# taz.de -- Medialer Umgang mit Verbrechen: Die Live-Katastrophe | |
> Das Geiseldrama von Gladbeck war ein medienethischer Tiefpunkt. Drei | |
> Thesen dazu, was sich verändert hat. | |
Bild: Journalisten umringen den Wagen der Geiselnehmer 1988 | |
Das Geiseldrama von Gladbeck vor 30 Jahren war ein medienethischer | |
Tiefpunkt. Reporter versuchten, den Tätern möglichst nahe zu kommen, | |
gefährdeten so die Sicherheit der Geiseln und prägten ein Bild vom | |
sensationsverliebten Journalisten. Das würde sich heute vermutlich nicht | |
wiederholen – auch weil sich bei Gewaltverbrechen in der Öffentlichkeit | |
andere Fragen in den Redaktionen stellen. | |
These 1: Das Problem verlagert sich von der Straße in die Redaktionen | |
Nachdem zwei Männer den Soldaten Lee Rigby im Londoner Stadtteil Woolwich | |
erst mit ihrem Auto angefahren, ihn dann auf die Straße gezerrt und dort | |
mit Messer und Beil ermordet hatten, [1][wandte sich einer der Täter einer | |
Kamera zu]. Keiner professionellen TV-Kamera, sondern einer Handykamera. | |
Ein Passant, der im Bus saß, als der Mord passierte, hielt einfach drauf. | |
Und der später verurteilte Mörder erzählte und rechtfertigte sich, wenige | |
Augenblicke nach der Tat. | |
Wie der Gladbecker Geiselnehmer Hans-Jürgen Rösner 1988 suchte auch der | |
Londoner Täter im Jahr 2013 die Öffentlichkeit – doch anders als Rösner | |
musste er nicht darauf warten, bis die Kameras aufgestellt und die | |
Mikrofone ausgerichtet waren. Nahezu jede und jeder hat heute eine Kamera | |
dabei. | |
London 2013, Paris 2015, Nizza, München und Berlin 2016 – überall gab es | |
Videomaterial von vor Ort, in München und London gar aufgezeichnete Dialoge | |
mit den Tätern während des Geschehens. | |
Genau da liegt das Problem: 1988 ging es darum, ReporterInnen auf die | |
Straße zu kriegen, Kameraleute, sie mussten raus, sie mussten dahin, wo | |
Rösner, Dieter Degowski und deren Geiseln waren. Redaktionen waren häufig | |
nicht mehr als Planer und Verbreiter, wann und wie das Material über den | |
Sender gehen sollte. | |
Heute müssen Redaktionen sichten, filtern, überprüfen – in einer kaum noch | |
überschaubaren Masse an Fotos und Videos, die sowohl in Netzwerken | |
kursieren als auch direkt angeboten werden. Und das unter dem permanenten | |
Druck, (schnell) zu informieren, nichts zu verschweigen, aber doch ethische | |
Grenzen einzuhalten. Darf ich das zeigen? Läuft es nicht eh schon überall? | |
Wie viel Würde kann ich den Opfern noch nehmen, wenn ihnen die Würde eh | |
schon von anderen genommen wurde? | |
Vielleicht würden JournalistInnen sich heute nicht mehr zu den Tätern ins | |
Auto setzen, vielleicht würden sie nicht mehr so willfährig Vermittler | |
spielen. Vielleicht liegt das aber auch nur daran, dass sie für diese Rolle | |
von den Tätern nicht mehr gebraucht werden. Sie sind nicht die Einzigen mit | |
dem nötigen Equipment und der nötigen Reichweite. | |
Dennoch sind sie die mit der großen Verantwortung – nicht mehr nur auf der | |
Straße, sondern in erster Linie in den Redaktionen. | |
2013 strahlte noch am selben Tag der britische Sender ITV die Aufnahmen vom | |
Mörder aus. Das Video ist bis heute online. | |
Jürn Kruse | |
These 2: In Gefahrensituationen wird die Polizei zum Konkurrenzmedium | |
Als die Geiselnahme von Gladbeck passierte, war die Aufgabe der Polizei vor | |
allem, die Bevölkerung zu schützen. Zeitungen und Fernsehen waren hingegen | |
diejenigen, die informierten. Diese Arbeitsteilung war gesetzt, solange es | |
noch kein Web 2.0 gab. Selbstverständlich informierte auch die Polizei und | |
gab Pressemitteilungen aus, aber nicht direkt an die Leser*innen. | |
Inzwischen sind Polizeidienststellen vor allem großer Städte selbst als | |
Sender in den sozialen Medien präsent. Im Fall einer Gefahrensituation im | |
öffentlichen Raum tritt sie in direkte Konkurrenz mit den | |
Nachrichtenmedien. Mehr noch: Die Informationen, die die Polizei in | |
Krisensituationen selbst über Twitter oder Facebook sendet, lassen sich | |
besser kontrollieren als Infos, die an eine Nachrichtenredaktion übergeben | |
werden. | |
Während des Amoklaufs von München war die Polizei vor allem mit dem | |
Einfangen von Falschmeldungen im Netz beschäftigt. War es Terrorismus? Gab | |
es eine weitere Schießerei? Einen weiteren Täter? | |
[2][Im Nachhinein wurde die Polizei München viel für ihr besonnenes und | |
deeskalierendes Krisenmanagement gelobt]. Vor allem Pressesprecher Marcus | |
da Gloria Martins gilt seitdem als ein Beispiel für eine | |
Informationsstrategie, bei der kontrolliert wird, was zu welchem Zeitpunkt | |
an die Öffentlichkeit gehört und was nicht. Dass die [3][technische | |
Möglichkeit der direkten Teilnahme] am Geschehen nicht bedeutet, dass | |
Internetnutzer*innen auch direkt am Geschehen teilnehmen sollten. | |
Gleichzeitig wirft die Entwicklung der Polizei zum Medium in | |
Krisensituationen neue ethische Fragen auf. | |
Während das allerdings im Fall des Amoklaufs von München pragmatisch und | |
gut erscheinen mag, wird es dann zum Problem, wenn die Polizei in | |
Krisensituationen selbst zum Akteur wird. Wie bei den Auseinandersetzungen | |
während der G20-Proteste 2017 in Hamburg. Ob es dort etwa zu | |
unverhältnismäßiger Polizeigewalt im großen Stil gekommen ist, bleibt | |
ungeklärt. Für Aktivist*innen steht es fest, [4][interne Ermittlungen haben | |
bisher nichts ergeben]. Eine unabhängige Ermittlungsinstanz gibt es nicht. | |
In solchen Fällen konkurriert dann zukünftig eine medial | |
professionalisierte und gut ausgestattete Medienpolizei mit ihrer Version | |
der Wahrheit gegen die der Presse. | |
Peter Weissenburger | |
These 3: Nachrichtenmedien stehen im Netz unter Druck | |
Anders als vor 30 Jahren bei Gladbeck sind Medien heute nicht mehr die | |
einzigen Nachrichtenquellen (siehe These 1). Deswegen sind JournalistInnen | |
in Großlagen heute vor allem Fakten-Checker. Sie verifizieren, was sich | |
längst online verbreitet hat. Im Laufe der vergangenen Jahre ist dadurch | |
eine neue Artikelform entstanden, die Onlinemedien nach Ereignissen fast | |
schon automatisiert auf die Seite laden: Das sogenannte „Was wir wissen – | |
und was nicht“. Eine Art Krisenliste, zusammengewoben aus dünnen | |
Faktenlagen, die Hergänge rekonstruiert und immer auch ein Appell an die | |
Besonnenheit der LeserInnen ist, selbst keine Falschinformationen zu | |
verbreiten. | |
„Was wir wissen – und was nicht“ ist außerdem ein Mittel, Vorwürfe eini… | |
Leser zu ersticken, Medien würden unliebsame Fakten verschweigen. | |
In der Vergangenheit sahen sich ChefredakteurInnen und ProgrammleiterInnen | |
immer wieder gezwungen, sich öffentlich zu rechtfertigen, wenn sie auf | |
Berichterstattung verzichtet hatten. Ein Beispiel ist [5][der Mord an einer | |
Studentin in Freiburg 2016]. Ein Geflüchteter aus Afghanistan hatte die | |
junge Frau vergewaltigt und in einem Fluss zurückgelassen. | |
In der Tagesschau wurde der Fall tagelang nicht erwähnt. Als sich | |
Internetnutzer darüber beschwerten, erklärte der Chefredakteur von | |
ARD-Aktuell, Kai Gniffke, im Netz, dass Freiburg ein „abscheulicher | |
Einzelfall“ gewesen sei, der keine gesamtgesellschaftliche Relevanz habe. | |
Schließlich gab der Sender aber nach und berichtete doch. Das Publikum | |
bestimmte die Nachrichtenagenda, Einzelfall hin oder her. | |
Da es sich bei Gladbeck um eine über Tage andauernde Geiselnahme handelte, | |
bei der auch Gefahr für die Bevölkerung bestand, gab es ein berechtigtes | |
öffentliches Interesse. Heute würde die Berichterstattung wohl so aussehen: | |
Nach den ersten Eilmeldungen würde es diverse „Was wir wissen – und was | |
nicht“-Übersichten geben, in denen sehr wahrscheinlich auch die Herkunft | |
der Täter und die Frage, ob es sich um eine terroristische Tat handelt, | |
thematisiert würden. Das mag der Zahl an Anschlägen in den vergangenen | |
Jahren geschuldet sein, ist aber auch Reaktion auf die unmittelbare und | |
öffentliche Kritik aus dem Netz. | |
Leonie Gubela | |
17 Aug 2018 | |
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