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# taz.de -- Vom Leben mit unheilbar Erkrankten: „Unser Glück wohnt noch bei …
> Ein Elternpaar erfährt, dass seine Kinder eine seltene Erkrankung haben.
> Sie werden nach und nach alles verlernen. Wie damit umgehen?
Bild: Seit zwei Jahren weiß die Familie: Nils und Ole haben Friedreich-Ataxie
Hamburg taz | Manchmal steht Nils morgens zitternd im Flur und kann einfach
nicht los. Der Schultag liegt vor ihm, ihm fehlt die Kraft. Früher hatte
Nils gute Noten, jetzt kommt er im Unterricht manchmal nicht mehr mit. Beim
Lesen springen seine Augen in der Zeile. Das Schreiben fällt ihm schwer,
er kann die Bewegungen seiner Hände nicht immer kontrollieren. Mittags in
der Mensa, wenn Nils sein Tablett trägt, hat er Angst. Was, wenn ihm alles
herunterfällt? Nils, ein sanfter 13-Jähriger, dem die dunkelblonden Haare
tief in die Stirn hängen, will nicht als Trottel dastehen. Aber auch nicht
als Behinderter, dem die anderen helfen müssen.
Schon der Weg zur Schule: Der Rucksack ist Nils inzwischen zu schwer. Er
zieht einen Rollkoffer hinter sich her. Das ist ihm unangenehm, keiner
sonst hat so ein Ding.
Wenn Nils morgens der Mut verlässt, redet sein Vater mit ihm. Dass es gut
ist, weiter zur Schule zu gehen. Dass er es schaffen wird. Manchmal dauert
das Stunden. Häufig macht sich Nils dann doch auf den Weg. In letzter Zeit
bleibt er immer öfter zu Hause.
Nils und sein kleiner Bruder Ole, 10, haben eine seltene genetische
Erkrankung, die Friedreich-Ataxie. Ihr Körper produziert zu wenig Frataxin,
ein Protein, das wichtig ist, um die Zellen intakt zu halten. Das
Rückenmark verändert sich. Betroffene können ihre Bewegungen immer
schlechter steuern, sie werden schwächer. Die Krankheit geht auch aufs
Herz. Findet sich keine wirksame Therapie, dann werden Nils und Ole mit der
Zeit alles verlernen: Laufen. Schreiben. Sprechen. Sehen. Schlucken. Im
Schnitt sitzen Betroffene zehn Jahre nach der Diagnose im Rollstuhl,
weitere zehn bis zwanzig Jahre später sterben sie. Es kann länger dauern,
es kann auch deutlich schneller gehen. Bislang ist die Krankheit unheilbar.
## Begleiten bis zum Tod
Kinder leben im Jetzt. Aber sie sind immer auch Zukunft, Verheißung. Vieles
steht ihnen offen. Sie wollen lernen, wachsen, die Welt entdecken. Eltern
versuchen, sie dabei zu unterstützen, damit sie später allein klarkommen.
Aber was, wenn sich alles ins Gegenteil verkehrt? Wenn es statt ums Lernen
und Loslassen ums Begleiten geht, irgendwann um Pflege bis zum Tod? Wie
kann eine Familie mit diesem Wissen leben?
Ein Montagnachmittag im Frühjahr. Vor dem Fenster der Hamburger Mietwohnung
rauscht der Verkehr vorbei. Drinnen, am Holztisch in der Küche, erzählen
die Fiedlers ihre Geschichte. Die Fiedlers, das sind Mutter Christine,
Vater Uwe, Nils und Ole. In Wirklichkeit heißen sie anders. Sie lassen sich
fotografieren, wollen aber nicht, dass jeder beim ersten Googeln von ihrer
Situation erfährt.
Tulpen auf dem Fensterbrett, neue Regale, ein altes Küchenbuffet, die
Fiedlers haben sich gemütlich eingerichtet. Christine, eine große
Dunkelhaarige, plaudert ein bisschen zum Warmwerden. Dann berichtet sie
klar und offen von den Ereignissen der vergangenen zwei Jahre. Christine
hat kein Problem damit, wenn ihr dabei die Tränen kommen. Uwe, in
St.-Pauli-Shirt und mit schwarzer Brille, hält sich stärker zurück, doch im
Laufe des Abends wird auch er erzählen, offen und reflektiert.
## Herzgeräusch
Man könnte meinen, eine Geschichte wie die der Fiedlers könnte nur
bedrückend sein. Doch es gibt auch die schönen Momente. An diesem Abend und
in ihrem Alltag.
Im Frühling 2016 weiß die Familie noch nichts von der Krankheit. Die
Fiedlers sind vor ein paar Monaten von London nach Hamburg zurückgezogen.
Uwe arbeitet für ein internationales Ölunternehmen, die letzten drei Jahre
in Großbritannien. Christine hat gerade mit einer Bekannten eine eigene
Firma für Online-Marktforschung gegründet. Das macht ihr Spaß, bedeutet
aber auch Überstunden und Stress.
Nils, zu dieser Zeit 11 Jahre alt, ist aufs Gymnasium gewechselt. Er
diskutiert gern alles aus. Nils schreibt auch in der neuen Schule gute
Noten und spielt in den Pausen mit den anderen Kindern. Trotzdem vermisst
er seine Freunde in London. Bei Ole ist es umgekehrt: Viele
Klassenkameraden wollen sich nachmittags mit ihm verabreden. Im Unterricht
ist er verträumt, er schreibt langsam. Ole hat ADS, das
Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom. Dass andere besser sind als er, stört ihn
nicht, Ehrgeiz ist ihm fremd.
Die Familie findet sich gerade wieder in den Hamburger Alltag ein. Da hört
der Kinderarzt bei einer Vorsorgeuntersuchung von Nils ein Herzgeräusch.
Auch seine Bewegungen seien auffällig, sagt der Arzt. Er schickt die
Fiedlers zum Kardiologen. Der stellt eine verdickte Herzmuskelwand fest.
Ungewöhnlich. Im Universtätsklinikum Eppendorf ordnet die Kinderneurologin
einen Gentest an. Sie hat einen Verdacht: die Friedreich-Ataxie.
Christine googelt noch in der Klinik. Bei Wikipedia steht, das sei eine
degenerative Erkrankung des zentralen Nervensystems. „Erste Symptome zeigen
sich meist vor dem 25. Lebensjahr. Die Krankheit verläuft progredient“ –
also fortschreitend.
Sechs Wochen später kommt das Ergebnis des Gentests. In der Klinik sagt die
Kinderneurologin: „Ich muss den Verdacht leider bestätigen.“
## Wie in Zeitlupe
Christine und Uwe verlassen die Klinik. Es ist ein warmer Junitag, die
Kinder haben noch Schule. Sie steigen auf ihre Räder und fahren einfach
los, kreuz und quer durch Hamburg. Bitte, bitte, bitte, lieber Gott, das
kann nicht sein, denkt Christine. An der Alster gehen Menschen spazieren,
essen Eis. Eine gebräunte ältere Dame mit Perlenkette trinkt mit einem
jüngeren Mann einen Kaffee. Christine nimmt all das überdeutlich wahr, wie
in Zeitlupe. Sie sieht sich selbst von oben, mitten in diesem sommerlichen
Treiben. So erzählt sie es später. Damals denkt sie: Die Sonne scheint,
aber nicht für uns.
Im Park liegen sich die Eltern in den Armen. Es ist das erste Mal, dass
Christine ihren Mann weinen sieht.
Als Christine am Küchentisch vom Tag der Diagnose berichtet, wird ihre
Stimme dünn. Doch sie redet weiter. Sie will die Krankheit, die kaum jemand
kennt, in die Öffentlichkeit bringen.
## „Uns kann nichts passieren“
Die Friedreich-Ataxie ist sehr selten. In Mitteleuropa ist ungefähr einer
von 50.000 Menschen betroffen. In Deutschland leben um die 1.600 Personen
mit der Krankheit. Nur wenn bei beiden Elternteilen ein bestimmtes Gen
verändert ist, kann sie auftreten.
Wie bei Uwe und Christine. Die Wahrscheinlichkeit, dass eines ihrer Kinder
die Friedreich-Ataxie hat, liegt bei 25 Prozent. Ein halbes Jahr später
erfahren sie: Auch Ole ist betroffen.
Vielleicht hätte man etwas ahnen können. Im Nachhinein fallen den Eltern
Dinge ein. Warum die Kinder sich immer so sträubten, mit dem Rad die
wenigen Kilometer zur Schule zu fahren. Oder dass Nils beim Fußball schon
länger lieber in der Abwehr spielte, weil er da nicht so viel rennen
musste.
Aber wer denkt schon an so etwas? Christine sagt: „Ich war mir immer
sicher, uns kann nichts passieren.“ Dieses Grundvertrauen zerspringt im
Sommer 2016.
## Regungslos weinen
Die Diagnose ändert alles für die Familie. Jeden Morgen, wenn Christine
wach wird, trifft sie nach wenigen Sekunden die Erkenntnis: Nein, es war
kein böser Traum, es ist wahr. Meine Kinder sind krank. Sie weint viel, oft
mehrere Stunden am Tag. Die Trauer fordert ihren Raum. Das Weinen gehört
bald zu Christines Tagen wie das Zähneputzen. Sie lernt, dass sie selbst in
der U-Bahn weinen kann, ohne dass es jemand merkt. Man darf nur nicht das
Gesicht verziehen, dann sieht es aus wie eine Bindehautentzündung.
Die Angst schnürt ihr die Luft ab, hindert sie am Schlucken. Sie lässt von
einem Arzt ihren Kehlkopf untersuchen, er findet nichts.
In anderen Momenten erfasst Christine eine große Wut. Aber auf wen soll sie
wütend sein? Sie fühlt sich in dieser Zeit, als zerfalle sie in
verschiedene Christines. Ein Teil trauert. Ein Teil ist wütend. Und ein
Teil glaubt immer noch, sich verhört zu haben.
Sie redet mit Freunden über ihre Gefühle, mit der Familie. Das hilft etwas.
## Schuldgefühle
Uwe zieht sich zurück, wenn es ihm schlecht geht. Er versucht, möglichst
wenig an die Krankheit zu denken. Das klappt tagsüber im Büro ganz gut.
Aber er ist unausgeglichen, fährt Kollegen auch mal grundlos an. Er hat
Schuldgefühle. „Es sind doch meine Gene. Es ist ein Scheißgefühl, dafür
verantwortlich zu sein, dass die eigenen Kinder krank sind.“ Uwe sagt das
ganz ruhig, inzwischen hat er Abstand dazu. Und doch schwingt die
Bitterkeit noch immer mit.
Uwe versteht nicht, wie Christine nach der Diagnose mit so vielen Menschen
über die Krankheit reden kann. Christine versteht nicht, warum Uwe sich so
verschließt. Sie brauchen sich mehr denn je und sind sich gleichzeitig
fremd.
Neben all dem funktionieren sie. Sie halten den Familienalltag am Laufen.
Sie bringen die Jungen zur Physiotherapie, vereinbaren Arzttermine, drücken
Vitaminpillen in Eierbecher.
Nils will bei dem Gespräch an diesem Montag im Frühjahr dabei sein,
zumindest teilweise. Er sitzt am Kopf des Küchentischs, das Bein
aufgestellt, und erzählt mit heller Stimme von der Krankheit. Er redet
langsam, als strenge ihn das Sprechen an. Er sagt: „Ich will einfach so
sein wie alle anderen.“
Nils weiß sehr bald, was los ist. Nach der Diagnose schaut er im Internet
nach, was Friedreich-Ataxie bedeutet. Er spricht nicht darüber. Aber seine
Eltern sind sich sicher: Ihm ist sehr klar, was auf ihn zukommt. Als er
sich beim Fahrradfahren unsicher zu fühlen beginnt, lässt er es sofort
sein. Früher hat er Klavier gespielt, gestrickt, Bügelperlenbilder
gesteckt. Nun sagt er: „Ich kann das nicht mehr.“ Und rührt die Sachen
nicht mehr an.
Die Diagnose vereinfacht auch manches. Beim Judo musste Nils früher immer
zum Aufwärmen eine halbe Stunde im Kreis laufen. Wenn er nicht mehr konnte,
sagte der Trainer: „Streng dich an, du sollst doch ein Vorbild sein für die
Kleinen.“ Nils, der immer alles richtig machen will, hat das getroffen. Zum
Judo muss er nun nicht mehr.
## Zwischen den Kindern
Ole, blond, schlaksig und fast genauso groß wie sein Bruder, hat dieses
Problem nicht. Dass er sich nicht mit anderen vergleicht, dass er niemandem
besonders gefallen will, hilft ihm jetzt. Manchmal wirkt er wie der
Stabilste in der Familie.
Eine Unterhaltung zwischen Nils und Ole, an die sich die Eltern erinnern:
„Ole, du hast auch Friedreich-Ataxie. Macht dir das denn nichts aus?“
„Ob ich ADS habe oder Friedreich-Ataxie, ist doch egal.“
„Ole, wir werden irgendwann im Rollstuhl sitzen.“
„Na und? Hauptsache, er ist schnell.“
## Verletzende Sätze
Freunde der Familie kümmern sich um sie. Sie schreiben Karten und rufen an.
Sie gründen einen Verein, um Spenden zu sammeln. Damit unterstützen sie
Forschungsprojekte und betroffene Familien finanziell. Christine sagt:
„Diese Solidarität, die trägt mich.“
Es gibt aber auch Sätze, die verletzen. Wenn die Nachbarin erklärt, das
Schicksal suche sich für so etwas starke Eltern aus, sie hätten sich ja
schon immer so toll um die Jungen gekümmert. Das ist nett gemeint. Aber
Christine und Uwe macht es wütend. Hätten sie etwa schlechtere Eltern sein
sollen? Jede Art von Kausalität können sie nicht akzeptieren. Denn das
hieße ja, sie hätten etwas tun können, um die Krankheit zu verhindern.
Einmal sagt eine Bekannte von Christine, mit so einer Diagnose könne man
nicht mehr glücklich sein. „Weißt du, was du da sagst?“, fragt Christine.
„Du sprichst mir für immer mein Glück ab.“
Anders als Uwe liest Christine alles über die Krankheit. Sie vernetzt sich,
wird aufgenommen in ein geschlossenes Forum im Internet, in dem sich
betroffene Familien über die Friedreich-Ataxie austauschen. „Sie sind die
Einzigen, die unsere Lage wirklich nachvollziehen können. Durch sie fühle
ich mich weniger allein“, sagt Christine. Die Mitglieder der Gruppe teilen
ihre Verzweiflung, aber sie machen sich auch Mut oder tauschen Erfahrungen
mit Medikamenten aus. Im Nachhinein erfahren die Fiedlers, dass sie
zumindest mit den Ärzten Glück gehabt haben. Viele Betroffene brauchen
Jahre, bis einer die Krankheit überhaupt erkennt. Das bedeutet unzählige
Arztbesuche, die zu nichts führen. Eine zermürbende Ungewissheit, teils
jahrelang.
## Christines Strategie
Manchmal grübelt Christine, wie ihre Kinder die Zukunft meistern sollen.
Dann sieht sie Nils und Ole, wie sie gerade über X-Men-Figuren diskutieren.
Und denkt: Wie bescheuert bin ich eigentlich? Ich sorge mich, dabei haben
die Kinder gerade voll den Spaß.
Solche Situationen gibt es öfter. Ein halbes Jahr nach der Diagnose, Anfang
2017, beginnt Christine, einen Blog zu schreiben, den bald zwischen 500 und
1.000 Menschen im Monat lesen. Sie schildert dort den Alltag der Familie.
Sie formuliert so etwas wie eine Strategie, mit der Krankheit umzugehen –
und definiert, was ihr dabei hilft:
„1. Die Erkenntnis, dass niemand sich so eine Diagnose aussucht. Sie ist
einfach da. Niemand hat sie verdient und niemand trägt Schuld daran.
2. Wir müssen Abschied nehmen, von vielen Dingen, die wir uns erhofft haben
für unsere Kinder.
3. Wir haben (wie alle Eltern) die tollsten, wunderbarsten und süßesten
Kinder der Welt.
4. Wir haben jeden Tag aufs Neue die Chance, diesen Tag zu einem
bestmöglichen Tag zu machen.“
Das wird nun Christines Ziel: Im Rahmen des Möglichen glücklich zu sein.
Zum Beispiel im Urlaub in Portugal, im Frühjahr 2017. Ole und Nils
schmeißen sich in die Wellen. Für Nils ist es inzwischen schwer, stehen zu
bleiben, wenn das Meer sich zurückzieht. Dann strauchelt er. Spaß hat er
trotzdem. Ole ist kaum zu halten, so gern stürzt er sich ins Wasser. „Kurz
mal nicht nachgedacht, zack, glücklich“, schreibt Christine im Blog.
An Ostern sind sie zu Besuch bei den Großeltern, die kümmern sich um die
Enkel und kochen. Christine und Uwe liegen auf dem Sofa rum. Sie sammeln
Schokoladeneier, gehen spazieren, reden über unwichtiges Zeug. Wenn sich
die Kinder streiten, motzen die Eltern. Ganz normal. Schön.
Christine schreibt: „Bevor die Krankheit Friedreich-Ataxie in mein Leben
grätschte, hätte ich nicht vermutet, wie viel Glück und Trauer in ein und
denselben Tag passen. Ich hadere in den dunklen Momenten mit der Diagnose
meiner Kinder und bin zehn Minuten später unglaublich stolz auf sie oder
genieße einen schönen Moment. Glück misst sich nicht in der Abwesenheit von
Trauer. Auf jeden Fall nicht unser Glück.“
Früher fand Christine Kalendersprüche doof, kitschig, wer braucht schon so
etwas. Jetzt fällt ihr eine alte Karte in die Hand, von ihrer
Schwiegermutter. Darauf steht: „Nicht alle Träume werden wahr. Aber immer
kommt ein neuer Morgen und ein Vogel singt im Baum.“ Heute tröstet sie das.
Sie stellt die Karte ins Regal.
## „Scheiß drauf“
Die Krankheit verändert die Prioritäten, auch in der Erziehung. Die Kinder
dürfen jetzt mehr Computer spielen oder an der Playstation zocken als
früher. Da können sie wenigstens mal abschalten. Wenn sie abends ins Bett
müssen, es aber gerade so schön ist zu viert, sagen sich die Eltern:
„Scheiß drauf.“
Christine erzählt, dass sich die Kinder manchmal kloppen, mit Kissen und
Decken, und sie sitzt entspannt im Arbeitszimmer am Rechner. „Früher wäre
ich wahrscheinlich schon fünfmal eingeschritten, jetzt überlege ich, ob sie
deswegen an diesem Tag ihre Übungen für die Muskeln nicht mehr machen
müssen.“ Es freut sie, dass die Jungen stark genug sind, sich auf dem Boden
zu wälzen und wieder aufzustehen und dem anderen ein Kissen überzubraten.
Christine sagt: „In mancherlei Hinsicht ist mein Leben um einiges einfacher
geworden.“
Es gibt auch die anderen Momente. Die Familie beschreibt einen Tag im
Frühjahr 2017. Christine und die Kinder sind im Garten, sie üben
Elfmeterschießen. Nils ist Torwart, er schmeißt sich mal nach links, mal
nach rechts. Das strengt ihn an, aber es macht Spaß. Irgendwann ist er
erschöpft, er geht in den Flur, setzt sich auf die unterste Stufe der
Treppe. Er will jetzt in die Wohnung. „Aber ich bin einfach nicht mehr
hochgekommen“, erzählt Nils. „Ich konnte nicht aufstehen.“ Für Christine
ist er zu schwer, sie kann ihn nicht tragen. Sie warten ab. Nach einer
halben Stunde schafft Nils es schließlich doch hinauf.
## Das Herz hat es eilig
Oben misst ihm Christine den Puls. 150 Schläge pro Minute. 180. Nils’ Herz
hat es eilig. 200. 220. 250. Christine ruft den Krankenwagen. Nils ist
sauer, er will nicht, dass so viel Aufhebens um ihn gemacht wird. Im
Krankenhaus bekommt er einen Betablocker. Fünf Tage bleiben sie, damit das
Medikament richtig eingestellt werden kann. „So viel Zeit haben wir seit
Ewigkeiten nicht mehr miteinander verbracht“, schreibt Christine im Blog.
Sie spielen Spiele und surfen zusammen im Internet. „Es könnte wirklich
nett sein, wenn wir doch nur zum Spaß hier wären.“
Die Friedreich-Ataxie wurde erstmals 1863 von dem deutschen Neurologen
Nicolaus Friedreich beschrieben. Seit 1996 lässt sich die Krankheit per
Gentest eindeutig bestimmen. Dass die Friedreich-Ataxie so selten auftritt,
hat Folgen: Für die Pharmaindustrie ist es wenig interessant, an
Medikamenten zu forschen, zu gering wäre der Absatz. Auch öffentliche
Gelder fließen erst seit einiger Zeit in die Erforschung seltener
Erkrankungen. Noch vor zehn Jahre sah es düster aus, inzwischen tut sich
aber schon etwas. Seltene Erkrankungen wurden auch im Koalitionsvertrag
zwischen Union und SPD zumindest erwähnt.
„Es gibt in Europa einige kleinere Studien, um herauszufinden, ob
Wirkstoffe zugelassen werden können“, sagt Bart-Jan Schuman. Er ist der
Vorsitzende des Fördervereins zur Erforschung der Krankheit. Darüber haben
ihn die Fiedlers kennengelernt. Es passiere aber immer noch viel zu wenig,
sagt Schuman: „Wir haben es eilig. Wir müssen Zeit gewinnen für unsere
Kinder.“ Auch Schumans Tochter hat die Friedreich-Ataxie.
Die größte Hoffnung setzen betroffene Familien in Gentherapien. Wenn man
das betroffene Gen verändern könnte, wäre eine normalere
Frataxin-Produktion wieder möglich, sagt Schuman. Die Forschung daran
findet vor allem in den USA statt, aber auch in Frankreich. Dort ist es
gelungen, Mäuse mit Friedreich-Ataxie zu heilen. Ob die Methode jedoch auch
beim Menschen angewendet werden kann, ist völlig offen. Und selbst wenn,
würde es noch viele Jahre dauern, bis ein solches Verfahren zugelassen
wäre.
## Kampf um Normalität
Christine will nicht einfach nur abwarten, sie will etwas tun. Mit Freunden
organisiert sie im Juni 2017 einen Spendenlauf. Sie gehen zu Fuß von
Hamburg Richtung Ostsee. Für jeden zurückgelegten Kilometer bekommen sie
von Sponsoren Geld. Sie spenden es für Forschungsprojekte.
Heute, bald zwei Jahre nach der Diagnose, machen Nils die Symptome
zusehends zu schaffen. Wenn er über die Straße zur Bushaltestelle läuft,
beobachtet Christine ihn aus dem Küchenfenster und überlegt, ob er
schlechter geht als am Tag zuvor. Einmal versucht Nils, bei Grün schnell
noch über die Straße zu rennen. Er stürzt und rappelt sich hoch. Das Knie
ist verschrammt, in der Hose ein Loch.
Es ist schwer für Nils, nicht mehr wie früher der Starke zu sein, dem die
Dinge leicht von der Hand gehen. In der Schule aus der Reihe zu fallen,
weil er nicht mehr kann. Christine hat mit der Direktorin geredet, damit er
andere, passendere Aufgaben bekommt.
„Lassen Sie ihn auch mal zu Hause“, rät Nils’ Therapeutin den Eltern. Das
fällt Christine nicht leicht. Schule, das ist Alltag, Normalität. Dass
genau diese Normalität für Nils langsam zu anstrengend wird, dass müssen
auch die Eltern erst akzeptieren.
In der Küche bereiten Uwe und Christine das Abendessen vor. Nils geht ins
Wohnzimmer und stellt sich auf ein vibrierendes schwarzes Brett. Der
schmale Junge wird von den Füßen aufwärts durchgerüttelt. Das soll das
Gleichgewicht verbessern und die Muskelfunktionen steigern. Jeden Tag macht
Nils seine Übungen. „Ich habe aber nicht das Gefühl, dass es besser wird,
es wird nur schlechter. Dann hab ich auch keine Lust dazu“, sagt er.
Später, beim Abendessen. Ole, der kleine Bruder, ist eher unbekümmert.
Lego, Donald Duck, die alten Römer, das sind seine Themen, dem Gespräch der
Erwachsenen am Tisch folgt er nur mit einem Ohr. Er isst gerade den dritten
mit Käse und Schinken gefüllten Tortillafladen, da hebt er plötzlich den
Kopf. Er hat etwas aufgeschnappt. „Was, ich habe eine verkürzte
Lebenserwartung?“
Ole sieht seine Mutter fragend an. „Heißt das, dass ich kürzer Rente
kriege?“ Seine Mutter antwortet ruhig: „Vielleicht bekommst du auch schon
früher Rente.“ „Aber fünf Jahre lebe ich schon noch, oder?“ „Na klar,…
noch viel länger.“
Ole hört zu, kaut weiter. Dann lächelt er. „Sagt das eine Schwein zum
anderen: Ist doch wurscht, was aus uns wird.“ Er schiebt den Stuhl zurück
und läuft mit schlenkernden Armen in sein Zimmer.
## Bohrende Fragen
Anders als Ole denkt Nils oft über die Krankheit nach. Christine beschreibt
das im Blog: „Er stellt uns im Moment viele der Fragen, die wir uns selbst
nicht zu fragen trauen und die wir nicht beantworten können. Wie alt werde
ich? Was passiert mit mir? Wie schnell wird die Krankheit voranschreiten?“
Nils würde gern Lehrer werden. Jetzt fragt er: „Warum sollte ein
Arbeitgeber mich einstellen, wenn er einen gesunden, schnelleren Menschen
einstellen kann? Warum soll ich die Schule beenden, wenn ich vielleicht nie
werde arbeiten können?“ Christine schreibt: „An manchen Tagen bleiben mir
dann meine eigenen Motivationstiraden im Hals stecken, und wir nehmen uns
in den Arm und heulen.“
Insgesamt sind die Wut und Trauer der Eltern aber weniger geworden. Heute
weine sie vielleicht noch zehn Minuten am Tag, sagt Christine. Die
Krankheit hat für sie inzwischen eine gewisse Normalität. Christine
überlegt, wie sie das formulieren soll. Konzentriert und ruhig sagt sie:
„Wenn man davon ausgeht, dass das Leben schwer ist, dann ist diese Tatsache
nicht bedeutsam. Dann ist es einfach so.“
Ob man einen Tag als gut oder schlecht erlebt, hängt von den Erwartungen
ab. Nur so lassen sich auch schreckliche Umstände aushalten. Nur so kann
man sich trotz aller Widrigkeiten freuen.
Die Fiedlers können heute sogar über sich lachen. Einmal, schreibt
Christine im Blog, versucht sie, Oles Reißverschluss an der Jacke
zuzumachen und schafft es nicht gleich. Ole schwankt, auch er kann seine
Bewegungen nicht mehr ganz steuern. Sie sind spät dran. Christine schimpft:
„Kannst du mal bitte aufhören, hier so rumzuwackeln und einen Moment ruhig
stehen bleiben!“ Kurz wird es still. Dann lachen alle los.
Christine und Uwe sagen, sie haben ihre Unterschiede im Umgang mit der
Krankheit schätzen gelernt. Uwe, der Geduldige, Christine, die Aktive. Alle
Worte über die Friedreich-Ataxie sind zwischen ihnen gesagt. Als Christine
vor Kurzem eine halbe Stunde weinen musste, hat Uwe sie einfach nur
gehalten, schweigend. „Genetisch mögen wir überhaupt nicht zusammenpassen,
aber unsere Loyalität ist heute größer als vorher“, sagt Christine.
## Erinnerungen sammeln
Am späten Montagabend in der Küche. Die Tortillareste sind weggeräumt, die
Kinder im Bett. Die Eltern haben sich einen Weißwein geöffnet. Uwe schaut
seine Frau an. „Du hast wirklich Hoffnung, dass sie irgendwann ein
Medikament finden, oder?“ Christine nickt. Vor der Zeit im Rollstuhl habe
sie nicht so Angst, sagt sie. „Aber wenn man das ganz zu Ende denkt, das
ist ein Szenario … Das darf nicht sein. Es muss etwas gefunden werden.“ Sie
wischt sich ein paar Tränen weg. Uwe sagt: „Und ich habe Angst, auf so
etwas zu hoffen. Wenn sie dann nichts finden, könnte ich es nicht
ertragen.“
Wäre es leichter, sie alle würden bei einem Unfall das Leben verlieren, als
die Einschränkungen der Kinder nach und nach erleben zu müssen? Solche
Fragen haben sie sich zu Beginn gestellt. „Nein“, sagt Uwe heute. „Was wir
den Kindern geben können an Freude, was sie uns geben können, das wollen
wir nicht missen.“
Christine beschreibt das in ihrem Blog so: „Unser Glück wohnt immer noch
bei uns. Es ist kein kleines Glück und kein halbes Glück, sondern dasselbe
Glück, das immer da war.“
Früher, als Kind, hatte Christine einen Wunsch: Sie wollte sehr, sehr alt
werden. Sie sah sich an einem Fenster sitzen und in einen Hinterhof
schauen. „Heute möchte ich nicht mehr alt sein“, sagt sie. „Ich möchte
nicht mehr alles schon hinter mir haben. Ich möchte jeden Tag Erinnerungen
sammeln.“
19 May 2018
## AUTOREN
Antje Lang-Lendorff
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Lesestück Recherche und Reportage
Familie
Neurologie
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