| # taz.de -- Leistungssportler in der Politik: Aus dem Velodrom ins Parlament | |
| > Olympiasieger Jens Lehmann sitzt für die CDU im Bundestag. Von | |
| > Sportfunktionären hat er gelernt, was man nicht machen sollte. | |
| Bild: Jens Lehmann (r.) in voller Fahrt (Archivbild aus dem Jahr 2004) | |
| Berlin taz | Es ist nur ein Satz. Aber er hat Jens Lehmann zu einem anderen | |
| Politiker gemacht. „Es ist unfair, Politiker an ihrem Wahlversprechen zu | |
| messen.“ Der Satz stammt [1][von Franz Müntefering], dem SPD-Mann. Damals, | |
| 2005, vor der Bundestagswahl, wollte die CDU die Mehrwertsteuer erhöhen. | |
| Und die SPD nicht. Die Steuer wurde dann unter Mitwirkung der | |
| Sozialdemokraten nicht nur auf 18 Prozent, sondern gleich auf 19 Prozent | |
| erhöht. Münteferings klare Kante wurde in den Koalitionsverhandlungen zur | |
| stumpfen Ecke. „So etwas kann man nicht machen“, sagt Jens Lehmann. | |
| Er sitzt in seinem sonnendurchfluteten Bundestagsbüro im Paul-Löbe-Haus, | |
| wunderschöner Blick auf den Reichstag, und spricht von der Verpflichtung, | |
| die ein Politiker dem Wähler gegenüber hat. „Ich möchte den Leuten, die | |
| mich gewählt haben, treu bleiben.“ Hinter ihm fallen zwei Bücher ins Auge: | |
| das statistische Jahrbuch von 2017 und ein Band über Helmut Kohl, „Auf dem | |
| Weg“, herausgegeben von Kai Diekmann. Lehmann, weißes Hemd, Jeans, | |
| dunkelblaues Sakko, wirkt so kregel wie ein Abenteurer vor einer größeren | |
| Expedition. Nur macht er sich nicht auf ins ewige Eis oder in die Berge | |
| Patagoniens, sondern in die struppige politische Landschaft Berlins. | |
| Seit ein paar Monaten ist Lehmann Bundestagsabgeordneter für die CDU, ein | |
| Neuling in der großen Politik, aber ein Experte in der kleinen. Er sitzt | |
| seit Jahren im Leipziger Stadtrat. Er kennt sich aus mit der Fummelei an | |
| der Basis. Es war gut für ihn, dass Angela Merkel so lange gebraucht hat, | |
| bis sie weiterregieren konnte. Das gab ihm Zeit, sich in die | |
| Gepflogenheiten der Berliner Republik einzuarbeiten. | |
| Am Morgen gegen halb sieben ist er wie jeden Tag gejoggt, zehn Kilometer | |
| durchs Regierungsviertel, an der Spree entlang. Das muss sein. Er braucht | |
| den Sport, schließlich war er über zwei Jahrzehnte in ihm zu Hause. Lehmann | |
| war Leistungssportler. Und was für einer: zwei Olympiasiege mit dem | |
| Bahnvierer; zwei olympische Silbermedaillen in der Einer-Verfolgung auf der | |
| 4.000-Meter-Strecke; viele Weltmeistertitel; Plaketten ohne Ende. Er hat | |
| alles erreicht auf den Bahnrad-Ovalen dieser Welt. | |
| Und jetzt ist er Abgeordneter. „Wahnsinn“, sagt Lehmann. Seine Augen | |
| strahlen. Es sprudelt nur so aus ihm heraus. Man muss ihn nach 90 Minuten | |
| fast bremsen. Müsste er nicht schon längst bei der Senioren-Union sein? | |
| ## Der andere Jens Lehmann | |
| Sportler haben sich immer wieder in der Politik versucht. Lehmanns | |
| Parteikollege Eberhard Gienger, ein erfolgreicher Kunstturner, ist Mitglied | |
| des Fraktionsvorstands. Für die Linken saß Speerwurf-Olympiasiegerin Ruth | |
| Fuchs im Bundestag und später Rad-Weltmeister Gustav-Adolf Schur, der im | |
| Osten immer nur Täve hieß. Lehmann kommt ohne Spitznamen aus, aber im Osten | |
| wissen die Sportfans natürlich, dass Jens Lehmann nicht nur der Name dieses | |
| eigenwilligen Torwarts ist, sondern dass es auch den Radsport-Lehmann gibt, | |
| der vielleicht genauso eigenwillig ist wie der Ballfänger. | |
| Lehmann ist in der DDR groß geworden, im Südharz. Weil er Talent hatte, | |
| schickte man ihn auf die Sportschule in Leipzig. Dort lernte er, dass nur | |
| eines zählt: Leistung. Wer keine Leistung brachte, wurde aussortiert. Aber | |
| der Bursche von der BSG Mifa Sangerhausen konnte sich schinden, seinen | |
| Körper an Grenzen treiben und manchmal darüber hinaus – eine Gabe, die ihn | |
| auf den Olymp führen sollte. | |
| Lehmann verschrieb sich dem Radsport, und das Einzige, was er von seinen | |
| Trainern verlangte, war, dass sie seine ständige Leistungsbereitschaft und | |
| seinen punktgenauen Formaufbau anerkannten. Aber in der Welt des Sports | |
| gibt es oft andere Kriterien der Beurteilung. Wie formbar ist ein Athlet? | |
| Wie gut passt er sich auch an merkwürdigste Umstände an? Besitzt er | |
| Hausmacht im Verband? Weil Lehmann alles andere als ein manipulativer Typ | |
| ist, hatte er es schwer in diesem widersprüchlichen Sportsystem, in dem | |
| Leistung alles ist, aber eben nicht immer. | |
| Der Olympiasieger von 1992 wurde vier Jahre später nicht für die | |
| Sommerspiele berücksichtigt. Man sagte ihm, er sei zu alt. Das hielt ihn | |
| nicht davon ab, im Jahr 2000 erneut Olympiasieger zu werden, in | |
| Weltrekordzeit. Zusammen mit Robert Bartko, Guido Fulst und Daniel Becke | |
| unterbot er eine magische Grenze. Nach 3:59:710 Minuten blieb die Uhr | |
| stehen. Es war eine reine Zweckgemeinschaft, aber egal, das Quartett war | |
| schnell. Es zeigte Leistung. Das reichte. | |
| ## Der Fall Lehmann | |
| Merkwürdig wurde es im Jahr 2003. Bei der WM in Stuttgart wollte sich der | |
| deutsche Radsport von seiner schönsten Seite präsentieren, aber es wurde | |
| eine hässliche Angelegenheit. Der Sportdirektor des Bundes Deutscher | |
| Radfahrer, Burkhard Bremer, protegierte seine Günstlinge im Team, Fahrer | |
| aus Berlin. Bremer, den man laut Gerichtsbeschluss als „belasteten | |
| Funktionär aus den heißen Zeiten des Dopings“ bezeichnen darf, brüskierte | |
| die eigentlich besseren Fahrer aus Thüringen und Sachsen, allen voran Jens | |
| Lehmann, der seinen Platz in der Einer-Verfolgung für Bartko räumen musste. | |
| Lehmann und Co. wollten bei diesem Ränkespiel nicht mitmachen. Sie stellten | |
| Bedingungen. Der Verband meldete den Vierer ab. Es kam zum Eklat, zum Fall | |
| Lehmann. Erstmals seit 1962 ging kein deutscher Bahnvierer an den Start. | |
| Damals sagte Lehmann der taz: „Mich hat selten etwas so tief getroffen und | |
| gedemütigt.“ Der widerspenstige Athlet wurde suspendiert, später begnadigt, | |
| nur um dann bei der Nominierung für die Olympischen Spiele in Athen wieder | |
| ausgebootet zu werden. Lehmann wollte nie in die Rolle des Querulanten | |
| schlüpfen, er bestand nur auf seinem Recht: „Ich bin stolz darauf, dass ich | |
| standhaft geblieben bin.“ | |
| Heute spricht er lockerer über die Willkür des Verbands, den damals das | |
| SPD-Mitglied Sylvia Schenk leitete: „Es war ja teilweise ganz lustig, wie | |
| meine Anwälte diese verbitterten, vor Wut schäumenden Funktionäre | |
| vorgeführt haben.“ Bitter habe ihn die Affäre damals nicht gemacht, denn er | |
| habe immer eine andere Option gesucht. Eine Option außerhalb des | |
| Leistungssports. Sich so zu verkämpfen wie Claudia Pechstein, das wäre | |
| Lehmann nie in den Sinn gekommen, sagt er. | |
| Er ließ den Leistungssport mit 37 hinter sich. Machte einen harten Schnitt. | |
| Und wurde Erzieher. „Ich wollte nicht mehr im Sportsystem sein, ich wollte | |
| eine neue Welt entdecken.“ Der Radsportler, der auch an Weihnachten und | |
| Silvester Kilometer schrubbte, der sich auch bei zehn Grad minus auf den | |
| Sattel schwang, ging in den Hort, zeigte den Kindern Frühblüher und was es | |
| heißt, immer für die Kinder da zu sein. „Ich war keinen einzigen Tag | |
| krank“, sagt der Mann, dem die Wandlung vom Rennradler zum | |
| leidenschaftlichen Pädagogen geglückt ist. | |
| ## Wahlkreis Leipzig I gewonnen | |
| Aber hätte er nicht auch als Trainer mit Kindern arbeiten können? Nein, | |
| sagt Lehmann, er hätte den Kids zu viel zugemutet. „Ich habe die | |
| Geradlinigkeit und Leistungsbereitschaft eingeimpft bekommen.“ Dieser | |
| Impfstoff wird heute seltener verabreicht, also schlussfolgert er: „Nein, | |
| ich wäre kein guter Trainer geworden.“ Aber ist der Familienvater, der mit | |
| seiner Frau, einer ehemaligen Radsportlerin, in einem Häuschen im Osten | |
| Leipzigs wohnt, ein guter Politiker geworden? Das Leipziger Stadtmagazin | |
| Kreuzer findet, er falle vor allem durch Unauffälligkeit auf, „wobei er | |
| sich inhaltlich zwar ein bisschen progressiv positioniert, sich vor allem | |
| aber allgemein hält“. | |
| Ein hartes Urteil, denn Lehmann, der ja auch noch Vizepräsident des | |
| Stadtsportbundes Leipzig ist, hat viele kleine Sachen durchgekämpft, | |
| zuletzt eine Novelle der Straßenausbausatzung. Was staubtrocken klingt, war | |
| ihm „sehr wichtig“, weil Anwohner dadurch finanziell entlastet werden. Das | |
| versteht Lehmann unter bürgernaher Politik. So hat er den Wahlkreis Leipzig | |
| I gewonnen, mit sieben Prozentpunkten Vorsprung vor einem AfD-Kandidaten. | |
| Im Wahlkampf hat Lehmann schon mal vom „Versagen des Staates während der | |
| Flüchtlingskrise“ gesprochen und von „Problemen, die unter den Teppich | |
| gekehrt worden sind“, aber er war weit entfernt von den Positionen seiner | |
| [2][Leipziger Parteikollegin Bettina Kudla], die auf Twitter vor einer | |
| „Umvolkung“ warnte. Lehmann profitierte von dieser Entgleisung. Er | |
| erkämpfte Kudlas Wahlkreis. | |
| Jens Lehmann hat aus den harten Auseinandersetzungen mit den | |
| Sportfunktionären gelernt, dass es manchmal besser ist, etwas biegsamer zu | |
| sein, konzilianter. Er hat akzeptiert, dass er nur stellvertretendes | |
| Mitglied im Sportausschuss geworden ist. Und als er vor Kurzem seine erste | |
| Rede im Bundestag über Verteidigungspolitik hielt, da lobte er zweimal | |
| überdeutlich die Arbeit „der Ministerin“. Ursula von der Leyen bedankte | |
| sich für den Beistand des Novizen. Das hat also schon mal funktioniert. | |
| Woran er sich noch nicht gewöhnt hat, sind die ewigen Sitzungen. Aber er | |
| will da durch, die Zähne zusammenbeißen wie bei einer Regenetappe. „Das ist | |
| jetzt mein Job.“ | |
| 8 May 2018 | |
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| ## AUTOREN | |
| Markus Völker | |
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