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# taz.de -- EU-Gerichtshof urteilt über Urwald: Auf dem Holzweg
> In Polen kämpfen Menschen für den Erhalt von Europas größtem Urwald. Am
> Dienstag entscheidet der EuGH über dessen Zukunft.
Bild: Was vom Urwald übrig bleibt: Abholzungen im Białowieża-Forst
Białowieża taz | Schneereste knirschen unter den Stiefeln. Ein Firnis aus
Eis liegt obenauf. Schweigend stapfen Jurek, Adam und Wendy durch den
Białowieża-Urwald an der polnisch-weißrussischen Grenze. Sie gehen auf
einer selbst gewählten Trasse „Patrouille“, wie sie es nennen. Vor ein paar
Monaten hat hier eine Harvester, ein tonnenschweres Baum-Ernte-Gerät, ganze
Arbeit geleistet. Rechts und links vom Weg ragen Baumstümpfe aus dem Boden.
In den tiefen Spurrillen der Harvester liegen die einstigen Wipfel,
niedergewalzt und zermalmt, daneben die Stämme der gefällten Bäume, sauber
aufgestapelt und abholbereit. Dabei gehört der berühmte Mischwald zum
Unesco-Weltkulturerbe. Auch das Natura-2000-Gesetz schützt ihn. Doch hier
prallen Wirtschaftsinteressen und Naturschutz so stark aufeinander, dass
der Europäische Gerichtshof in Luxemburg den Streit schlichten muss. An
diesem Dienstag wird in Luxemburg das Urteil erwartet.
Auf dem Weg nach Teremiski, einem polnischen Walddorf kurz vor der Grenze
zu Weißrussland, steht plötzlich ein mächtiger Wisent am Straßenrand – der
König des Urwalds. Die wenigen Autofahrer, die hier vorbeikommen, halten
ihre Wagen an. Rechts und links der Straße führt ein kleiner Trampelpfad
zwischen alten Holzhäusern in den Wald. Schließlich setzt sich der Wisent
in Bewegung, langsam und majestätisch.
„Deshalb lebe ich hier“, bekennt Adam Bohdan, Biologe und aktiver
Naturschützer aus der rund 80 km entfernten Stadt Białystok. Er beteiligt
sich an den Patrouillen, dokumentiert auf einer elektronischen Waldkarte
den genauen Standort der gefällten Fichten, Buchen, Eichen und Tannen,
zählt die Jahresringe, um das Alter der Bäume zu bestimmen, und erfasst
sogar, ob es sich um Lebend- oder Totholz handelt.
## Vom Urwald zur Bretterproduktion
„Mir blutet das Herz, wenn ich diesen Kahlschlag sehe“, sagt Bohdan und
fährt langsam wieder an. „Dem Staatsforst geht es nur ums Geld: Bäume
fällen, aufforsten, fällen, aufforsten. So stirbt der Białowieża-Urwald,
der in seiner vieltausendjährigen Geschichte noch jeden Borkenkäferbefall
ganz allein überstanden hat. Was bleibt, ist eine Bretterproduktion. Sogar
die Wisente sollen nun für den kommerziellen Abschuss freigegeben werden.“
Seufzend deutet er auf ein Banner, das quer über der Fahrbahn hängt. Laut
liest er vor: „Pseudoökologen vernichten den Urwald! Bauen wir ihn wieder
auf!“ Er zuckt mit den Schultern: „Mit den Pseudoökologen sind alle
gemeint, für die der Urwald mehr ist als nur ein Brennholzlieferant.
Gesponsert werden diese Leute übrigens von einem der hiesigen Sägewerke.“
In dem Dorf Teremiski setzt Bohdan die Gäste vor dem großen Holzhaus ab,
das dem „Oboz dla Puszczy“ (Lager für den Urwald) als Winterquartier dient.
„Im Sommer haben wir im Wald übernachtet. In Zelten. Und morgens früh haben
wir uns dann oft an die großen Harvester gekettet, um das Fällen der oft
über hundertjährigen Bäume zu verhindern“, sagt Bohdan. Er winkt einem der
dick vermummten Aktivisten im Garten zu, der einem vereisten Sandberg mit
einer Spitzhacke zu Leibe rückt. „Insgesamt waren es über 1.100 Leute aus
der ganzen Welt“, setzt er stolz hinzu. „Sie haben Tage, manche sogar
Wochen hier verbracht, um uns zu unterstützen.“
Neun Kilometer weiter östlich liegt das Dorf Białowieża. Hier befindet sich
der Eingang zur streng geschützten Zone des von Menschenhand über
Jahrhunderte kaum berührten Białowieża-Mischwaldes. Besucher dürfen sich
nur auf bestimmten Wegen und mit einem lizenzierten Guide bewegen. Hier
soll die Natur weitgehend sich selbst überlassen werden. Nur
Wissenschaftler dürfen die Wege verlassen, so wie die Biologen Rafal
Kowalczyk und Bogdan Jaroszewicz. Beide haben vor ihrer jeweiligen
Spezialisierung auf Säugetiere und Pflanzenkunde eine klassische Ausbildung
zum Förster absolviert.
„Der Fehler liegt im System“, erklärt Jaroszewicz in seinem Institut für
Geobotanik, das äußerlich einer Bienenwabe nachempfunden ist. „Der
Gesetzgeber muss sich entscheiden: Will er den Białowieża-Urwald mit seiner
einzigartigen Ökosystem retten, oder will er ihn für die Holzproduktion
nutzen und möglichst viel Gewinn abschöpfen?“ Das Argument der
Verantwortlichen des Staatsforstes, durch den massiven Holzeinschlag den
Białowieża-Urwald vor dem Befall durch den Borkenkäfer retten zu wollen,
sei ebenso vorgeschoben wie die Behauptung, Pilzsammler und Spaziergänger
müssten vor abgestorbenen Bäumen geschützt werden, weil diese plötzlich
umfallen könnten.
„Der Streit, den wir zurzeit vor dem Europäischen Gerichtshof austragen,
ist ja nicht neu“, sagt der 51-Jährige Biologe. Schon 2010 hatten
Naturschützer gegen den Raubbau in Polens Wäldern protestiert, sodass der
polnische Umweltminister sich gezwungen sah, den Holzeinschlag drastisch
abzusenken. Der Staatsforst, ein Monopolist, der knapp 90 Prozent aller
Wälder Polens bewirtschaftet, stimmte dem zunächst zu. Doch fünf Jahre
später stellte die Oberforstverwaltung den Antrag, das Einschlaglimit
wieder drastisch zu erhöhen. „Umweltminister Szyszko gab diesem Antrag
statt“, erklärt der Biologe. „Und seitdem fahren hier diese Harvester durch
den Urwald und ernten Holz. Dabei müssen auch viele über hundertjährige
Bäume dran glauben, die eigentlich unter einem besonderen Schutz stehen.“
## Hoffen auf Luxemburg
Rafal Kowalczyk, dessen Institut für die Biologie der Säugetiere direkt
neben der Nationalparks-Verwaltung des Białowieża-Urwaldes steht, hofft auf
ein günstiges Urteil aus Luxemburg. „Hier sind inzwischen alle zerstritten.
Dies liegt auch an der Propaganda des Staatsforstes, der reich genug ist,
einen eigenen Fernsehkanal zu unterhalten und bunte Informationsblätter zu
produzieren, die überall zum Mitnehmen ausliegen.“ Er hält ein grünes
Faltblatt mit dem Titel „25 Fragen zum Białowieża-Urwald“ mit vielen
Bildern, Infografiken und einem überdimensionalen Borkenkäfer-Porträt in
die Höhe. „Das hat mit redlicher Aufklärung nichts zu tun. Hier werden die
Leute ganz bewusst für dumm verkauft.“
Vielleicht, so hofft er, bringe das Urteil zumindest einen Teil der
Menschen zum Umdenken. „Zwar haben wir Wissenschaftler darauf reagiert und
ganz andere Antworten gefunden, aber wir haben nicht die Mittel, Broschüren
in so hoher Auflage zu drucken, in Postämtern auszulegen oder an
Institutionen im ganzen Land zu schicken. Uns bleibt nur das Internet.“
Kowalczyk steht kurz auf, druckt einige Seiten aus und schaut für einen
Moment aus dem Fenster. Dort steht eine große Eiche, 23 Meter hoch, gut 260
Jahre alt. In wenigen Wochen werden wieder die Blätter sprießen. Er nimmt
das Gespräch wieder auf: „Der Mensch kann den Białowieża-Urwald zwei Mal
töten: einmal, indem er seine Bäume fällt und aus dem Wald herausschafft,
und zum Zweiten, indem er den Boden rodet und aufforstet – womöglich noch
mit einer Fichten-Monokultur. Das verkraftet kein Naturwald.“
## Ehrenrettung für den Borkenkäfer
Es sei völlig falsch, den Borkenkäfer zu verteufeln, sagt Kowalczyk. „Er
übernimmt in der Natur eine wichtige Rolle, da er nur geschwächte oder
kranke Fichten anfliegt und dort seine Eier ablegt.“ Die ausschlüpfenden
Larven fressen dann Gänge in den Stamm, die es der Fichte unmöglich machen,
bestimmte Nährstoffe in die Wurzeln zu bringen. So stirbt der Baum, bietet
nach seinem Tod aber über Jahre anderen Tieren und vielen Pflanzen, Pilzen
und Moosen eine neue Lebenswelt. „Transportiert der Mensch das Totholz ab,
stirbt auch der Naturwald, in dem Leben und Sterben zum natürlichen
Lebenskreislauf gehören. Die Förster behaupten gerne, dass der Wald ihre
Hilfe brauche. Falsch! Der Wald regeneriert sich selbst. Anstelle des toten
Baums wächst nach ein paar Jahren wieder ein neuer. Das können wir im
strengen Schutzbereich des Urwaldes ganz genau beobachten und also
beweisen.“
Die beiden großen Holzhäuser am polnisch-weißrussischen Grenzübergang
Pererow inmitten des Białowieża-Urwaldes wirken überdimensioniert. Auf
weißrussischer Seite regelt ein einziger Grenzbeamter die „Immigration“ und
meist am gleichen Tag auch „Emigration“ von Fußgängern und Radfahrern.
Während der polnische Beamte freundlich in die warme Zollstube bittet, in
der es nach frischem Kaffee und Schokoladenkuchen duftet, gibt sich der
weißrussische Kollege Mühe, möglichst grimmig dreinzuschauen.
„Borkenkäfer haben wir hier fast keine“, lacht Tatjana, die junge
Reiseleiterin in dunkelblauem Daunenmantel und weißer Pudelmütze. Sie will
ihren Nachnamen nicht nennen: „Einfach Tatjana“, sagt sie freundlich, aber
bestimmt. „In Weißrussland schützen wir ja den gesamten Białowieża-Urwald
im Nationalpark. Wir haben kaum aufgeforstet, und so gibt es hier nicht so
viele Fichten wie in Polen.“ Sie greift nach dem Mikrofon des Stadtbusses
und erläutert den polnischen Touristen das Programm: „Wir werden die
Zarentrasse entlangfahren, dann ein Volkskundemuseum besuchen, in dem bis
heute auf einer historischen Anlage Schnaps destilliert wird, mehrere
uralte Eichen und Fichten sehen, dann dem ‚Väterchen Frost‘ einen Besuch
abstatten und das Naturkunde-Museum besuchen. Wenn wir Glück haben, sehen
wir auch ein paar Wisente.“ Sie schaltet das Mikrofon aus und sagt leise:
„Wir haben hier auch Fehler gemacht, aber andere als in Polen. Es gab hier
Brände. Verheerende Brände!“
Über 1.500 km weiter westlich, neben dem Frankfurter Zoo, nickt Michael
Brombacher, Geoökologe und Europa-Programmleiter der Zoologischen
Gesellschaft Frankfurt (ZGF): „Ja, die Weißrussen haben weniger Raubbau am
Wald betrieben, dafür aber in den fünfziger und sechziger Jahren viele
Niedermoorflächen entwässert und Flüsse kanalisiert.“ Am Computer lädt er
Satellitenbilder hoch, auf denen Wiesen und Felder auf den ehemaligen
Mooren zu erkennen sind, außerdem schnurgerade Entwässerungsgräben. „In den
trockengelegten Mooren wurde Torf gestochen, der zu Briketts verarbeitet
als Heizmaterial diente. Da sich aber über den toten Sumpfgebieten
Methangas sammelte, kam es in den vergangenen Jahren zu einigen Großbränden
in Weißrussland.“
## Brennende Moore in Weißrussland
Seine Kollegin Eleni Vendras, die demnächst eine Filiale der Zoologischen
Gesellschaft in der weißrussischen Hauptstadt Minsk leiten wird, ergänzt:
„An dem Wiedervernässungsprojekt sind als Partner die
Vogelschutzorganisation ABP Birdlife Belarus beteiligt, der Nationalpark
Belaweschskaja Puschtscha und die Präsidialverwaltung von Alexander
Lukaschenko.“Sie hält ein Wolfsplakat in weißrussischer Sprache hoch und
dreht es: „Auf der Rückseite sind alle Logos der Projektpartner und viele
Detailinformationen.“
Brombacher zeigt eine Satellitenkarte: „Sicher können wir nicht alle Moore
wiedervernässen. Viele liegen ja auch außerhalb des Nationalparks. Da haben
wir gar keinen Zugriff.“ Da Russland zurzeit keine Milchprodukte aus der EU
importiert, sondern viel Käse und Joghurt in Weißrussland einkauft, wird
dort auf jedem verfügbaren Fleckchen Milchwirtschaft betrieben. Allerdings
haben die Weißrussen auch die Großbrände nicht vergessen. Brombacher deutet
auf Vorher-nachher-Bilder: „Als erstes haben wir das Niedermoor Dziki Nikar
mit rund 1.000 Hektar wiedervernässt. Dazu haben wir in die rund 75
Kilometer langen Entwässerungsgräben 112 Plomben gesetzt, sodass das Wasser
sich wieder aufstauen kann.“ Inzwischen steige der Grundwasserspiegel
langsam wieder an, erste Vögel brüteten im Schilf, und sogar die Fichten in
Polen könnten wieder leichter Wasser ziehen und sich dann auch eher gegen
den Borkenkäfer wehren, indem sie dessen Bruthöhle einfach zuharzten.
Im polnischen Grenzdorf Białowieża ist es dunkel geworden. In der Pension
„Wejmutka“, die Olimpia Pabian mit ihren Eltern betreibt, knistert im Kamin
ein heimeliges Feuer. Anderthalb Jahre lang war Pabian Direktorin des
Białowieża-Nationalparks. Dann – Mitte November 2017 – kündigte ihr
Umweltminister Jan Szyszko, der inzwischen selbst seinen Hut nehmen musste,
fristlos. „Ich habe den Grund erst aus der Presse erfahren“, sagt die
Umweltschützerin. „Der Staatsforst wollte auch über die Wisente
entscheiden, was bislang allein dem Nationalpark vorbehalten war. Ich habe
mich dagegen gewehrt, denn letztlich geht es um den kommerziellen Abschuss
von Wisenten, der bereits in zwei anderen Wäldern praktiziert wird.“ Das
sei ein lukratives Zubrot für die Förster, die das Geld für den Abschuss,
das Fleisch, die Trophäe einstreichen.“ Die resolute Frau mit den
pechschwarzen Haaren schüttelt den Kopf: „Ohne mich!“
Viele Bauern in der Umgebung des Nationalparks seien allerdings der
Meinung, dass die hier lebenden rund 600 Wisente bereits zu viel seien.
Diese würden auf der Suche nach Futter immer weiter nach Westen wandern und
dort Ernteschäden anrichten. „Ich hätte auf Bildung gesetzt und auch Geld
für die Pacht dieser Wiesen und Äcker aufgetrieben, die Ernteschäden
natürlich auch ersetzt. Das sind wir als Nationalpark unseren Wisenten
schuldig“, sagt Olimpia Pabian dazu. Sie gießt sich einen heißen Tee auf,
als Adam Bohdan vom Protestcamp „Lager für den Urwald“ in der Tür steht.
Die beiden kennen sich seit Jahren: „Olimpia, wir möchten gerne die
Einwohner zu einer Diskussion zu uns einladen. Thema soll sein: der ganze
Białowieża-Urwald – ein Nationalpark: Vor- und Nachteile. Würdest du
kommen?“ Pabian stellt ihm einen Stuhl vor den Kamin: „Wärm dich erst mal
auf! Dann sagt sie: „Ja, das kann man gar nicht oft genug diskutieren. Ich
komme!“
16 Apr 2018
## AUTOREN
Gabriele Lesser
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