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# taz.de -- Schattenbericht nach dem NSU-Urteil: Kein Schlussstrich
> Der Türkische Bund veröffentlicht nach dem NSU-Urteil einen
> Schattenbericht. Der Verein fordert eine Kontrollinstanz für den
> Verfassungsschutz.
Bild: „Wir haben eine historische Chance verpasst“, sagt Hajo Funke
Hinterbliebene der Opfer, Aktivisten und Kritiker des NSU-Prozesses sagten
„Kein Schlussstich“, als vergangene Woche die Urteile im Oberlandesgericht
München fielen. Eine Woche nach dem Urteilsspruch präsentiert der
[1][Türkische Bund in Berlin Brandenburg] (TBB) einen
[2][„Schattenbericht“] mit dem Titel „NS-Mordserie. Staatsversagen.
Rassismus – und Konsequenzen“. Für den knapp 90-seitigen Bericht mit dem
Untertitel „Das NSU-Urteil und die Grenzen des Rechtsstaates“ hatte der TBB
den Politikwissenschaftler Hajo Funke beauftragt, der die offizielle
Aufarbeitung der NSU-Verbrechen scharf kritisiert.
Im seinem Bericht schreibt der Autor, dass „sowohl das Gericht als auch der
Generalbundesanwalt es abgelehnt haben, das Verfahren auf das Umfeld der
Angeklagten auszuweiten.“ Der Vorsitzende Richter Manfred Götzl habe den
Prozess lediglich „gemanagt“ und auf ein „revisionsdichtes Urteil“ statt
eine lückenlose Aufklärung abgezielt.
„Wir haben eine historische Chance verpasst. Der NSU-Prozess war eine
solche“ sagt Funke. Seine Analysen basieren auf eigenen Beobachtungen von
Untersuchungsausschüssen, insbesondere den beiden des Bundestags, außerdem
aus Sachverständigen-Gutachten, die er für die Untersuchungsausschüsse in
Thüringen, Bayern, Baden-Württemberg, Hessen, Nordrhein-Westfallen und
Brandenburg verfasst hatte.
Ayşe Demir, Sprecherin vom TBB, sagt bei der Vorstellung des Berichts in
Berlin, es sei „emotional schwer zu ertragen“, dass der Prozess zu Ende
gegangen und dennoch keine lückenlose Aufklärung erfolgt sei. Sie erinnert
an die Worte der Bundeskanzlerin Merkel, die den NSU als „Schande für
Deutschland“ bezeichnet hatte – und fügt hinzu: „Die fehlende Aufklärung
ist eine weitere Schande.“
## Verwicklungen des Verfassungsschutzes
Der TBB veröffentlichte den Bericht am 18. Juli, just an dem Tag, an dem
das Oberlandesgericht München den Haftbefehl gegen Ralf Wohlleben aufhob.
Wohlleben war in der Woche zuvor zu zehn Jahren Haft wegen Beihilfe zum
Mord in neun Fällen verurteilt worden, weil er laut Gericht die Tatwaffe
besorgt haben soll. Zuvor war bereits André Eminger, ein weiterer
NSU-Helfer, der am 11. Juli zu zweieinhalb Jahren verurteilt worden war,
auf freien Fuß gekommen.
Funke geht in seinem Bericht vor allem der Rolle des Verfassungsschutzes
bei der Verhinderung einer lückenlosen Aufklärung nach. Es gebe wichtige
Indizien dafür, dass verschiedene Landesbehörden, vor allem jene in
Thüringen, mit der Neonaziszene verstrickt gewesen seien. Um sich selbst
vor Konsequenzen zu schützen, hätten sich die Behörden letztlich gegen eine
Aufklärung gestellt.
In der Einleitung des Berichts schreibt Funke, dass „Teile der
Sicherheitsbehörden durch ihre informationelle Beteiligung und ihr Wissen
um die Verbrechenstaten rechtsextremer Gewaltgruppen sich in einem Maße
verstrickt haben, dass sie ohne schweren Schaden für sich daraus nicht mehr
herausgekommen wären“.
Funke argumentiert zudem, dass dieses Handeln der Verfassungsschutzbehörden
besonders verheerend ausfiel, da sie in die Zeit der 1990er Jahre fiel, in
der ein gewalttätiger Rechtsextremismus florierte, insbesondere in
Thüringen. Im Kapitel „Bittere Bilanzen der Opfer-Familien“ lenkt Funke den
Blick auf die Hinterbliebenen, die durch die rassistischen Verdächtigungen
und eine verweigerte Aufklärung der Taten ein zweites Mal traumatisiert
worden seien. Im Bericht ist so von einer „Täter-Opfer-Umkehr“ die Rede.
## Forderungen nach NSU-Urteil
Funke und TBB fordern, dass der Verfassungsschutz alle bisher im
Aufklärungsprozess vorenthaltenen Dokumente offenlegt und
Aussagegenehmigungen für alle involvierten Personen erteilt. Eine
„fundamentale Reform“ der Verfassungsschutzbehörden solle erfolgen – oder
diese abgeschafft werden, wenn keine Reform erfolgen sollte. Konkret
fordert der Bericht eine unabhängige und übergeordnete Kontrollinstanz für
den Verfassungsschutz, ähnlich dem US-amerikanischen Sonderermittler, der
„unmittelbar Akten anfordern und eigene Ermittlungen anstellen kann“ sowie
mehr Kompetenzen für Untersuchungsausschüsse.
Bei der Präsentation des Berichts in den Geschäftsräumen des TBB in Berlin
geht es immer wieder um das Problem vorenthaltener Informationen, um
gezielte Vertuschung und Desinformation. Safter Çınar, Vorstandsmitglied
des TBB, sagt über einen Bericht, den das Hessische Landesamt für
Verfassungsschutz (über Kontakte des NSU-Trios) erstellt hatte und der für
120 Jahre in Verschluss gehalten werden soll: „Das werden selbst unsere
Enkel nicht mehr erleben.“
Hajo Funke ist dennoch optimistisch: „Ich bin davon überzeugt, dass wir in
den nächsten fünf Jahren das eine oder andere Entscheidende erfahren
werden.“ Er und der TBB wissen zugleich, dass diese entscheidenden
Informationen nicht von alleine ans Tageslicht kommen werden. Funke sagt:
“Wir müssen uns dafür anstrengen.“
19 Jul 2018
## LINKS
[1] https://tbb-berlin.de/
[2] https://gallery.mailchimp.com/4c794edf16614fb05bd31a539/files/64f08201-97f6…
## AUTOREN
Volkan Ağar
## TAGS
taz.gazete
Politik
Rechtsextremismus
Schwerpunkt Rechter Terror
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