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# taz.de -- Aktionsbündnis für seltene Erkrankungen: Nichts als Gespenster
> Ein langer Weg zur Diagnose, überforderte Ärzte, fehlende Infrastruktur:
> Wer an einer seltenen Krankheit leidet, hat nicht nur mit deren Symptomen
> zu kämpfen.
Bild: Bei seltenen Krankheiten weiß selbst so mancher Arzt nicht mehr weiter.
"Der ist für schlechte Zeiten", sagt Anja und nickt in Richtung Rollstuhl.
Momentan sitzt darauf ein Teddy. Momentan ist alles gut. Wie Laufen geht,
hat die 26-Jährige viermal gelernt. Viermal hat sie aufs Neue geübt, wie
man einen Fuß vor den anderen setzt. Viermal hat sie sich so vom Rollstuhl
hochgearbeitet. Anfangs war sie immer noch ein bisschen wackelig auf den
Beinen, schon nach wenigen Schritten ging ihr die Kraft aus. Das Gefühl,
laufen zu können, sei trotzdem überwältigend, sagt Anja. Jedes Mal wieder.
Stiff-Person-Syndrom heißt die Krankheit, die jeden Moment dafür sorgen
kann, dass der Teddy das Feld räumen muss. Meist tritt sie in einem
schleichenden Prozess in das Leben der Betroffenen, bei Anja kommt die
Krankheit in Schüben. Dann versteift ihr Körper, und sie fällt einfach um
wie ein Brett. Der Körper wird durch einsetzende Spasmen so unbeweglich,
dass Anja keine Möglichkeit hat, sich mit den Händen abzufangen. Einmal ist
das schon vor dem Waschbecken passiert; außer einem blauen Auge hat Anja
zum Glück keine schlimmere Verletzung davongetragen.
Dass etwas nicht stimmt mit ihrem Körper, merkt Anja zum ersten Mal mit 22.
Da lebt sie mit ihrem Freund in Valencia, sechs Monate Spanien, Erasmus,
Sonne - eine unbeschwerte Zeit. Eines Tages will Anja joggen gehen. "Und
plötzlich konnte ich nicht mehr richtig laufen", erzählt sie. Anja nimmt
den steifen Knöchel nicht so ernst, schiebt die Symptome weit weg von sich.
Zwei Monate später ist sie zurück in Deutschland. Plötzlich wird der ganze
Unterschenkel steif, innerhalb von zwei Wochen das komplette Bein. Die
Ärzte stehen vor einem Rätsel. Ein Marathon an Untersuchungen folgt, bis
Anja entlassen wird mit der hilflosen Diagnose: "Psychosomatische
Ursachen".
Das Stiff-Person-Syndrom ist eine Auto-Immunkrankheit - und, was das Ganze
erschwert: eine seltene Krankheit. Das Label "selten" bekommen Krankheiten,
wenn weniger als einer von 2.000 Menschen davon betroffen ist. Meist sind
diese Erkrankungen genetisch bedingt, selten sind sie heilbar. Bundesweit
leiden bis zu vier Millionen Menschen an einer seltenen Krankheit; 200 sind
vom Stiff-Person-Syndrom betroffen. Das sind zumindest die offiziellen
Zahlen.
Viele Hausärzte haben keine Ahnung von seltenen Krankheiten, die wenigsten
haben vom Stiff-Person-Syndrom gehört. Weil dessen Symptome schwer greifbar
sind, werden viele Betroffene zunächst mit Psychopharmaka behandelt - ein
folgenschwerer Fehler. Zur richtigen Diagnose führt oft nur ein Zufall.
Auch Anja kommt dieser zu Hilfe.
Nach einem Jahr meldet sich ein Arzt bei Anja: Eine Patientin weist
dieselben Symptome auf wie Anja. Diese Patientin leidet seit Jahren am
Stiff-Person-Syndrom. Anja wird nach Heidelberg zu Professor Hans-Michael
Meinck überwiesen, einem Spezialisten. Schnell bestätigt er: "Ja, das ist
das Stiff-Person-Syndrom." So absurd das klingt: Anja ist überglücklich.
"Endlich ist die Krankheit kein Gespenst mehr, das über einem schwebt",
sagt Anja. Endlich hat die Krankheit einen Namen.
Die meisten, die in Deutschland am Stiff-Person-Syndrom erkranken, landen
bei Professor Meinck. Nach dem strapaziösen Weg zur Diagnose tun sich neue
Probleme auf: Wer kann adäquat behandeln? "Viele niedergelassene Ärzte
scheuen Patienten mit seltenen Erkrankungen wie der Teufel das Weihwasser",
sagt Meinck. Sich in eine solche Krankheit einzulesen, bedeutet Arbeit und
Zeit, die der Hausarzt selbst finanzieren muss. Zudem zeigt eine Diagnose
keinen Behandlungsweg auf: Es gibt kein Supermedikament gegen das
Stiff-Person-Syndrom. Und nicht bei jedem Patienten hilft dieselbe
Therapie.
Viel Spielraum bei der Suche nach der wirksamen Kombination von
Medikamenten gibt es aber nicht: "Ich würde mir wünschen, dass man von den
Krankenkassen nicht dauernd Steine in den Weg gelegt bekommt", sagt
Professor Meinck. Die legen schnell ihr Veto ein, wenn ein Medikament
verschrieben wird, das bisher nicht speziell für die Behandlung der
Krankheit zugelassen wurde. Dann müssen unter Umständen die Patienten
selbst zahlen - und das kann richtig teuer werden.
Auf Anjas Kommode liegen jede Menge Pillenpackungen. Elf Tabletten muss sie
täglich nehmen; manchmal können es bis zu 18 werden. Wenn sie von ihrer
Krankheit spricht, könnte Anja als Medizinstudentin durchgehen: rein
fachlich interessiert an dem, was sich in ihrem Körper abspielt. In
geschlossenen Räumen kann man Anja nicht ansehen, dass sie krank ist. Im
Freien schon. Einmal konnte sie ein ganzes Semester nicht gehen. Zu den
Vorlesungen wurde Anja im Rollstuhl geschoben. "Das war mir schrecklich
peinlich", erzählt sie. Heute ist sie mit Medikamenten so eingestellt, dass
sie nur manchmal einen Rollator braucht.
"Wir haben im Prinzip ein hervorragendes Gesundheitssystem, um Menschen mit
seltenen Krankheiten Rechnung zu tragen", sagt Dr. Andreas Reimann, der im
Vorstand der ACHSE sitzt. In Wirklichkeit aber müssen Betroffene mit vielen
Barrieren kämpfen. Nicht nur die Finanzierung über die Krankenkassen ist
kompliziert, sondern auch die Versorgung: Auf die 6.000 bis 7.000 bekannten
seltenen Erkrankungen kommen etwa 50 speziell für einige dieser
Erkrankungen zugelassene Arzneimittel. Bisher müssen so genannte "Orphan
Drugs", also Medikamente für seltene Krankheiten, zwei Verfahren zur
Prüfung und Zulassung auf EU-Ebene durchlaufen - ein langwieriger Prozess
für Betroffene.
Mit der Novelle des Arzneimittelrechts sollte zusätzlich eine weitere
Überprüfung auf nationaler Ebene eingeführt werden, was nicht zuletzt durch
den Protest der ACHSE verhindert werden konnte. Damit tauchen aber neue
Probleme auf: Weil jetzt die "Orphan Drugs" von der Prüfung auf nationaler
Ebene befreit sind, fürchten Experten einen inflationären Gebrauch des
Labels. Alle möglichen Stadien von Erkrankungen könnten von der
Pharmaindustrie als selten klassifiziert werden, um diese Hürde zu umgehen.
Das Nachsehen hätten dann vor allem die, die wirklich an seltenen
Krankheiten leiden.
Politisch tut sich einiges: "Nationales Aktionsbündnis für seltene
Erkrankungen" heißt das Projekt, das Strukturen und Öffentlichkeit schaffen
will. Eine wichtige Stütze sind schon jetzt die Selbsthilfegruppen. Auch
wenn Angehörige jeden Schritt mitgehen: Wenn man selbst nicht erkrankt ist,
kann man nicht nachvollziehen, was Betroffene durchmachen. Oft haben
seltene Krankheiten bizarre Auswirkungen. Beim Stiff-Person-Syndrom ist es
etwa die unerklärliche Angst, nicht mehr über offene Flächen laufen zu
können. Ob Treppen ohne Geländer oder große Plätze - wenn es keinen Halt
gibt, bekommt Anja Panik. "Das kann man sich nicht vorstellen", sagt sie,
"aber plötzlich gaukelt einem der Körper vor, man könnte nicht mehr über
die Straße gehen."
Gleichzeitig sind die meisten ihrer Schritte auch Fortschritte. Vor einigen
Wochen ist Anja zum ersten Mal seit langem ohne fremde Hilfe über ein
Parkdeck gelaufen. Zwar hielt sie die Hände dabei immer schützend vor sich,
während sie sich von Auto zu Auto hangelte. Aber sie hat es geschafft, ohne
Zwischenfälle.
10 Dec 2010
## AUTOREN
Franziska Langhammer
## TAGS
Lesestück Recherche und Reportage
Ethikrat
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