# taz.de -- Neues Sachbuch über tierisches Leben: Der Schamane im Mann | |
> Müll mit der Nase umdrehen: Der englische Tierarzt Charles Foster hat ein | |
> Buch darüber geschrieben, wie sich das Leben als Tier so anfühlt. | |
Bild: Pizza oder Pipi? Egal. Vieles will von Hunden intensiv beschnüffelt werd… | |
Viele Menschen würden Charles Foster für völlig durchgeknallt halten und | |
nicht mal schlechte Gründe dafür haben. Was soll man auch denken von einem, | |
der sich eine Erdhöhle im Wald gräbt, um wochenlang zusammen mit seinem | |
achtjährigen Sohn darin zu wohnen, sich auf allen vieren durchs Gesträuch | |
zu bewegen und Regenwürmer zu essen? | |
Oder der erzählt, wie er einmal einen Tag lang ohne Essen und Trinken in | |
einem Londoner Hinterhof lag: „[Ich] entleerte Blase und Darm dort, wo ich | |
war, wartete auf die Nacht und verhielt mich gegenüber den menschlichen | |
Wesen in den Reihenhäusern ringsum feindselig.“ Oder der mit seinen Kindern | |
ausprobiert, ob die sich gegenseitig am Geruch der Kackhaufen | |
wiedererkennen, die sie im Wald hinterlassen haben? | |
Foster erzählt all diese Dinge in seinem Buch „Being a Beast“, dem sein | |
deutscher Verlag den Nonsens-Titel „Der Geschmack von Laub und Erde“ | |
verpasst hat (natürlich frisst kein einziges der in diesem Buch erwähnten | |
Lebewesen Erde oder auch nur Laub. Auch der Autor nicht. Wohl aber Würmer, | |
Schnecken und Insekten). | |
In Wald-Erdhöhlen wohnen Dachse, Füchse bevölkern die Londoner Hinterhöfe, | |
und das Leben der Otter haben Biologen beharrlich anhand ihres | |
Losungsverhaltens (ihrer Kacke) zu entschlüsseln versucht. Insofern sind | |
alle oben erwähnten Erlebnisse wissenschaftliche Experimente, die Charles | |
Foster einfach etwas weiter treibt als andere Leute. Gleichzeitig stellen | |
sie eine Art von modernem Schamanismus dar. | |
## Die Erfahrung der Entgrenzung | |
„Being a Beast“ ist ein Buch über Entgrenzung. Der Autor arbeitet darauf | |
hin, die Grenzen zwischen seiner eigenen und anderen Spezies zu dehnen, zu | |
überschreiten oder vielleicht überhaupt erst einmal zu spüren. Wie fühlt es | |
sich an, ein Dachs zu sein? Ein Otter? Was denkt der Hirsch, während die | |
Hunde hinter ihm her sind? Was ist die Perspektive des unablässig | |
fliegenden Mauerseglers auf die Welt unter ihm? | |
Je nach Spezies und ihrem Habitat fallen Fosters Entgrenzungsversuche sehr | |
unterschiedlich aus – auch in ihrer sprachlichen Form. Das Eingangskapitel, | |
in dem der Autor die oben erwähnte Dachs-Episode schildert, ist zugleich | |
das am sachlichsten gehaltene bzw. das am stringentesten erzählte – | |
möglicherweise deshalb, weil die Beteiligung des achtjährigen Kindes, das | |
den schamanistischen Selbstversuch vermutlich als lustiges Spiel begreift, | |
den Erwachsenen gleichsam erdet. (Außerdem kommt ein Freund hin und wieder | |
mit Lasagne beim Dachsbau vorbei, sodass die Nahrung von Vater und Sohn | |
nicht wirklich ganz aus Regenwürmern bestehen muss. Das Spiel wird also | |
durch allerlei „Mogeleien“ unterbrochen.) | |
In anderen Kapiteln ist die Entgrenzung wesentlich weiter fortgeschritten. | |
Insbesondere das Fuchskapitel enthält etliche Details, angesichts derer | |
fast verwunderlich ist, dass der Autor nicht auf der Straße aufgegriffen | |
und in Gewahrsam genommen wurde, während er in den Hinterhöfen des Londoner | |
East End dem füchsischen Sein nachspürte. Das erwähnte Herumliegen in den | |
eigenen Exkrementen ist ein Beispiel dafür. | |
## Speziesspezifischer Perspektivwechel | |
Auch jene Szene, in der Foster beschreibt, wie er die Mülltonnen nach | |
Essbarem durchwühlt und ein weggeworfenes Stück Pizza mit der Nase umdreht, | |
um anschließend detailliert und mit mikroskopischer Akribie dessen | |
Fäulniszustand zu schildern, ist gewöhnungsbedürftig. Der stilistische | |
Duktus des Fuchskapitels wiederum flieht aus der sachlichen Gegenwart so | |
weit ins Metaphorisch-Entrückte, dass sich schon durch diese äußere Form | |
ein sehr randständiger Bewusstseinszustand ausdrückt, der mit einer | |
bürgerlichen Existenz kaum zu vereinbaren sein kann. | |
Offenbar führt dieser Charles Foster ein Doppel- und Dreifachleben. Denn in | |
all seinen bürgerlichen Instanzen sieht es von außen überaus erfolgreich | |
aus. Foster, 1962 geboren, ist nicht einfach ein liebenswerter Spinner. Er | |
hat sowohl Tiermedizin als auch Jura studiert, zahlreiche wissenschaftliche | |
Expeditionen in vielen Ländern unternommen, lehrt Ethik und Jura in Oxford, | |
besitzt eine Approbation als Tierchirurg und war als Anwalt in etlichen | |
wichtigen Fällen vor Gericht tätig. | |
Seine Liste an Veröffentlichungen (aus all diesen Bereichen) ist ellenlang; | |
dieses Buch ist das erste, das auch in deutscher Übersetzung erscheint. | |
Foster ist verheiratet (in den Danksagungen wird seine „leidgeprüfte Frau | |
Mary“ erwähnt) und hat sechs Kinder. | |
Eine gewisse Besessenheit gehört sicherlich dazu, all diese Dinge neben- | |
oder auch nur nacheinander zu betreiben. Die Besessenheit von der Frage des | |
speziesspezifischen Perspektivwechsels aber hat möglicherweise am Anfang | |
von allem gestanden. Das legt Foster zumindest im Vorwort nahe, in dem er | |
erzählt, was er bereits als Kind alles an Verrücktheiten unternommen hatte, | |
um zu ergründen, was im Kopf einer Amsel vorgeht. | |
## Die Grenzen der Entgrenzung | |
Falls es einen angeborenen Hang zum Schamanismus gibt, so ist Charles | |
Foster vermutlich davon befallen. Aber falls am Ende seines Buches ein | |
Ergebnis steht, so ist es wohl die Erkenntnis, dass der Entgrenzung | |
zwischen den Arten natürliche Grenzen gesetzt sind. Nie wird Mr. Foster, | |
obwohl er es einen ganzen Tag lang versucht hat, einen Fisch fangen können | |
wie ein Otter. Und um dem Lebensgefühl eines Mauerseglers auch nur | |
annähernd nachspüren zu können, ist die menschliche Körperhülle wohl | |
einfach zu schwer, erdgebunden und behäbig. Auf jeden Fall sind diese | |
Selbstversuche anregende Lektüre und, wenn man will, Anleitung zum | |
Gedankenexperiment. | |
Doch bei aller speziesübergreifenden Empathie handelt Fosters Buch im | |
Grunde erst in zweiter Linie von all den anderen Tieren. Wer sich für das | |
Leben der Dachse, Hirsche oder Füchse interessiert, erfährt aus einem | |
beliebigen „Tiere unseres Waldes“-Titel vermutlich mehr. Was Charles Foster | |
vor allem be- und umschreibt, sind die Existenzmöglichkeiten der Spezies | |
Mensch. | |
In allererster Linie aber handelt sein Buch von einem ganz speziellen | |
Exemplar des Homo sapiens. Es hört auf den Namen „Charles Foster“ und ist | |
ein hochinteressantes Individuum, vermutlich hochbegabt, vielleicht | |
hyperaktiv, hypersensibel, vielleicht mit spirituellen Fähigkeiten, | |
vielleicht auch nur mit zahlreichen Neurosen gesegnet. Als Vertreter seiner | |
Gattung ist es wohl keinesfalls typisch, aber zweifellos faszinierend. | |
24 Feb 2018 | |
## AUTOREN | |
Katharina Granzin | |
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