# taz.de -- Angriff auf Journalisten in Berlin: Als ob man zwei Leben lebt | |
> Erk Acarer verfasste diesen Text über sein Exil in Deutschland im Jahr | |
> 2018. Am Mittwochabend ist er von mehreren Tätern angegriffen worden. | |
Bild: Im Exil und Opfer eines tätlichen Angriffs: Erk Acarer | |
Anmerkung der Redaktion: Dieser Text wurde am 30. Juli 2018 veröffentlicht. | |
Erk Acarer, der am 7. Juli 2021 Opfer eines [1][tätlichen Angriffs] wurde, | |
beschreibt darin sein Leben im Berliner Exil. | |
2016 gab die taz zum Tag der Pressefreiheit eine Sondernummer zur | |
Pressefreiheit in der Türkei heraus. Zur Teilnahme an diesem Projekt war | |
ich im Mai erstmals in Berlin. Am Ende dieser zwei Wochen nahm ich im taz | |
Café an einer Podiumsdiskussion mit Deniz Yücel, Gözde Kazaz von der | |
türkisch-armenischen Zeitung Agos und der grünen Abgeordneten Claudia Roth | |
teil. | |
In der Diskussion ging es neben der Pressefreiheit auch um die Themen | |
Justiz und Demokratie in der Türkei. Ich sagte dabei: „In diesen zwei | |
Wochen hier habe ich mich wie zu Hause gefühlt.“ Im Saal wurde gelacht. | |
Erst später verstand ich, warum. Es war ein ironisches Lachen. „Haben wir | |
dich so arg unterdrückt?“, wurde ich gefragt. Da schämte ich mich. | |
Zurück in der Türkei verlief das Jahr nach der Veranstaltung dann | |
turbomäßig. Im Juli 2016 der Putsch, Menschen wurden verhaftet, | |
Presseorgane geschlossen. Auch meine Familie und ich waren wegen meiner | |
Berichterstattung plötzlich bedroht. Ins Ausland zu gehen bot sich als | |
Alternative an, auch um weiter als Journalist tätig sein zu können. Im | |
April 2017 kam ich mit Frau und Tochter nach Berlin. | |
Die ersten Nächte in der Stadt bedeuteten für mich, endlich schlafen zu | |
können. Denn das Blaulicht der Polizeiautos draußen beunruhigte mich nicht | |
mehr, es galt ja nicht mir. Die Erleichterung wich aber sehr schnell einer | |
aus dem Herzen kommenden Erkenntnis: „Hier ist nicht mein Zuhause …“ | |
## Ich fühlte mich schuldig | |
Ich stürzte mich, so gut ich konnte, ins Leben und übte meinen Beruf aus, | |
genau wie in der Türkei. Viel Freizeit lässt dieser Beruf nicht. Trotzdem | |
versuchte ich mich stärker um meine Familie zu kümmern. Immerhin bin ich | |
Vater einer elf-jährigen Tochter, die aus ihren Freundschaften und ihrem | |
gewohnten Umfeld herausgerissen wurde, und Ehemann einer Frau, die jetzt | |
fern ihrer Familie leben muss. | |
Als ihre Mutter starb, konnte meine Frau nicht nach Istanbul, die | |
Beerdigung musste sie über Skype verfolgen. Der Staat zog damals auch die | |
Pässe von Angehörigen ein, wenn er Dissident*innen terrorisierte. Der | |
Familie gegenüber fühlte ich mich deshalb schuldig. Es gab Zeiten, da | |
dachte ich, ich hätte anderen Menschen das Leben zerstört. | |
Das Leben anderer Menschen – was gibt es da nicht für gelebte Leben in | |
Deutschland! Ein Freund, der mit seiner Familie nach dem Militärputsch 1980 | |
die Türkei verlassen hatte, erzählte mir: „In dem Glauben, bald | |
zurückzukehren, kaufte meine Mutter Geschenke für Bekannte und Verwandte. | |
Auf dem Kleiderschrank im Schlafzimmer lagen stapelweise ungeöffnete | |
Bettwäschesets. Im Laufe der Jahre wurden sie dann eins nach dem anderen | |
von uns selbst in Betrieb genommen.“ | |
Alle, die damals gingen, kennen ähnliche Geschichten und Gefühle, auch wenn | |
sie vielleicht nicht darüber reden. Es ist, als befänden sich Körper und | |
Seele an zwei unterschiedlichen Orten, als lebe man in zwei Zeiten. Man | |
versucht, sich da, wo man jetzt lebt, ein Leben aufzubauen, zugleich aber | |
das zurückgelassene Leben nicht aufzugeben. Man gehört zugleich an beide | |
Orte und an beide nicht. Meine Armbanduhr war im ersten Jahr immer auf die | |
türkische Uhrzeit eingestellt. | |
## „Wir können bald zurück – oder?“ | |
Einerseits lebte ich ständig in der Unruhe, jeden Moment zurückzukehren, | |
andererseits zugleich so ruhig, als würde ich ewig bleiben. Manchmal | |
machten wir uns bei der taz.gazete über unsere Lage lustig. Wurde ein*e | |
Journalist*in oder ein*e Dissident*in freigelassen, sagten wir: „Der | |
Faschismus ist am Ende, wir können bald zurück.“ Dann wurden am selben Tag | |
drei Leute verhaftet oder die soeben Freigelassenen erneut hinter Gitter | |
gebracht. Und wir verschoben wieder alle Pläne. Es kam vor, dass deutsche | |
Kolleg*innen über unsere Situation lachten. Wenn sie fragten: „Wie | |
steht’s heute um den Faschismus?“, lautete unsere Antwort je nachdem: „Ka… | |
jeden Moment vorbei sein“, oder: „Ist on top!“ | |
Das Gefühl einer unmittelbar bevorstehenden Heimreise und die Realität sind | |
leider inkompatibel. In den Anfangsmonaten fragte bei einem Treffen mit | |
Freund*innen ein Oppositioneller der ersten Generation: „Warum haben die | |
Exilierten einen dicken Zeigefinger?“ Er gab selbst die Antwort: „Weil sie | |
damit ständig auf den Tisch klopfen und sagen: Wir gehen bald zurück.“ | |
## Es raubt uns den Schlaf | |
Auch wenn mir vor den diesjährigen Wahlen am 24. Juni schon schwante, dass | |
Erdoğan gewinnen könnte, war ich voller Hoffnung. | |
Jetzt aber sieht es nicht so aus, als könnte ich in absehbarer Zeit zurück. | |
Ich sehe, dass alles, was die Türkei einst zu „unserem Land“ gemacht hatte, | |
der Reihe nach umfällt wie Dominosteine. Wir hoffen jetzt, wenigstens für | |
unsere Kinder ein freies Land aufbauen zu können, besser noch eine solche | |
Welt. Dieses Gefühl und diese Hoffnung zu bewahren, der Wille, alles in | |
unseren Kräften Stehende zu tun, halten uns aufrecht. | |
Es wird schwierig. In einem Land mit einer demokratischen Tradition, und | |
sei sie noch so gering, hält sich Autorität nicht ewig. Es wird einen Bruch | |
geben. Und der Gedanke daran raubt uns nun den Schlaf. | |
Verrückt: Was, wenn wir dann Berlin und die hiesigen Freund*innen | |
vermissen? Baudelaire sagte, er habe das Gefühl, er sei immer gerade dort | |
glücklich, wo er nicht ist. Es ist kompliziert. Wie das Leben. Wir spielen | |
die Hauptrolle in einem Stück, das wir nicht selbst geschrieben haben. | |
30 Jul 2018 | |
## LINKS | |
[1] /Attacke-auf-tuerkischen-Journalisten/!5780835 | |
## AUTOREN | |
Erk Acarer | |
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