| # taz.de -- Berliner Luft: Immer der Nase nach | |
| > Wo Potsdamer Straße und Hauptstraße in Schöneberg aufeinandertreffen, | |
| > liegt einer der am stärksten luftverschmutzten Orte der Stadt. | |
| Bild: Ein schattiges Plätzchen – aber zu lange sollte man hier nicht verweil… | |
| Zu Beginn eine Warnung: Gehen Sie bloß nicht an der Potsdamer | |
| Straße/Hauptstraße flanieren! Es ist grässlich, es macht keinen Spaß, es | |
| funktioniert einfach nicht. Wer flaniert, schlendert in der Regel ohne | |
| bestimmtes Ziel in anonymen, großstädtischen Menschenmassen umher, um zu | |
| sehen und gesehen zu werden. | |
| Wer flaniert, lässt sich von der Übermacht unzähliger Sinneseindrücke nicht | |
| überwältigen, sondern nimmt sich Zeit zum Sortieren der Details: Was tragen | |
| die Menschen für Kleidung, welche Geschäfte liegen an der Straße, wie viele | |
| rote Autos schaffen es pro Ampelphase über die Kreuzung? Wer flaniert, kann | |
| sich Gedankenlosigkeit leisten, und das spontane Innehalten mitten auf dem | |
| Bürgersteig. | |
| Für all das ist der Straßenabschnitt rund um den U-Bahnhof Kleistpark | |
| ungeeignet. Wer hier Kurven geht oder gedankenlos stehen bleibt, wird von | |
| seufzenden, augenrollenden PassantInnen überholt. Wer die Scheuklappen | |
| ablegt, um sich allem zu stellen, was hörbar, sichtbar, spürbar und | |
| riechbar ist, kriegt spätestens nach 30 Minuten Kopfschmerzen. Vielleicht | |
| auch wegen der dreckigen Luft. | |
| Denn am U-Bahnhof Kleistpark, wo die Potsdamer Straße in die Hauptstraße | |
| übergeht, steht die Luft. Sie steht so sehr, dass man mit dem eigenen Atem | |
| Löcher in sie hineinpusten kann. Besonders jetzt, im Jahrhundertsommer, wo | |
| es morgens schon 26 Grad im Schatten hat. Über dem Asphalt liegt ein | |
| leichtes Flimmern und erinnert an Ferien im Stau, damals mit den Eltern im | |
| ockerfarbenen Audi auf der Autobahn Richtung Meer. | |
| ## Mehr als bloß Kulisse | |
| Lastwagen schieben sich mit gefährlich wenig Sicherheitsabstand an | |
| RadfahrerInnen vorbei. Das leise Surren der Elektroroller mischt sich in | |
| die anstrengende Geräuschkulisse, die den Namen Kulisse eigentlich nicht | |
| verdient. Eine Kulisse ist hintergründig, dekorativ, unaufdringlich. Der | |
| Straßenlärm verweigert sich dieser Nebenrolle, einfach weil er es kann. Auf | |
| dem undankbaren Platz hinter einem Doppeldeckerbus verzieht eine Radlerin | |
| leidend das Gesicht und wartet auf ihre Erlösung durch das grüne | |
| Ampellicht. | |
| Ganz besonders schlecht soll die Luft hier laut dem Luftqualitätsindex der | |
| Senatsverwaltung für Umwelt und Verkehr (SenUVK) sein. Der Straßenabschnitt | |
| ist einer der am stärksten luftverschmutzten Orte der ganzen Stadt. Im Jahr | |
| 2017 betrugen die hier gemessenen Stickstoffdioxidwerte (NO2) 54 Mikrogramm | |
| (µg) pro Kubikmeter im Jahresmittel – 14µg mehr, als von der | |
| Weltgesundheitsorganisation empfohlen. Gemessen wird das mithilfe eines | |
| sogenannten Passivsammlers, der hier etwas unscheinbar an einer | |
| Straßenlaterne hängt. | |
| Berlinweit gibt es derzeit 17 aktive Messstationen, die Daten über die | |
| Luftqualität in der Hauptstadt aufzeichnen. Um diese zu verbessern, setzt | |
| die Senatsverwaltung auf die Verstetigung des Verkehrs. An der Leipziger | |
| Straße hat im Mai eine Pilotphase begonnen, für die die Hauptverkehrsstraße | |
| aus Gründen der Luftreinhaltung in eine Tempo-30-Zone umgewandelt wurde. | |
| Dort wurden im vergangenen Jahr 63µg/m³ gemessen. Eine 30er-Zone gilt seit | |
| Anfang Juni auch zwischen Potsdamer Platz und Kleistpark. An dem | |
| Verkehrsaufkommen dort ändert das nichts: Ein Lastwagen nach dem anderen | |
| ächzt die Anhöhe in Richtung Kaiser-Wilhelm-Platz hoch. | |
| ## Joggen mit Mundschutz | |
| Die Menschen hier scheint das kaum zu stören. Zumindest sitzen sie | |
| ungeachtet der vorbeidonnernden Lkw vor Cafés und Imbissbuden. Zwei junge | |
| Männer in Hawaiihemden beißen beherzt in ihre Frühstücksdöner. Auf der | |
| anderen Straßenseite joggt jemand in voller Sportmontur und mit Mundschutz | |
| vorbei. Dass ein Mundschutz gegen Gase wie Stickoxid nichts bringt, weil | |
| die von der groben Filterschicht nicht zurückgehalten werden, ist ihm | |
| entweder nicht bewusst oder einfach egal. | |
| Wirklich verwunderlich ist diese Unbedarftheit nicht. „Gesunde Menschen | |
| merken von einer erhöhten Stickstoffdioxidbelastung nur selten etwas“, ist | |
| auf der Internetseite des Umweltbundesamtes zu lesen. | |
| Für Kinder, AsthmatikerInnen und Menschen mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen | |
| ist eine zu hohe NO2-Konzentration jedoch gefährlich. Laut einer aktuellen | |
| Studie des Umweltbundesamtes sind 15 Prozent aller Asthmafälle auf | |
| Stickstoffdioxid zurückzuführen. Sicher ist außerdem: Es existiert keine | |
| Untergrenze, ab der Luftverschmutzungen nicht mehr gesundheitsschädlich | |
| sind. | |
| Viele Imbiss- und CafébetreiberInnen am U-Bahnhof Kleistpark haben über die | |
| dreckige Luft vor ihren Geschäften bisher wenig nachgedacht. „Es ist halt | |
| laut und der Verkehr ist die Hölle“, ruft ein Mann über den Tresen eines | |
| Schnellrestaurants. Dass die Luft da schlecht sei, liege doch auf der Hand. | |
| „Essen wollen die Leute trotzdem“, sagt er und wendet sich wieder seiner | |
| Fritteuse zu. | |
| ## Melonen dürfen draußen stehen | |
| Im Biomarkt auf der anderen Straßenseite ist man überrascht von der | |
| Nachricht, die Luftverschmutzung sei vor der eigenen Haustür besonders | |
| schlimm. „Ist es schon so gefährlich wie an der Silbersteinstraße?“, fragt | |
| ein besorgter Mitarbeiter in grünem Poloshirt. Obst und Gemüse stellten sie | |
| zum Glück ohnehin nie vor die Tür. Mit den Wassermelonen, die gerade vor | |
| der Filiale liegen, könne man aber mal eine Ausnahme machen – durch die | |
| dicke Schale komme schließlich nichts durch. | |
| Nach fast zwei Stunden selbstbewusster Ein- und Ausatmung verheißt der | |
| Taschentuchtest nichts sichtbar Böses. Nach einem Wochenende bei einem | |
| staubtrockenen Festival im Sommer 2007 sah das schon mal anders aus. Kann | |
| man dreckige Luft wenigstens riechen? „Erst ab sehr hohen Konzentrationen | |
| ab circa 300 µg/m³ kann es zu Geruchsbelästigungen kommen“, sagt Dorothee | |
| Winden, Pressesprecherin der SenUVK. Solche Spitzen würden in Berlin jedoch | |
| nur sehr kurzfristig und äußerst selten auftreten. | |
| ## Gesünder: Umwege | |
| Die erhöhte Stickoxidbelastung ist also eine unsichtbare Gefahr, die man | |
| weder durch Dreck in der Nase noch eine verdächtige Staubschicht auf dem | |
| Cafétisch sehen kann. Schützen können sich Einzelpersonen vor der giftigen | |
| Luft deswegen am besten auf Umwegen – im Wortsinn: Wolfgang Straff vom | |
| Umweltbundesamt empfiehlt RadlerInnen zum Beispiel, statt der Hauptstraßen | |
| weniger befahrene Nebenstraßen zu benutzen. | |
| Ausweichen also, um gesünder durch die Stadt zu kommen. | |
| Das lohnt übrigens auch aus Sicht der Flaneurin: Ein kleiner Schlenker in | |
| den nahegelegenen Akazienkiez oder in Richtung Gleisdreieckpark erlaubt | |
| dann doch noch entspanntes Betrachten des manchmal bemerkenswert skurrilen | |
| menschlichen Treibens in der Großstadt. Und hier lässt es sich dann auch | |
| endlich aus voller Brust und sorglos einatmen. | |
| 14 Aug 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Lin Hierse | |
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