# taz.de -- DGB-Landeschef über seine Flucht: „Mit 40 Pfennig nach Dänemark… | |
> Mehrdad Payandeh floh aus dem Iran, arbeitete in Deutschland erst im | |
> Quelle-Lager und ist jetzt Chef des DGB in Niedersachsen und Bremen. | |
Bild: Sein Büro wird noch renoviert: DGB-Landeschef Mehrdad Payandeh | |
Herr Payandeh, wie erleben Sie beim Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) | |
Alltagsrassismus? | |
Mehrdad Payandeh: Eigentlich gar nicht. In meinem Arbeitsumfeld sind | |
Menschen, die sich gegen Rassismus engagieren. Entsprechend hatte ich nie | |
das Gefühl, dass ich ein anderes Wesen wäre, eine Art ausländischer Alien. | |
Kaum zu glauben, dass es solche Probleme beim DGB nicht gibt. | |
Ich habe gerade über meine Kolleginnen und Kollegen gesprochen. Ich weiß | |
nicht, ob ein Zuhörer rassistisch denkt, wenn ich irgendwo einen Vortrag | |
halte. Aber ich weiß, dass acht Prozent der Gewerkschaftsmitglieder in | |
Niedersachsen AfD gewählt haben. | |
Warum ist es so ein großes Ding, dass Sie als Migrant in Deutschland Chef | |
geworden sind? | |
Es zeigt, dass sich diese Gesellschaft geöffnet hat. Es gibt | |
Aufstiegschancen für diejenigen, die eine andere Herkunft haben – auch wenn | |
sie wie ich in der ersten Generation hergekommen sind. Es ist positiv, dass | |
die deutschen Gewerkschaften hier eine Vorreiterrolle spielen. Wenn ein | |
Geflüchteter DGB-Chef wird, zeigen wir den Rechtspopulisten die Stirn. | |
Warum sind Sie im Sommer 1985 aus dem Iran geflohen? | |
Die Universitäten waren dicht. Ausreisen durfte niemand. Der Iran war | |
praktisch ein großes Gefängnis ohne Möglichkeiten. Also wurde ich | |
Saisonarbeiter und habe beim Bau von Großanlagen mitgearbeitet. Wir | |
gehörten nicht zur Stammbelegschaft und sollten deshalb kein Weihnachtsgeld | |
bekommen. | |
Weihnachtsgeld im Iran? | |
Es gibt beim iranischen Neujahrsfest auch so etwas wie Weihnachtsgeld, eine | |
jährliche Sonderzahlung. Das haben alle bekommen. Aber sie wollten es den | |
Saisonarbeitern vorenthalten und es in die eigene Tasche stecken. Wir haben | |
dagegen gestreikt und ich gehörte zu den Anführern. Wir haben eine Gruppe | |
gegründet, ähnlich wie ein Betriebsrat. | |
So etwas durfte es im Iran nicht geben? | |
Nein. Es gab und gibt nur islamische Betriebsräte. Die sind Augen und Ohren | |
des Regimes. Freie Betriebsräte aus einer Bewegung heraus darf es nach den | |
Vorstellungen des Regimes nicht geben. Wir haben uns tatsächlich | |
durchgesetzt und das Geld bekommen. Aber weil da etwas außer Kontrolle | |
geraten war, war klar, dass das Regime das nicht dulden wollte. | |
Und wie haben Sie mitbekommen, dass es für Sie gefährlich wird? | |
Wir wurden gesucht. Es gab zum damaligen Zeitpunkt sogenannte | |
Revolutionskomitees. Die patrouillierten überall, verfolgten Frauen, die | |
geschminkt waren oder Männer, wenn sie kurzärmelige T-Shirts trugen. Das | |
war ein totaler Überwachungsstaat. Mein Vater war mein Chef. Weil er | |
gestorben ist, kann ich es jetzt locker sagen: Er hat uns immer | |
Informationen weitergeleitet. So wussten wir, wie gegen uns vorgegangen | |
wurde. | |
Was sollte passieren? | |
Also eine Verhaftung auf jeden Fall. Die Begründung war gar nicht unser | |
Streik, sondern es hieß dann, wir seien konterrevolutionär oder der | |
verlängerte Arm der CIA. | |
Wann haben Sie sich zur Flucht entschieden? | |
Als Mitte der 80er-Jahre die Grenzen geöffnet wurden und wir ohne Visum in | |
die Türkei einreisen durften, haben sehr viele Menschen das Land verlassen. | |
Als ich erfahren habe, dass es langsam eng wird, habe ich meinem Vater | |
gesagt, dass ich zwei Wochen Urlaub brauche. Ich konnte ihm nicht den | |
wahren Grund sagen. | |
Warum nicht? | |
Wissen Sie, über Fluchtpläne redet man nicht mit vielen. Man entscheidet | |
sich und geht. Wenn jemand zu viel debattiert, gefährdet er sein Leben. Es | |
gab schon richtige Repression im Iran. Verwandte von mir wurden | |
hingerichtet. Es war klar, man redet mit niemandem, wenn man so etwas | |
plant. | |
Was haben Sie mitgenommen? | |
Fast nichts. Eine Jeans, ein Hemd mit blauen Karos und ein paar Sachen, die | |
man zu Geld machen konnte: Iranischen Kaviar, eine goldene Uhr. Das habe | |
ich rausgeschmuggelt. | |
Was war ihr Ziel? | |
Erst mal hatte ich kein Ziel. Ich wollte nur raus aus dem Iran, weil ich | |
Angst um mein Leben hatte. Bei meiner Flucht war mein Cousin dabei. Er | |
hatte eine Greencard für die USA. Wir sind zusammen mit dem Bus zur | |
türkischen Grenze gefahren. Eine lange Strecke. Damals war an jeder | |
Autobahn alle paar Kilometer eine Kontrollstation. Dann sind die Beamten in | |
den Bus gekommen und wenn sie jemanden verdächtigt haben, musste man | |
aussteigen und sich durchsuchen lassen. | |
Ist Ihnen das passiert? | |
Mein Cousin, der Blödmann, konnte sich überhaupt nicht verstellen – und es | |
war mein Leben gefährdet, nicht seines. Er durfte ja ausreisen. Aber jedes | |
Mal hat er so komisch geguckt und wurde dann rausgezogen. Und dann hat er | |
hat auch noch gesagt: „Das ist mein Cousin“ und ich musste mit raus. Ich | |
war so erleichtert, als wir endlich an der türkischen Seite ankamen. Ich | |
hatte Tränen in den Augen, weil es geklappt hat – und war gleichzeitig | |
total sauer auf meinen Cousin. | |
Und dann? | |
Ich bin einen Monat in Istanbul geblieben, habe dann aber gemerkt, dass es | |
dort keine Möglichkeit für mich gibt, weil es ein Auslieferungsabkommen | |
zwischen der Türkei und dem Iran gab. Also musste ich weiter. Ich | |
beschloss, über Ostberlin mit der Fähre nach Dänemark zu reisen. | |
Warum sind Sie nicht bis Dänemark gekommen? | |
Weil die Ostdeutschen kaum Englisch konnten. Ich habe Leute nach dem Weg | |
gefragt und kein Wort verstanden. Irgendwann habe ich jemanden gefunden, | |
der mir aufgeschrieben hat, welches Ticket ich kaufen muss. Im Ostbahnhof | |
hieß es dann 40 Pfennig. Ich war Linker und dachte, das nennt man | |
Sozialismus. Da kannst du mit 40 Pfennig nach Dänemark. Ich kam damit bis | |
in die Friedrichstraße nach Westberlin. | |
Wie war das Leben in einer Flüchtlingsunterkunft? | |
Später, in Karlsruhe war ich in einer großen Sammelunterkunft | |
untergebracht. Es war nicht angenehm, weil so viele Menschen dort waren. Es | |
ist laut. Man versteht die Sprachen nicht und ist alleine. In Ludwigsburg | |
war es noch schlimmer. | |
Warum? | |
Der Chef des Wohnheims hat alle schikaniert. Wir mussten immer fegen, | |
wurden herumkommandiert. Das war wie im Gefängnis. Wenn man Nein gesagt | |
hat, hat er eigenmächtig unser Taschengeld gekürzt. Da habe ich einen | |
Streik in der Unterkunft angezettelt. Danach hat sich die Lage dort ein | |
bisschen verbessert. | |
Wie ging es für Sie weiter? | |
Ich durfte anderthalb Jahre lang gar nichts machen. Tote Hose. Du siehst, | |
dass alle anderen arbeiten gehen und ein aktives Leben haben. Das ist | |
frustrierend. Ich habe Deutsch gelernt und wollte studieren. Aber mein | |
Abitur, wurde nicht anerkannt. Eine Begründung gab es nicht. | |
Was haben Sie stattdessen gemacht? | |
Unnötigerweise eine Umschulung zum Datenverarbeitungskaufmann. Da hat man | |
mich reingedrängt. Zwei Jahre verlorene Zeit. Dann habe ich vier Jahre als | |
Lagerarbeiter bei Quelle gearbeitet. Erst dann habe ich über die Jusos und | |
Gewerkschafter erfahren, dass ich in Hamburg über den zweiten Bildungsweg | |
studieren kann. Ich wäre nicht von alleine auf die Idee gekommen, dass mir | |
ein anderes Bundesland die Möglichkeit gibt, zu studieren. | |
Haben Sie aufgrund Ihrer eigenen Fluchtgeschichte einen besonderen Blick | |
auf die Situation von Geflüchteten in Deutschland? | |
Nein. Ich bin seit 33 Jahren hier. Das sind Anekdoten aus meiner Biografie, | |
aber in meinem Alltag bin ich Ökonom und Gewerkschafter. | |
Nervt es Sie, dass Sie, seitdem Sie DGB-Chef sind, ständig wieder auf Ihre | |
Fluchtgeschichte angesprochen werden? | |
Ein bisschen ja. Ich habe das Kapitel abgeschlossen. Ich habe es nie | |
gemocht, wie ein Ausländerbeauftragter behandelt zu werden. Das empfinde | |
ich als Stigmatisierung. Ich bin Teil dieser Gesellschaft und ich möchte | |
als jemand wahrgenommen werden, der sich für alle sozial benachteiligten | |
Menschen einsetzt. Nicht nur für Geflüchtete. Ich habe mehr zu bieten als | |
eine exotische Vergangenheit. | |
Sie wurden mit 99 Prozent zum Landesvorsitzenden gewählt. Macht Ihnen so | |
ein Wert als langjähriges SPD-Mitglied Angst? | |
Zum Glück sind es keine 100 Prozent. Aber das ist schon ein sehr großer | |
Vertrauensvorschuss und damit sind Erwartungen und Verantwortung verbunden. | |
Haben Sie ein konkretes Projekt, das Sie angehen wollen? | |
Niedersachsen ist ein Bundesland, das ökonomisch sehr stabil ist. Wir haben | |
ein gutes Schulsystem, sehr gute Industrie und innovative Zentren. In den | |
Schlagzeilen geht es aber um den Missbrauch von Werkverträgen und Menschen, | |
die zusammengepfercht und in der Fleischindustrie ausgebeutet werden. | |
Solche Unternehmen machen aber nur einen Bruchteil der niedersächsischen | |
Wirtschaft aus. | |
Aber ist es nicht Ihre Aufgabe als Gewerkschaft, auf solche Probleme | |
hinzuweisen? | |
D’accord. Ich möchte gemeinsam mit den Unternehmen, die gute Arbeit | |
schaffen, die Mitbestimmung achten und sich an Tarifverträge halten, ein | |
Bündnis bilden gegen diejenigen, die unfairen Wettbewerb wollen. Ich möchte | |
gute Arbeit zum Markenzeichen Niedersachsens machen. | |
21 Feb 2018 | |
## AUTOREN | |
Andrea Scharpen | |
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