# taz.de -- Persönlicher Nachruf auf Moishe Postone: Keiner interpretierte Mar… | |
> Er referierte leidenschaftlich und konnte Karl Marx so lebendig werden | |
> lassen wie kaum ein anderer. Jetzt ist der Historiker mit 75 Jahren | |
> verstorben. | |
Bild: Der Geschichtsprofessor Moishe Postone verstarb im Alter von 75 Jahren an… | |
Karl Marx wird dieses Jahr 200 – ein Jubiläum, das viele zum Gegenstand von | |
Diskussionsveranstaltungen machen. Die Fragen und Thesen, mit denen die | |
Einladungstexte werben, sind jedoch oft abgedroschen, staubig, nostalgisch. | |
In Anwesenheit von Moishe Postone würde jede dieser Veranstaltungen | |
glücken. Kein anderer ließ Marx so lebendig werden. Seit Montag wird man | |
ihn nicht mehr persönlich erleben können. Der Geschichtsprofessor aus | |
Chicago verstarb im Alter von 75 Jahren an den Folgen von Krebs. | |
Bekannt wurde Postone im deutschsprachigen Raum mit dem Aufsatz | |
„Nationalsozialismus und Antisemitismus“. Darin wies er den Zusammenhang | |
von abstrakter Herrschaft im Kapitalismus und Antisemitismus nach. Postone | |
war ein Lehrer, dessen Schüler aus Europa, Brasilien oder China nach | |
Chicago pilgerten. Im Gepäck hatten sie ihre brennenden Fragen: | |
Turboproletarisierung in China, informelle Ökonomien in Brasilien. Mein | |
Anliegen während des Auslandsstudiums: autoritäre Tendenzen in der Türkei. | |
Postone referierte leidenschaftlich. Jedes Mal, als wäre es das erste Mal | |
Marx. Mit der Folge, dass wir das gesamte Semester über den ersten Band von | |
„Das Kapital“ sprachen, obwohl wir uns eigentlich den dritten vorknöpfen | |
wollten. Als ich das erste Mal sein Büro betrat, musste ich lachen: | |
Zwischen Büchern und ausgedruckten Hausarbeiten hing ein eingerahmtes | |
Poster, darauf ein surfender Marx und die Überschrift „Weniger Arbeit für | |
alle!“. Eine witzige Abbildung, zugleich trifft sie Postones Interpretation | |
von Marx auf den Punkt. | |
## Wortgefechte mit RAF-Sympathisanten | |
In seinem Standardwerk „Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft“ | |
stellte er eine These auf, mit der er sich scharf von traditionellen | |
Marx-Interpretationen abgrenzte: Die materielle Ungleichheit ist nicht | |
Ursache, sondern Begleiterscheinung des Kapitalismus. Die Arbeit im | |
Kapitalismus hingegen ist der Ursprung von abstrakter Herrschaft und | |
Unfreiheit. Auch wenn eine Welt ohne Lohnarbeit kaum vorstellbar ist, | |
Postones Kritik wies dorthin. | |
Einmal erzählte Postone von einem Seminar bei Hannah Arendt. Er fand sie | |
streng, ja unsympathisch. Aber sie war damals die Einzige, die in Chicago | |
Marx lehrte. In seiner darauf folgenden Studienzeit in Frankfurt lieferte | |
er sich mit seinem Freund Daniel Cohn-Bendit Wortgefechte mit | |
RAF-Sympathisanten. Seine Dozenten hatten noch bei Adorno gelernt. Das | |
Frankfurt der 70er Jahre, für ihn ein Ort mit Zauber: Woanders in | |
Deutschland, sagte er einmal, hätte er nicht sein können. | |
Wenige Monate nach meinem Auslandssemester traf ich Postone erneut – | |
diesmal in Wien. Gerade hatte es die extrem rechte FPÖ in die Regierung | |
geschafft. Postone sagte: „Es ist kalt hier.“ Er redete nichts schön, war | |
aber nicht verbittert. Im nächsten Moment konnte er sich wieder für die | |
Wiener Architektur begeistern. | |
Moishe Postone war ein Denker, der die Widersprüche der modernen | |
Gesellschaft durchblickte wie kein anderer. Mit seinem Tod verliert die | |
Welt einen unabhängigen Geist – und einen empathischen Lehrer. | |
21 Mar 2018 | |
## AUTOREN | |
Volkan Ağar | |
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