# taz.de -- Übersetzer über William Shakespeare: „Shakespeare waren andere�… | |
> Holger Lohse arbeitet als eine Art Bürgerwissenschaftler an der | |
> Neuübersetzung aller 154 Sonette von William Shakespeare. Dabei machte er | |
> eine Entdeckung. | |
Bild: Forscht ohne Vorgaben und Termine: Holger Lohse | |
taz: Herr Lohse, wie viel Zeit am Tag verbringen Sie mit William | |
Shakespeare? | |
Vom Frühstück bis zum Mittag, dann bin ich am fittesten. Nachmittags bewege | |
ich mich lieber oder trinke Tee mit meiner Frau. | |
Sie betreiben Ihre Shakespeare-Forschung unabhängig von irgendwelchen | |
Akademien oder Instituten. Wie definieren Sie Ihre Rolle im | |
wissenschaftlichen Betrieb? | |
Ich sehe mich als eine Art Bürgerwissenschaftler. Viele Leute forschen in | |
einem bestimmten Bereich und bringen für die offizielle Forschung neue | |
Ergebnisse. Ich forsche ohne Vorgaben, ohne Termine. Ich habe auch | |
Shakespeares Sonette ohne Termindruck übersetzt. Vielen professionellen | |
Übersetzungen merkt man an, dass die Verlage Termine vorgeben: Sie sind | |
nicht ganz zu Ende gefeilt. Ich habe das Privileg, ohne Zeitvorgabe | |
arbeiten zu können. | |
Können Sie sich noch an Ihre erste Begegnung mit Shakespeare erinnern? | |
In unserem Schwarz-Weiß-Fernseher haben mich schon früh die hochkarätigen | |
Theateraufführungen von König Lear und Richard III mit den großen | |
Schauspielern jener Zeit wie zum Beispiel Rolf Boysen fasziniert. Ich habe | |
zwar nicht alles verstanden, aber ich habe die Macht der Sprache gespürt. | |
In welchem Moment wurde Shakespeare zu ihrem Lebensthema? | |
Als ich mich fragte, welche europäischen Dichter die Qualitäten der | |
persischen Dichter des 12. und 13. Jahrhunderts haben. Ich fand nur Dante | |
und Shakespeare, und Dante war mir aufgrund der Sprache zu entfernt, denn | |
man muss solche Dichtung schon im Original lesen. Alle Übersetzungen sind | |
immer auch Interpretationen. Daraus ergab sich für mich die Notwendigkeit, | |
die 154 Sonette von Shakespeare selbst zu übersetzen. | |
Was unterscheidet Ihre Übersetzung der Sonette von den bestehenden | |
Übersetzungen? | |
Die Sonette werden allgemein als Liebesgedichte betrachtet. Die heutigen | |
Interpretationen sind profane Interpretationen, aber Shakespeare bewegt | |
sich in einem anderen Raum. Es gibt bei ihm eine Sinnschicht, die für | |
Europäer heute schwer verständlich ist. Ich sage dazu metaphysisch, obwohl | |
das in Europa heute ein leerer Begriff ist. | |
Haben Sie dafür ein Beispiel? | |
Es gibt im 3. Sonett die Zeile: „But if thou live, rememb’red not to be / | |
Die single …“ Die wird allgemein profan übersetzt, wie beispielsweise bei | |
Klaus Reichert: „Doch lebst Du, daß man deiner nicht gedenke …“ Ich | |
übersetze sie so: „Doch wenn Du lebst, durch nichts gemahnt, zu sein …“ … | |
heißt, wenn du nicht bedenkst, zu sein, dann hast du dein Leben vergeudet. | |
Das hat eine viel packendere Bedeutung, die einen viel größeren Raum | |
öffnet. Hier klingt Hamlet an. Seit über zehn Jahren meditiere ich über die | |
Sonette, korrigiere und verfeinere meine Übersetzung. | |
Wie kamen Sie dann zu dem kühnen Gedanken, dass hinter diesem Werk nicht | |
der William Shakespeare aus Stratford stecken kann? | |
Die tiefe künstlerische und die virtuose formale Qualität sowie die | |
Raffiniertheit der Sprache übersteigt meines Erachtens die Fähigkeiten von | |
jemandem, der nie eine Schule besucht hat und sein Leben lang Analphabet | |
war. Das geht einfach nicht. Das wird ja auch schon seit über hundert | |
Jahren angezweifelt, schon Heinrich Heine machte sich über den Stratforder | |
lustig. Es gibt tausende Forscher auf der Welt, die auf der Suche nach dem | |
Autor dieses dichterischen und dramatischen Werkes sind. Sie teilen sich | |
auf in Baconianer, Derbyiten, Oxfordianer – je nachdem, welcher Kandidat | |
von einer Gruppe favorisiert wird. | |
Wie kamen Sie auf Ihre Lösung in diesem Wissenschaftskrimi? | |
Ich bin auf eine kleine, dünne, im Selbstverlag erschienene Broschüre aus | |
England gestoßen. Der Autor hatte die Schauspielerliste der ersten | |
Gesamtausgabe der Dramen, der First Folio, untersucht. In einer Spalte | |
entdeckte er, dass die Endbuchstaben der Zeilen dieser Liste einen Namen | |
ergaben, das nennt man ein Telestichon. Der Name lautete „Stanley“, der | |
schon lange als ein Kandidat für die Autorschaft galt. | |
Wer war Stanley? | |
William Stanley war der 6. Earl of Derby, ein äußerst gebildeter, weit | |
gereister und hoch angesehener Mann aus dem Adel, von dem es hieß, dass er | |
Komödien schreibt. Mich hat die Entdeckung vollkommen überzeugt. Die | |
Schauspielerliste der First Folio enthält aber noch eine zweite Spalte, und | |
ich fand es unlogisch, dass diese bedeutungslos sein sollte. Und darin habe | |
ich den Namen „Dyer“ entdeckt. Edward Dyer ist hierzulande ziemlich | |
unbekannt, obwohl er der erste bedeutende Lyriker der elisabethanischen | |
Zeit war. Ich kannte ihn, weil auch er schon als Kandidat ins Gespräch | |
gebracht worden war. Nach der Entdeckung war für mich klar: Shakespeare | |
waren zwei: Stanley und Dyer. Davon, dass Shakespeare mehrere waren, sind | |
auch schon andere Autoren ausgegangen wie zum Beispiel Bertold Brecht. Dass | |
es jetzt einen Beweis dafür gibt, hat mich so fasziniert, dass ich mir | |
gesagt habe, das muss bekannt werden, darum habe ich mein Buch geschrieben. | |
In der Hoffnung, dass von diesem Punkt aus weiter geforscht wird? | |
Genau, ich dachte, dass alle darüber froh sein müssten, die sich mit | |
Shakespeare beschäftigen. Aber die Reaktionen waren andere. Ich habe mein | |
Buch an einige Professoren verschickt und erfuhr Ignoranz. Sie haben sich | |
noch nicht einmal dafür bedankt. Da wurde mir klar, die Welt freut sich | |
nicht über diese Lösung, sondern die Lösung stört. | |
Wen stört sie? | |
Man muss bedenken, dass mit Shakespeare ein großes Geschäft gemacht wird. | |
Wenn man sich allein die Stadt Stratford mit jährlich Millionen von | |
Touristen anschaut, oder wenn man sich die vielen sogenannten Biographien | |
über William Shakespeare aus Stratford anschaut, die weite Verbreitung | |
finden, ahnt man, dass es hier auch um Marktanteile geht. Deswegen sind die | |
Anti-Stratfordianer Störenfriede in einem großen Geschäft. | |
Aber was ist mit der Wissenschaft? Die sollte doch der Wahrheit | |
verpflichtet sein. | |
Ein deutscher Anglistik-Professor sagte mir einmal auf meine Frage, ob die | |
Autorschafts-Frage auf dem Tisch der Wissenschaft läge: Die lag noch nie | |
auf dem Tisch der Wissenschaft. Und wenn nun einer wie ich daherkommt, der | |
keine Reputation aufweisen kann, und sagt, ich habe die Wahrheit gefunden, | |
das interessiert dann keinen. All die Professoren, die täglich vom Katheder | |
die Stratford-Theorie vertreten, müssten dann eingestehen, dass sie | |
unkritisch von einer falschen Prämisse ausgegangen waren. | |
Freuen sich zumindest die Anti-Stratfordianer über Ihre Erkenntnisse? | |
Die Anti-Stratfordianer sind in verschiedene Fraktionen gespalten, welche | |
jede ihren eigenen Kandidaten hochhält. Die Oxfordianer haben es naturgemäß | |
nicht gern, wenn jemand daherkommt und sagt, ihr irrt euch, der Earl of | |
Derby ist der wahre Shakespeare. | |
Fällt da Ihre Theorie, dass der ungebildete Shakespeare aus Stratford nicht | |
die ihm zugeschriebenen Werke verfasst haben kann, möglicherweise auf Sie | |
selbst zurück, der sich seine anglistischen Kenntnisse autodidaktisch | |
angeeignet hat und nun behauptet, die wahren Autoren dieser Werke entdeckt | |
zu haben? | |
Beim Mann aus Stratford lag der Impuls, sich zu bilden, gar nicht vor. Er | |
hatte den Impuls, viel Geld zu verdienen und das hat er durch seine Rolle | |
als Strohmann getan, das war sein Lebensglück. Stanley und Dyer haben sich | |
meiner Meinung nach bewusst einen Strohmann gewählt, der nicht schreiben | |
konnte und sie so auch in Briefen oder schriftlichen Hinterlassenschaften | |
nicht verraten konnte. | |
Wie groß ist Ihre Überzeugung, auf dem richtigen Weg zu sein? | |
Hundert Prozent. Jede Wahrheit kommt irgendwann einmal ans Licht – und wenn | |
diese Wahrheit irgendwann einmal von akademischer Seite anerkannt wird, | |
bedeutet das einen Paradigmenwechsel in der Shakespeare-Forschung. Es käme | |
dann das Beziehungsgeflecht der Intellektuellen in der damaligen äußerst | |
dynamischen Zeit viel stärker in den Blick. | |
Bereuen Sie es manchmal, nicht den akademischen Apparat zur Verfügung zu | |
haben, um diese Forschung jetzt selbst vorantreiben zu können? | |
Nein, denn wie Sie sehen, kommt man auch ohne einen Apparat manchmal an | |
sein Ziel. In jedem System gibt es Zwänge, wie man weiß, und solchen bin | |
ich nicht ausgesetzt. | |
Beim Lesen Ihres Buches habe ich mich gefragt, ob Sie Ihre Entdeckung | |
vielleicht gerade deswegen machen konnten, weil Sie nicht Teil eines | |
akademischen Systems sind, sondern den an Typografie geschulten Blick eines | |
gelernten Grafikers haben. | |
Da ist was dran. Die Schauspielerliste in der First Folio ist die | |
unwichtigste Seite des ganzen Buches, die hat mit Literatur nichts zu tun, | |
und die akademischen Forscher interessieren sich ja hauptsächlich für | |
Literatur. | |
Seit ein paar Jahren leben Sie in Worpswede und sind familiär mit dem Haus | |
im Schluh verbunden. Beteiligen Sie sich dort auch aktiv? | |
Ja, da wende ich meine alten Talente an und mache grafische Entwürfe für | |
Drucksachen, oder ich helfe sonntags als Kellner im Museumscafé aus. | |
Sie haben vor ein paar Wochen im Rahmen einer Matinee in Bremen das erste | |
Mal öffentlich Ihr Buch vorgestellt. Bedeutet das einen weiteren Schritt | |
hinaus in die Öffentlichkeit? | |
Gern mache ich das nicht, ich bin überhaupt kein Bühnen-Mensch, aber das | |
war für mich eine Art Heimspiel. Ich kannte die Räumlichkeiten und die | |
meisten Menschen, und deren Interesse für die Sache war groß. | |
Wie wichtig ist Ihnen im Vergleich zur Genugtuung, etwas entdeckt zu haben, | |
die öffentliche Anerkennung? | |
Die wäre für die Sache natürlich förderlich. Aber ich weiß genau, das wür… | |
meine Eitelkeit berühren, deswegen halte ich das immer ganz tief. Im | |
Übrigen ist meine Person viel zu uninteressant. Mein Buch über die Lösung | |
der Autorschaftsfrage und meine Übersetzung der Sonette von Shakespeare, | |
die ich demnächst veröffentlichen will, betrachte ich als eine Art | |
Lebenswerk von mir. Das genieße ich zurückgelehnt, dafür brauche ich nicht | |
die große Anerkennung von außen. | |
13 Aug 2018 | |
## AUTOREN | |
Ralf Lorenzen | |
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