haben will: die gar keine
Gesellschaft ist. Meine Frau und ich, wir sagen inzwischen Familienfeiern
ab und gehen von Partys stumm betrunken Hand in Hand nach Hause.
Die Fragen stellen nur noch die Bücher, die Medien, die Serien – und die
Kinder; doch so wiss- und gesprächsbegierig die auch noch sein mögen und so
viel Mühe wir uns auch geben: Die guten und vor allem die optimistischen
Antworten, die gehen uns langsam aus.
9 Sep 2018
## AUTOREN
Ambros Waibel
## TAGS
Journalist
Kommunikation
Linke Sammlungsbewegung
Aufstehen
Schwerpunkt Rassismus
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