# taz.de -- Theater-Biennale in Venedig: Manchmal hilft nur das Scheitern | |
> Wie geht Erneuerung am Theater? Darüber sprachen in Venedig ausgerechnet | |
> gescheiterte mit fast gescheiterten Intendanten. Unter ihnen: Chris | |
> Dercon. | |
Bild: Chris Dercon saß beim Symposium der Theater-Biennale in Venedig auf dem … | |
Eine Runde abgeschaffter oder knapp dem Scheitern entgangener Festival- und | |
Theaterdirektor*innen – so lässt sich die Zusammensetzung des Podiums | |
„Actor/Performer“ beim diesjährigen Symposium der Theater-Biennale in | |
Venedig charakterisieren. Oder auch so: eine Runde von Expert*innen, die | |
sich an der Erneuerung von Strukturen abarbeiten oder ihnen zum Opfer | |
fielen oder beides. Eine Runde Kämpfer*innen und Bekämpfter. „In einer | |
Zeit, in der“, wie Paweł Sztarbowski, Kodirektor des Teatr Powszechny in | |
Warschau, festhält, „die kulturelle und politische Landschaft sich rasend | |
schnell verändert hat.“ | |
Neben Sztarbowski besteht die Runde, was die beanspruchte Redezeit angeht, | |
allen voran aus dem Ex-Volksbühnen-Intendanten Chris Dercon. Er äußert sich | |
seit seiner Berliner Entlassung zum ersten Mal öffentlich und spricht – in | |
Anlehnung an das englischsprachige Exeunt Magazine – wahlweise von | |
„epischer Schlacht“ und „epischem Versagen“. Dagegen hat das Teatr | |
Powszechny seinen Überlebenskampf gegen Hetzkampagnen und Morddrohungen aus | |
religiös-konservativer Richtung bislang wider Erwarten überstanden: „Es | |
schien unmöglich, innerhalb dieser Geschehnisse zu überleben.“ | |
Aus den Niederlanden ist die Schauspielerin Bianca van der Schoot dabei, | |
deren Berufung als künstlerische Direktorin des Rotterdamer Ro Theater | |
aufgrund einer Theaterfusion zum Zeitpunkt ihres Antritts für überflüssig | |
erklärt wurde. Armando Punzo schließlich ist ein wichtiger Protagonist des | |
sozialen Theaters in Italien und trat im letzten Jahr vorwiegend aufgrund | |
gravierender budgetärer Planungsunsicherheiten als Leiter eines Festivals | |
im toskanischen Volterra zurück. | |
Eine Frau, drei Männer, dazu ein nicht moderierender Moderator. Eher | |
symptomatische als ideale Voraussetzungen, um den derzeit wütenden | |
Schismenstreit „Actor/Performer“, Textaufsager versus souveräner Künstler, | |
vor den Horizont seines größeren Kontexts zu heben. Dass es gelingt, ist | |
durchaus an erster Stelle Dercon zu verdanken. Nicht wegen seines zuweilen | |
walzenartigen Volksbühnen-Verarbeitungsoutputs, sondern wegen seines | |
durchaus visionären, vielseitigen Blicks auf das Thema. | |
Schon in seinem Eingangsstatement plädiert er gegen eine | |
Entweder-oder-Diskussion: Wer könne schon darüber urteilen, ob jemand | |
Performer oder Schauspieler sei? „Maybe they are something else.“ Die | |
Einschätzung, dass die programmatische Nichtunterscheidung sowie die | |
Auseinandersetzung mit dem „performative turn of the arts“ an der | |
Volksbühne zum Vorwurf des Neoliberalismus geführt habe, hinkt dagegen und | |
steht für ein generelles Dercon-Dilemma: Wenn er mit derselben | |
Selbstgewissheit analytisch Durchdachtes und oberflächlich Kombiniertes | |
präsentiert, macht ihn das nicht nur streitbar, sondern zuweilen auch | |
unglaubwürdig. | |
Anders Bianca van der Schoot, die neben Armando Punzo die handwerkliche | |
Seite des Theatermachens vertritt. In ihren eher tastenden Beiträgen | |
spricht sie über das Einüben einer durchlässigen Präsenz: anwesend zu sein, | |
um gleichzeitig Platz zu machen, den Menschen beiseitestellen, um mit dem | |
Menschen einen Schritt weiter zu kommen. Nicht weniger evolutionäre Ziele | |
verfolgt Punzo: Einen „Homo phoenix“ wünscht er sich. Immer wieder wirft | |
Dercon daher den Blick ins belgische Gent, wo ein Team um den Regisseur | |
Milo Rau im Frühling dieses Jahres als Punkt eins seines Theatermanifests | |
formulierte: „Es geht nicht mehr nur darum, die Welt darzustellen. Es geht | |
darum, sie zu verändern. Nicht die Darstellung des Realen ist das Ziel, | |
sondern dass die Darstellung selbst real wird.“ | |
Theater als Labor für Transformation, als postperformativer Ausweg aus | |
einer nicht präsenten, sondern „allgegenwärtigen monströsen | |
Performativität“ (Dercon)? Wie geht das? Welche Art von Übung braucht das?, | |
fragt sich die Runde. Wie agieren, wenn sowohl Realität als auch Fiktion | |
unbrauchbare Konzepte geworden sind? Mit Bezug auf die arabischen | |
Revolutionen und den Soziologen Jeffrey Alexander wird eine „useful | |
fiction“ ins Feld geführt, jedoch nicht gegen Ideologien abgegrenzt. Um | |
überhaupt wieder einen Begriff von Realität zu bekommen, empfiehlt Punzo | |
schließlich seine langjährige Wirkungsstätte: das Gefängnis. | |
Wie aber, das Gefängnis als Metapher genommen, verantwortliche*r Akteur*in | |
in einem unfreien Umfeld sein? Welche Art von Institution erlaubt den „Homo | |
phoenix“? Hier steht zunächst Dercon gegen Sztarbowski: Der eine will neu | |
gegründete Institutionen wie das postdisziplinäre New Yorker The Shed, ein | |
Milliardenprojekt, der andere sucht nach Werkzeugen, um Institutionen | |
wandelfähig und flexibler zu gestalten, und warnt: „Neue Institutionen | |
werden sehr schnell die alten.“ Im Warschauer Fall war ein Neubeginn | |
allerdings nur durch eine nahezu komplette Auswechslung des Personals | |
möglich, eine Situation, die Dercon mit Nietzsche paraphrasiert: „Without | |
hell no feast.“ Eine Situation jedoch, die, wie er hinzufügt, an der | |
Berliner Volksbühne undenkbar gewesen sei: „Sie können nicht 250 Leute | |
entlassen.“ | |
## Postdisziplinäre Institutionen | |
Ob das von Dercon herbeizitierte Shed, das sich bei der einflussreichen | |
Kunsthistorikerin Dorothea von Hantelmann ein Manifest über den Ritualort | |
des 21. Jahrhunderts einkaufte, die Alternative ist, kann ebenso bezweifelt | |
werden. Lassen sich postdisziplinäre Institutionen mit Anspruch auf eine | |
neue, nicht sektionierte, nicht in ideologische Lager gespaltene | |
Weltordnung des Miteinanders durch einen repräsentativen Gestus des | |
Größer-wichtiger-sichtbarer aus der Taufe heben? Lassen sie sich verordnen | |
und mit Direktor*innen versehen? | |
Dass in dieser Hinsicht der Berliner Versuch eher Abschreckungsbeispiel als | |
role model war, kommt nicht zur Sprache. Dennoch ist die Angriffsscheu | |
vielleicht weniger Schwäche als Ausdruck eines gemeinsamen Wunsches: Im | |
aktuellen politischen Klima sei das Theater in Ländern wie Polen bereits | |
ein Asylum. [1][Selbst Dercon, dem die Volksbühne alles andere als ein | |
Zufluchtsort gewesen sein dürfte], fordert in diesem Sinn einen safe space. | |
Im Gegensatz zum Museum müsse sich das Theater nicht darum kümmern, Objekte | |
zu präservieren, meint van der Schoot: „Im Theater haben wir nur einen | |
Raum. Lasst uns den erhalten.“ Und, vielleicht durchaus mit Seitenblick auf | |
die Volksbühne: „We have to stay with the trouble.“ Vielleicht aber sind | |
manche Fronten nur mit einer Ethik des Scheiterns zu brechen. Die epische | |
Schlacht, so das Gefühl in Venedig, endet nicht mit Dercon, sie hat gerade | |
erst begonnen. | |
27 Jul 2018 | |
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[1] /Volksbuehne-Berlin-nach-Chris-Dercon/!5514104 | |
## AUTOREN | |
Astrid Kaminski | |
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