# taz.de -- Die Wahrheit: Pedalist des Herrn | |
> Deutsche Schicksale: Auf der Strecke nach Santiago de Compostela wird der | |
> Langsamwallradfahrer Ingolf Petersen aus Neumünster vermisst. | |
Bild: Nimmt selbst beim Geißeln den Helm nicht ab: Ingolf Petersen | |
Ingolf Petersen erlitt vor zwei Jahren in seiner Heimatstadt Neumünster | |
einen grässlichen Fahrradunfall. Trotz zahlreicher, teils offener | |
Knochenbrüche und lebensbedrohlicher Organquetschungen überlebte er aber | |
den Frontalzusammenstoß mit einem Lkw. Und war nach nur einem Jahr – was | |
für seine Ärzte fast an ein Wunder grenzte – bis auf wenige Beschwerden | |
wieder genesen. Der gläubige Katholik hat deshalb ein „Gelübde der | |
Dankbarkeit“ abgelegt. „Sollte ich wieder gesund werden“, so gelobte der | |
damals 56-Jährige noch im Krankenhaus, „werde ich eine Fahrradwallfahrt ins | |
spanische Santiago de Compostela unternehmen. Das aber nicht im normalen | |
Tempo, sondern so langsam wie möglich.“ | |
Wie gelobt, so getan. Im Juli 2017 fühlte sich Petersen fit genug, um den | |
gut 2.500 Kilometer langen Pilgerradweg nach Spanien anzugehen. Und da er | |
vom Start weg in Neumünster tatsächlich so langsam fuhr, wie das mit einem | |
Fahrrad nur irgend geht, hatte er es nach vierzehn Tagen mal gerade bis | |
Hamburg-Wilhelmsburg geschafft, wo wir ihm zufällig begegneten. | |
Aufgefallen war uns der Radpilger zunächst gar nicht wegen seiner | |
Fahrweise, sondern wegen eines Gesangs, den er lauthals anstimmte. Das | |
berühmte „Danke“, von ihm nach seiner Fasson umgetextet: „Danke, o Herr, | |
für keinen Regen / Danke, für kräftig Gegenwind / Danke, dass nicht auf | |
meinen Wegen, spitze Steine sind“, so erklang es da nach frommer Pilger | |
Art. Und so lautete die zweite Strophe: „Danke, für immer Luft im Reifen / | |
Danke für gutes Kettenfett / Danke für keine Hinternblasen / und kein Wolf | |
im Schritt.“ Keine Frage. Den Typen wollten wir kennenlernen. | |
## Strenge Pilgerregeln | |
Für uns extra anhalten oder gar absteigen sei ihm durch selbst auferlegte | |
Pilgerregeln untersagt, erklärte uns Petersen als Erstes. „Bis zum | |
Abendgebet gilt: Steige niemals vom Rad, bevor du das vorgeschriebene | |
Tagessoll von acht Stunden im Sattel nicht erfüllt hast. Das gilt | |
selbstverständlich auch für die Pausen“, sagte er, und fügte grinsend | |
hinzu: „Alle Pausen.“ | |
Was er damit meinte, konnten wir später beobachten, als er auf einer | |
weniger frequentierten Strecke sein Wasser abschlug, ohne dafür die | |
Wallfahrt zu unterbrechen. „Langsamradfahren heißt: Man steht da praktisch | |
mehr als man fährt. Und eigentlich ist man immer kurz vorm Umfallen“, | |
erläuterte uns Petersen, während er die Elbe auf der pittoresken Brücke | |
zwischen Wilhelmsburg und Harburg in Zeitlupe querte. Er schaffe im | |
Durchschnitt knapp einen Kilometer pro Stunde. „Ein Tempo, bei dem ich, so | |
Gott der Herr will, bis Spanien etwas mehr als ein Jahr brauche.“ | |
Ärgerlich, wenn ihn Gott dann auch noch auf einen Umweg schickt, wie es | |
Petersen kurz darauf passierte. Doch ohne zu murren, nahm der | |
Gottesfürchtige auch diese Prüfung auf sich und radelte den ganzen falschen | |
Weg zurück – so langsam wie er zuvor auf ihm in die Irre gefahren war. | |
## Fester Fahrradschlauch | |
Um nicht doch einmal „dem Satan zu erliegen“ und gegen die Regeln vorzeitig | |
abzusteigen, hat sich Petersen mit sogenannten Klickpedalen gleichsam an | |
sein Rad genagelt. „Da kann natürlich schon ein kleiner Fahrfehler dazu | |
führen, dass man lang hinschlägt.“ Sprach’s und geriet prompt auf den | |
unbefestigten Seitenstreifen des Weges, strauchelte – und stürzte. Und dann | |
geschah etwas sehr Irritierendes. Kaum hatte sich Petersen wieder | |
aufgerappelt und sein Rad aufgestellt, holte er, dabei gebetsartig | |
Unverständliches vor sich hinmurmelnd, einen Fahrradschlauch aus der | |
Satteltasche. Er prüfte dessen Festigkeit, indem er ihn einige Male kräftig | |
mit den Händen spannte. Dann zog er sich das T-Shirt aus, kniete am | |
Wegesrand nieder und hob an, seinen nackten Rücken mit dem Schlauch zu | |
geißeln. Schon nach wenigen Schlägen bildeten sich rote, teils blutige | |
Striemen, doch Petersen hieb noch einige Zeit unter abgehackt vorgestoßenen | |
Schuldbezichtigungen weiter auf sich ein, vor Schmerzen stöhnend. | |
Kurz darauf saß er wieder, leichthin mit uns plaudernd, auf dem Rad. „Zu | |
meinen Pilgerregeln zählen eben auch solche strengen Exerzitien. Da kenne | |
ich gar kein Pardon“, sagte er entschieden und setzte dann seine | |
Schleichfahrt auf dem jetzt mit grobem Kopfstein gepflasterten Radweg | |
Richtung Süden fort. Wir blieben zurück, hörten ihn aber noch eine Weile | |
singen: „Danke für dieses Kopfsteinpflaster / Danke, o Herr, für diese Qual | |
/ Danke, dass Du mich leiden lässt, in meinem Jammertal.“ | |
Über ein halbes Jahr ist das her. Gern wüssten wir, wie es dem | |
Langsamwallradfahrer jetzt wohl geht. Doch alle Versuche, ihn ausfindig zu | |
machen, scheiterten. Unseren Berechnungen nach müsste Petersen dieser Tage | |
im zentralen Frankreich unterwegs sein. Wer etwas über seinen Verbleib | |
weiß, kontaktiere bitte die Redaktion. Danke! | |
14 Feb 2018 | |
## AUTOREN | |
Fritz Tietz | |
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