# taz.de -- Ein Jahr Massenflucht der Rohingya: Detektive in humanitärer Missi… | |
> Sitzt die Mutter im Gefängnis oder ist sie tot? Viele Familien sind seit | |
> der Flucht aus Myanmar zerrissen. Detektive suchen nach Menschen. | |
Bild: Kinder im Camp: Das Armband des Jungen dient dazu, damit er im Chaos nich… | |
COX'S BAZAR taz | Es ist das dritte Opferfest, das Rehan und seine | |
Geschwister ohne ihre Eltern verbringen müssen. „Wir hätten sie so gerne | |
bei uns“, sagt der 14-Jährige Junge. Er sitzt in einer stickigen Hütte in | |
einem Flüchtlingslager in Bangladesch und blinzelt verschämt. Vater und | |
Mutter befinden sich seit einem Jahr in einem Gefängnis in Myanmar. Die | |
Regierung dort behauptet, sie seien Terroristen. Rehan heißt nicht wirklich | |
so, doch wie bei allen Flüchtlingen in diesem Text ist sein Name aus | |
Sicherheitsgründen verändert. | |
Ein Jahr ist es her, dass fast eine Million muslimische Rohingya vor dem | |
burmesischen Militär nach Bangladesch flohen. Grenzpolizisten, die | |
Gewehrsalven aus dem benachbarten Myanmar hörten, gaben es schnell auf, die | |
Menschen abzuwehren. Wer an der Grenze stand, konnte dunkle Rauchsäulen in | |
den Himmel steigen sehen. Satellitenbilder zeigen, dass Hunderte Dörfer | |
niedergebrannt wurden. | |
Unzählige Familien sind seitdem auseinandergerissen. Wie viele der in | |
Myanmar verbliebenen Menschen ins Gefängnis gesteckt wurden, ist ein | |
Geheimnis der Regierung. | |
Acht Monate hat es gedauert, bis Rehan und seine Geschwister nach der | |
Flucht das erste Mal wieder von ihren Eltern hörten. Mitarbeiter vom Roten | |
Kreuz machten sie in einem Gefängnis in Buthidaung im Westen von Myanmar | |
ausfindig. Fast genauso lange mussten ihre Eltern warten, bis sie erfahren | |
durften, dass ihre Kinder überhaupt noch am Leben sind. „Endlich weiß ich, | |
wo ihr seid. Ich bin so froh, euren Brief erhalten zu haben“, schreibt die | |
Mutter ihren Kindern. | |
## Informationen, wichtig wie Nahrung und Wasser | |
„Wir vergessen gerne, dass Menschen in Krisensituationen nicht nur Wasser | |
und Nahrung, sondern auch Informationen brauchen“, sagt Odoardo Girardi vom | |
Internationalen Komitee des Roten Kreuzes (IKRK). Der Italiener leitet nahe | |
des größten Flüchtlingslagers der Welt in der bangladeschischen Stadt Cox’s | |
Bazar das Programm zur Wiederherstellung von Familienbanden. | |
Das Rote Kreuz hilft weltweit Familien, die sich in den Wirren von Kriegen | |
und Katastrophen aus den Augen verloren haben. Mitarbeiter fahnden nach | |
vermissten Familienangehörigen und überbringen Briefe. In akuten | |
Krisensituationen kann es oft schon ausreichen, Flüchtlingen ein Telefon | |
oder Elektrizität zum Aufladen ihrer Telefone zur Verfügung zu stellen. | |
Doch nicht immer ist es so einfach. | |
Der Rohingya Kamal Hossain kaufte zum Höhepunkt der Flüchtlingskrise, als | |
das Chaos das Leben an der Grenze bestimmte, einen Lautsprecher. Mit dessen | |
Hilfe habe er im Lauf mehrerer Wochen 1.400 Vermisste durchgesagt, erzählt | |
er. Die Hälfte von ihnen hätten mit diesem einfachen Hilfsmittel ihre | |
Liebsten wieder gefunden. „Meine Arbeit ist getan“, sagt Kamal heute. In | |
den übrigen Fällen könne er als einfacher Flüchtling nichts tun. | |
Dafür gibt es das Rote Kreuz. Durch behutsames Taktieren mit Regierungen | |
auf der ganzen Welt sichert sich die Organisation auch dann noch Zugang, | |
wenn andere auf Mauern des Schweigens stoßen. Und dazu zählen auch die | |
Gefängnisse in Myanmar. Dort haben Girardis Kollegen die Familie von Rehan | |
ausfindig gemacht. „Passt auf euch auf und macht euch keine Sorgen um uns. | |
Wir beten für euch“, schrieb der Vater seinen Kindern. | |
## Der 14-Jährige Rehan vermisst seine Schwester | |
Die Rohingya werden in Myanmar nicht erst verfolgt, seit vor einem Jahr | |
Aufständische mehrere Polizeiposten attackierten. Für einen Großteil der | |
burmesischen Mehrheit gehören sie nicht ins eigene Land, sondern nach | |
Bangladesch. Die muslimische Minderheit spricht eine andere Sprache als sie | |
und hat einen anderen Glauben. Das Militär hat die Rohingya über Jahrzehnte | |
hinweg so stark isoliert, dass kaum noch ein Buddhist Kontakt mit ihnen | |
hat. | |
Von alledem versteht der 14-jährige Rehan noch nicht viel. Er vermisst | |
Yasminara, seine fünfjährige Schwester. Die anderen Geschwister sagen, sie | |
sehe fast genauso aus wie er. Yasminara habe sich nicht von den Eltern | |
trennen wollen, als diese ins Gefängnis abgeführt wurden, berichten sie. | |
Nun lebt Yasminara mit ihnen hinter Gittern in Myanmar. | |
Wenn Rehan und seine Geschwister die Eltern besonders vermissen, dann | |
wickeln sie vorsichtig die Fotos aus der Plastikfolie, die das Rote Kreuz | |
ihnen mit dem Brief übergeben hat. Es ist Monsun, der Regen strömt | |
regelmäßig herab und die Bilder haben ein paar bleiche Wasserflecken | |
abbekommen. Das stört Rehan nicht besonders. Aber er findet, dass die | |
Eltern schmaler aussehen als früher. Ihre Gesichter kann er auf den Fotos | |
nicht erkennen. Wahrscheinlich sei es ein Fehler des Fotografen gewesen, | |
dass er sie nur von hinten fotografiert hat, meint er. | |
„Wir müssen die Anonymität der Gefangenen bewahren“, erklärt hingegen | |
Girardi vom Internationalen Roten Kreuz. Die Regierung Myanmars nimmt es | |
damit nicht so streng. Im Januar hat die staatliche Zeitung Global New | |
Light of Myanmar über sechs Tage hinweg eine Liste – teilweise mit Fotos – | |
von 1.400 Rohingya veröffentlicht, die die Regierung bezichtigt, Mitglieder | |
einer Terrororganisation zu sein. Darunter waren auch Kinder. Rehan hat | |
Glück gehabt, dass er nicht selbst ins Gefängnis gesteckt worden ist. | |
## Die Suche von Familiendetektiv Rabbi | |
Wenn die Eltern eines Tages freikommen, dann will Rehan eine Ziege | |
schlachten. Seine kleine Schwester kippt immer wieder dösend gegen die | |
Bambuswand der Hütte, in der sie zu elft leben. „Hier ist genug Platz für | |
uns alle“, sagt Rehan optimistisch. Zurück nach Myanmar zu gehen ist für | |
ihn keine Option. „Wieso sollten wir zurückgehen? Unser schönes Haus gibt | |
es nicht mehr und man will uns töten“, sagt er. | |
Einen Tag später, auf einem der endlosen Hügel in dem, was | |
Entwicklungshelfer inzwischen Megacamp nennen: „Ihr Leute aus Myanmar, wenn | |
ihr Abdul Kudus kennt, dann kommt zur Moschee“, krakeelt es aus einem | |
Lautsprecher. Ein Mitarbeiter des Roten Kreuzes steht in einer etwas | |
größeren Bambushütte, die als Gebetshaus fungiert. Draußen plaudert sein | |
Kollege Rabbi mit Rohingya-Flüchtlingen. Er ist Familiendetektiv. | |
Heute soll der 25-jährige Bangladescher, der für das Rote Kreuz das | |
Programm zur Wiederherstellung der Familienbande im Camp koordiniert, einen | |
Brief an einen Abdul Kudus weitergeben. Der „Hilfsempfänger“, so nennen sie | |
beim Roten Kreuz die Leute, wohnt nicht mehr unter der Adresse, wo man ihn | |
vermutet hatte. Sein Mobiltelefon hat wie so oft im Lager keinen Empfang. | |
Die Mission des Familiendetektivs beginnt. | |
Sie wird ihn über zahllose Hügel im Camp führen. In den engen Durchgängen | |
des Flüchtlingslagers steht die Luft. Nach Regenfällen verwandeln sie sich | |
in Rinnen mit zähem Matsch. Ein Tag im Lager bedeutet für Rabbi jedes Mal | |
aufs Neue eine körperliche Anstrengung. Auf den Fahrten zurück ins | |
Hauptquartier schläft er meistens ein. | |
## Von der Angst, zu viel zu verraten | |
Unter den Imamen und den Camp-Vorstehern kennt man den freundlichen | |
Bangladescher mit dem Wuschelkopf und der runden Metallbrille inzwischen. | |
„Nenn mich besser nicht einen Detektiv“, scherzt er. „Nicht dass wir die | |
Rohingya noch verschrecken.“ Bangladesch ist ein Land, in dem die Polizei | |
nicht zwangsläufig als Freund und Helfer gilt. Und aus Myanmar bringen die | |
Rohingya oft traumatische Erfahrungen mit. Häufig sei es deshalb schwierig, | |
die Flüchtlinge dazu zu bewegen, alle Informationen weiterzugeben, die sie | |
über ihre Verwandten besitzen. „Zu viel Angst“, sagt Rabbi und zieht | |
traurig die Augenbrauen nach oben. | |
Für den Familiendetektiv in der roten Weste ist das ein Problem. Es ist | |
schon schwierig genug, dass es unzählige Noor und Dil Mohammeds unter den | |
Rohingya gibt und jedes Dorf einen burmesischen und einen Rohingya-Namen | |
trägt. Die bangladeschischen Behörden und die Hilfsorganisationen sind noch | |
immer damit beschäftigt, das Camp zu strukturieren. Als die Regenzeit | |
anbrach, wurden Zehntausende Flüchtlinge in sicherere Teile des hügeligen | |
Lagers umgesiedelt. | |
An jeder Ecke im Flüchtlingslager hat Familiendetektiv Rabbi eine andere | |
Geschichte zu erzählen. An der einen Weggabelung trifft er den Vater, der | |
ihm vor Kurzem um den Hals fiel, als er ihm eine Nachricht von seinem tot | |
geglaubten Sohn überbrachte. An der Moschee wird er sich immer an die | |
Schreie der Frau erinnern, die in einem Brief vom Tod ihres Vaters erfuhr. | |
Das Rote Kreuz selbst erklärt Vermisste nur dann für tot, wenn eine | |
entsprechende Urkunde vorliegt. Das geschieht nur selten. | |
Das Zelt, in dem die Familiendetektive vom Roten Kreuz einmal in der Woche | |
eine Sprechstunde halten und neue Fälle entgegennehmen, ist auch ein Jahr | |
nach dem Beginn der Flüchtlingskrise noch voll. Seitdem die | |
Rote-Kreuz-Mitarbeiter in Myanmar Zugang zu den Gefängnissen in Myanmar | |
haben, gibt es noch mehr zu tun. | |
Manchmal überholen die Rohingya das Rote Kreuz aber bei der | |
Familienzusammenführung auch. Nachdem Rabbi den Fall Abdul Kudus für heute | |
zu den Akten gelegt hat, machen er und sein Team sich auf zu einem Marsch | |
zum „Muchora Hill“, dem sogenannten Kurvenhügel. Dort wollen sie Katija | |
einen Brief von ihrem Sohn aus Myanmar überbringen. Die Nachricht vom | |
Besuch der Familiendetektive verbreitet sich in Windeseile. Es vergehen | |
keine zehn Minuten und Katija kommt auf Rabbi und sein Team zu. Die | |
Monsunwolken hängen tief, dahinter kommt am blauen Himmel die Sonne zum | |
Vorschein. Nach kurzer Verwirrung ist klar: Der Sohn lebt seit Kurzem im | |
selben Camp wie seine Mutter. Der junge Mann ist noch vor dem Brief in | |
Bangladesch angekommen. Rabbi freut sich. Seine Kollegen im Büro sind | |
weniger glücklich. „Wir wollen eigentlich nicht, dass Menschen durch | |
unseren Briefdienst zur Migration animiert werden“, gibt Girardi zu | |
bedenken. | |
Die Familie von Yousuf hatte wie viele andere keine andere Wahl als die | |
Flucht. Yousufs Mutter sitzt in einem Gefängnis in Myanmar. Der Vater ist | |
tot. „Soldaten haben ihn umgebracht. Wir durften ihm gerade noch die Burka | |
der Mutter über den Kopf legen“, erzählt der Jugendliche, der mit seinen | |
Geschwistern bei einem Onkel im Flüchtlingslager lebt. | |
## Sechs Monate ohne Wissen über das Schicksal der Mutter | |
Das letzte Mal gesehen hat die Familie sich im Gericht in Myanmar. Nachdem | |
der Mutter angekündigt worden war, dass sie für zwei Jahre ins Gefängnis | |
müsse, nahm man ihr die Kinder weg und schickte sie nach Bangladesch. | |
„Festgenommen während der Flucht nach Bangladesch“, heißt es zu dem Foto, | |
das die burmesische Regierung im letzten Jahr auf Facebook veröffentlichte. | |
Der Junge auf dem Foto starrt angsterfüllt in die Kamera. Getrockneter | |
Schmutz bedeckt sein Wangen. Seine Hände scheinen hinter dem Rücken | |
zusammengebunden zu sein. Der Junge auf dem Foto ist der inzwischen | |
geflüchtete Yousuf. | |
Im Februar haben Rabbi und seine Kollegen ihm und seinen Geschwistern den | |
ersten Brief von der Mutter überbringen können. Sechs Monate lang wussten | |
sie nicht, wie es ihr ging. Yousuf tut sich immer noch schwer, seine | |
Erleichterung zu beschreiben, als die Familiendetektive ihn endlich | |
ausfindig gemacht hatten. | |
Kyaw Hla Aung ist Rohingya und hat in Myanmar bleiben müssen. Er weiß | |
genau, wie wichtig die Detektivarbeit ist, denn er versucht, so wie das | |
Rote Kreuz, Vermisste ausfindig zu machen – aus eigener Initiative. | |
Allerdings stapft der 71-Jährige dafür nicht kilometerweit über Hügel und | |
durch Monsunsümpfe. | |
Wie mehr als hunderttausend andere Rohingya darf er ein lagerähnliches | |
Areal nahe der Provinzhauptstadt Sittwe nicht verlassen. Er fungierte | |
stattdessen mithilfe seines Telefons als Schnittstelle für Informationen. | |
Als die taz ihn im Dezember 2016 besuchte, klingelte sein Telefon | |
permanent. Am Apparat waren Informanten aus den Gefängnissen, besorgte | |
Ehefrauen, Dorfvorsteher mit Neuigkeiten, die er zusammenpuzzelte und | |
weitergab. | |
Kyaw Hla Aungs Telefon hat aufgehört zu klingeln. Eine Genehmigung, um ihn | |
zu besuchen, wird von den burmesischen Behörden inzwischen nicht mehrt | |
erteilt. „Die Rohingya haben zu viel Angst zu kommunizieren. Wir stehen | |
alle unter Beobachtung“, erzählt er am Telefon. | |
Kyaw Hla Aungs Netzwerk ist zerfallen, nachdem geschätzte zwei Drittel der | |
gesamten Rohingya-Bevölkerung im letzten Sommer über die Grenze nach | |
Bangladesch geflohen sind. Dort können sie nicht mit ihm sprechen. Zwar | |
besitzen viele der Flüchtlinge eine bangladeschische SIM-Karte, aber sie | |
haben meistens keine internetfähigen Handys. Roaming-Gebühren kann sich | |
ohnehin kaum jemand leisten. | |
## Manche haben aufgegeben | |
Wer jetzt noch nicht wieder zu seiner Familie zurückgefunden hat, gilt als | |
tot oder im Gefängnis. „Die meisten wissen, dass sie ohne Hilfe von außen | |
keine Chance haben, ihre Verwandten zu finden“, sagt Odoardo Girardi vom | |
Internationalen Roten Kreuz. | |
Eine von den vielen Menschen, die deshalb die Suche aufgegeben haben, ist | |
Mosuda. Die 57-jährige sechsfache Mutter vermisst seit der überstürzten | |
Flucht einen ihrer Söhne. „Unser Schicksal liegt in Allahs Händen“, sagt | |
sie. „Wir müssen es nehmen, wie es kommt.“ | |
24 Aug 2018 | |
## AUTOREN | |
Verena Hölzl | |
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