# taz.de -- Alternatives Leben in Spanien: Das Dorf, das es nicht geben darf | |
> In der spanischen Provinz haben Aussteiger eine verlassene Siedlung zu | |
> neuem Leben erweckt. Nun sollen sie fort – und auch noch den Abriss | |
> bezahlen. | |
Bild: „Weg vom Kapitalismus“: die Bewohner von Fraguas vor ihrem Gemeinscha… | |
Faraguas taz | Der Schnee des vergangenen Winters hat ganze Arbeit | |
geleistet. Die Last hat Sträucher und Bäume geknickt. Zu sechst ziehen sie | |
los, mit Motorsäge, Axt, Sichel, Heckenscheren. „Den Pfad zur Quelle | |
säubern“, sagt Isabel Turina. Die 30-Jährige ist eine von 15 jungen | |
Menschen, die derzeit dort leben, wo eine Rohrleitung das Quellwasser | |
hinbringt, in Fraguas, einem kleinen Ort 120 Kilometer nordöstlich der | |
spanischen Hauptstadt Madrid, am Fuße der Sierra Norte in der Provinz | |
Guadalajara. | |
Seit 1968 war das Dorf verlassen und vergessen. „Bis wir vor fünf Jahren | |
kamen und mit dem Wiederaufbau begannen“, berichtet Turina, während sie die | |
Vegetation links und rechts stutzt. „Selbstbestimmt und gemeinschaftlich | |
leben“ weit weg „von den kapitalistischen Marktmechanismen“, das sei ihr | |
Ziel. „Wir beschließen alles auf Versammlungen; so auch, wer wann was | |
arbeitet“, sagt Turina. Die junge Frau, die ein Pädagogikstudium | |
abgebrochen hat, gehört zu den sechs, die ständig in Fraguas leben. Der | |
Rest sind Unterstützer von außen. Sie kommen für Wochen oder Monate, | |
entscheiden und arbeiten gleichberechtigt mit, bevor sie wieder | |
weiterziehen. | |
„Das Projekt funktioniert, wäre da nicht dieses Gerichtsverfahren“, sagt | |
Turina, die in Madrid aufgewachsen ist. Die Regierung der | |
zentralspanischen Region Castilla-La Mancha, zu der Fraguas gehört, | |
prozessiert gegen sechs von ihnen – darunter auch Isabel Turina. An diesem | |
Freitag müssen sie erstmals zum richterlichen Verhör. „Die | |
Staatsanwaltschaft fordert für die unrechtmäßige Aneignung vier Monate Haft | |
und 600 Euro Bußgeld. Hinzu sollen zwei Jahre Haft und 2.250 Euro Strafe | |
kommen, weil wir bauen, wo es nicht erlaubt ist“, sagt Turina. Und | |
obendrein soll die Gruppe knapp 27.000 bezahlen, damit alles dem Erdboden | |
gleichgemacht werden kann, was sie mühsam aufgebaut haben. | |
Das Gebiet rund um Fraguas gehört dem Staat. Den Besetzern war von Beginn | |
an klar, auf was sie sich da einlassen. Sie wollten ein Gelände, das keine | |
Privatbesitzer hat. Die Verhältnisse seien damit einfach klarer, begründen | |
sie das. Turina ist ein paar Jahre lang mit ihrem zum Wohnmobil umgebauten | |
Lieferwagen durch Europa getourt, hat danach in einem besetzten Haus in | |
Madrid gewohnt und dann in verschiedenen Landprojekten mitgearbeitet. Sechs | |
Jahre ist es jetzt her, da zog sie mit einigen Gleichgesinnten und einer | |
Liste verlassener Dörfer unter dem Arm durch Zentralspanien. „Fraguas | |
gefiel uns sofort“, erinnert sie sich. Die Quellen am Berghang, die | |
Orientierung nach Süden, der verlassene Olivenhain, die Obstbäume und das | |
Ackerland, „der Ort war einfach perfekt“. Noch im selben Sommer kamen | |
Turina und neun weitere Siedler, wie sie sich nennen, und begannen mit dem | |
Wiederaufbau. | |
## Das Dorf ist kein Dorf mehr | |
„Fraguas ist kein Dorf mehr“, begründet der Verantwortliche für die Provi… | |
Guadalajara, Alberto Rojo, warum die Regionalregierung klagt. Fraguas wurde | |
1968 zu bewaldetem Gebiet erklärt, die Einwohner wurden gedrängt, den Ort | |
zu verlassen, und bekamen eine kleine Entschädigung. Es waren die Jahre der | |
Diktatur unter General Francisco Franco. Widerspruch war nicht nur zwecklos | |
sondern auch gefährlich. Große Teile der Ländereien rund um das Dorf wurden | |
mit Fichten aufgeforstet. In den 1980er Jahren – nach dem Ende der Diktatur | |
– wurde das Gelände dann zeitweise für Militärübungen genutzt. | |
„Mit Granaten und Mörsern legten sie alles in Schutt und Asche“, berichtet | |
Turina. „Fraguas war ein Dorf, warum soll es nicht wieder ein Dorf sein?“ | |
Trümmer und Steine von Brombeerhecken überwuchert zeigen, wo einst die | |
Häuser standen. Im ersten Sommer haben sie das Gemeinschaftsgebäude | |
aufgebaut. Dabei benutzen sie traditionelle Materialien: Natursteine aus | |
den Trümmern, luftgetrocknete Backsteine aus Lehm und Stroh, Mörtel, Holz. | |
Das Haus beherbergt die Küche, Platz zum Essen und für Vollversammlungen. | |
„Anfänglich schliefen wir auch hier“, erinnert sich Mallada. Jetzt | |
beherbergen sie hier nur noch Besucher. Die festen Bewohner haben ihre | |
eigenen Unterkünfte errichtet, entweder aus Naturstein oder, wie Mallada | |
und Turina, aus Holz. Und viele derer, die zeitweise hier sind, leben in | |
Lieferwagen. | |
Gleich neben dem Gemeinschaftshaus stehen die Bäder und das | |
Lebensmittellager. Gegenüber liegt ein großes Gebäude mit Werkstätten für | |
Metall- und Holzbearbeitung. Sogar eine Anlage zum Brauen von Bier befindet | |
sich hier. Der Strom für Fraguas stammt aus einer Solaranlage. Rund um den | |
Ort haben sie zugewucherte Olivenhaine und Streuobstwiesen freigelegt, | |
pflanzen Gemüse an, halten Hühner und Gänse. | |
## Ökoproduktion und Naturpark? Unvereinbar! | |
Ein Großteil der Produktion ist für den Eigenbedarf. Was übrig bleibt, wird | |
zu Konserven und Marmelade verarbeitet und an Konsumentengruppen für | |
ökologische Produkte meist in Madrid verkauft. Außerdem pflegen sie | |
Tauschhandel mit anderen Landprojekten. Mit einem halben Dutzend besetzter | |
Dörfer stehen die Bewohner von Fraguas in Verbindung. | |
„Diese Aktivitäten sind mit einem Naturschutzpark nicht vereinbar“, erklä… | |
Alberto Rojo, der Mann der Regionalregierung. Die neuen Bewohner wollen das | |
nicht gelten lassen. „Trotz Naturparks ist es weiterhin erlaubt, | |
Militärübungen abzuhalten, auch wenn die Armee dies derzeit nicht tut“, | |
beschwert sich Juan Carlos Mallada. Der 32-Jährige ist wie Turina Bewohner | |
der ersten Stunde. | |
Der 32-jährige Mallada ist der Einzige hier, der das Landleben von Kind auf | |
kennt. Er kommt aus einem 2.500-Seelen-Ort im nordspanischen Huesca. Seine | |
Eltern sind Landwirte. Mallada hat eine Elektrikerausbildung gemacht. Warum | |
er nicht bei sich im Dorf geblieben ist? „Hier kann ich leben und arbeiten | |
wie ich will“, sagt er. „Alternative und ökologische Anbaumethoden | |
ausprobieren. Damit brauchst du bei mir zu Hause gar nicht erst | |
anzukommen.“ Und natürlich „ein anderes, selbstbestimmtes und | |
gleichberechtigtes Leben führen.“„Ich hätte gerne auch Ziegen, doch das i… | |
viel Arbeit und dazu brauchen wir eine größere Gruppe ständiger Bewohner“, | |
sagt Mallada. | |
Anwärter gibt es. Isa Izquierdo ist eine davon. Die 23-Jährige aus El | |
Toboso – dem Dorf von Don Quijotes Dulcinea – arbeitet seit drei Jahren | |
jeden Sommer in der Obst- und Weinernte in Südfrankreich. Den Rest des | |
Jahres reist sie mit „einem Kollegen“, wie sie sagt, in ihrem zum Wohnmobil | |
umgebauten Lieferwagen durch die Gegend. Ein Studium oder eine | |
Berufsausbildung hat sie nicht. „Wir haben viele Projekte besucht und haben | |
Lust, sesshaft zu werden“, sagt Izquierdo. Die Rumreiserei sei letztendlich | |
nur „ein Placebo“. | |
Jetzt will sie Teil eines „langfristigen Projekts“ werden. Sie hat das | |
schon einmal versucht und lebte in einem besetzten Sozialzentrum in | |
Amsterdam, wo sie Theater spielte. „Doch das war nichts für mich“, erinnert | |
sich Izquierdo. Sie sei einfach nicht für große Städte geschaffen. | |
## Der Traum vom Leben in Freiheit | |
Von Fraguas verspricht sie sich „ein Leben in Freiheit“. Ihr geht es um | |
„Gemeinschaft, um gemeinsame Verantwortung“, sagt sie. Fraguas sei Leben | |
ohne Hierarchie; ein Projekt, in dem alle Entscheidungen kollektiv gefällt | |
und alle Konflikte gemeinsam diskutiert würden. „Was hier geschaffen wird, | |
gehört niemandem. Es ist für die gesellschaftliche Nutzung“, sagt sie. Wer | |
geht, lässt das Geschaffene für die kommenden Bewohner zurück. | |
All das gilt natürlich nur, wenn sie nicht geräumt werden. Und dies wird | |
immer wahrscheinlicher. Denn die Regionalregierung möchte die Klage nicht | |
zurücknehmen. „Wir können doch nicht einfach wegschauen, wenn da Leute im | |
Wald leben“, sagt Rojo. An Unterstützern fehlt es den jungen Leuten in | |
Fraguas nicht. Über 66.000 haben online eine Petition gegen die Räumung | |
unterschrieben. | |
Immer wieder bekommen sie Besuch von Umweltgruppen. Jäger bringen Fleisch | |
vorbei, Menschen aus den umliegende Orten spenden Baumaterial. „Selbst | |
ehemalige Kriegsdienstleistende, die einst hier an Militärmanövern | |
teilgenommen haben, besuchten uns schon“, berichten Turina und Mallada. | |
Auch die ehemaligen Einwohner Fraguas stehen hinter ihnen. Sie kommen | |
häufig vorbei, um ihre Familiengräber auf dem Friedhof am Berghang zu | |
besuchen. Die neuen Bewohner haben das Tor repariert und das Unkraut | |
zwischen den Gräbern gejätet. So etwas schafft Sympathie. | |
## Gehöriger Respekt und verdiente Zuneigung | |
Die Regionalregierung würde, so erklärt Rojo, die jungen Menschen gerne | |
umsiedeln. „Wir würden den Leuten von Fraguas gerne Gemeinden vorstellen, | |
die unter Entvölkerung leiden und froh wären, junge Menschen aufzunehmen“, | |
sagt er. Doch die Bewohner von Fraguas wollen davon nichts wissen. „Als wir | |
hierher kamen, boten sie uns nichts an“, erinnert sich Juan Carlos Mallada | |
an ihren Besuch bei den Behörden vor fünf Jahren. Und jetzt wollen sie | |
nicht mehr gehen. Zu viel Arbeit haben sie bereits investiert. | |
Wenn Turina und Mallada alles zu viel wird, nehmen sie ein ganz besonderes | |
Buch aus dem Regal im Gemeinschaftshaus. Es ist die Geschichte Fraguas. Ein | |
ehemaliger Bewohner hat es handschriftlich verfasst und ihnen gewidmet: | |
„Mal sehen, ob ihr die Geschichte dieses Ortes wieder aufleben lasst, | |
obwohl einige militärische und religiöse Institutionen versucht haben, sie | |
zu zerstören“, steht da zu lesen. Und weiter: „Ich möchte euch bitten, | |
diese Steine, die heute tot sind und unter Gestrüpp und Unkraut ruhen, mit | |
dem gehörigen Respekt und der verdienten Zuneigung zu behandeln. In anderen | |
Zeiten lebten sie und waren Teil der Geschichte dieser Menschen, die so | |
sehr für das Leben gekämpft haben und so viele Schwierigkeiten erleiden | |
mussten“, steht da zu lesen. | |
24 May 2018 | |
## AUTOREN | |
Reiner Wandler | |
## TAGS | |
Spanien | |
Besetzung | |
Schwerpunkt Bio-Landwirtschaft | |
Charlotte Roche | |
Spanien | |
Hausbesetzung | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Debatte Stadtflucht von Charlotte Roche: Rehe stinken | |
Klar, wir brauchen den Rückzug als Ausgleich. Doch Menschen, die was | |
verändern wollen, ziehen in die Stadt, den idealen Ort zum Handeln. | |
Podemos-Problem Glaubwürdigkeit: Spaniens Linke und der Luxus | |
Zwei Amtsträger von Podemos, die eine Villa gekauft haben, sorgen für | |
Diskussionen. Jetzt soll die Basis sagen, ob sie in ihren Ämtern bleiben | |
dürfen. | |
Hausbesetzungen in Berlin: Nach wenigen Stunden geräumt | |
Eine Einigung um das besetzte Haus in Neukölln schien schon zum Greifen | |
nah. Dann verlor der Geschäftsführer der Wohnungsfirma die Nerven. |