| # taz.de -- Türkische Grenzstadt in Angst: Der Krieg vor der Haustür | |
| > In Kilis leben die Menschen seit Jahren an der Front. Jetzt sind sie | |
| > unmittelbar vom Krieg betroffen. Die türkische Militäroffensive in Afrin | |
| > fordert erste Todesopfer | |
| Bild: Totenstille auf den Straßen der Grenzstadt Kilis | |
| Muzaffer Aydemir und Tariq Tabbaq sind die ersten Zivilisten, die in der | |
| Grenzstadt Kilis der Militäroffensive „Operation Olivenzweig“ zum Opfer | |
| gefallen sind. Sie wurden vergangenen Mittwoch durch einen Raketeneinschlag | |
| in die Kuppel der Çalık-Moschee getötet, während das Abendgebet besuchten. | |
| Noch während der Rauch aus der bombardierten Moscheekuppel aufstieg, schlug | |
| hundert Meter weiter eine zweite Rakete in das Haus einer syrischen Familie | |
| ein. | |
| Laut den türkischen Behörden stammen diese Raketen aus Afrin, das derzeit | |
| von der YPG kontrolliert wird. Seit dem Beginn der Offensive gegen die | |
| Kurdenmiliz in Nordsyrien am 20. Januar seien mindestens 20 Raketen in | |
| Kilis eingeschlagen. | |
| Das Haus der 58-jährigen Gülizar Polat ist durch die Detonation der Bombe | |
| völlig unbewohnbar geworden. Auch der Traktor, der in ihrer Garage stand, | |
| ist zerstört. „Wie sollen wir jetzt unseren Lebensunterhalt verdienen? Wir | |
| hatten den Traktor noch nicht abbezahlt, wie wollen wir jetzt unseren | |
| Lebensunterhalt verdienen? Bitte seht nicht weg, die Türkei darf nicht wie | |
| Syrien werden“, sagt die vierfache Mutter. | |
| Die Anspannung ist in der Bevölkerung von Kilis deutlich zu merken. | |
| Grenznahe Wohngebiete sind zu „Sondersicherheitsgebieten“ erklärt worden. | |
| Wer hier wohnt, steht de facto unter Hausarrest. Einer von ihnen ist der | |
| 29-Jährige Bünyamin Polat. Er spürt, dass schwere Tage bevorstehen. Auch | |
| wenn er der Meinung ist, die Menschen hier müssten ihr Land verteidigen, | |
| sagt er doch, dass er nicht Angst leben wolle. Er sehne sich nach Frieden | |
| und Ruhe. | |
| ## Protest gegen die, die Kilis verlassen | |
| Auch Journalist*innen dürfen diese Gebiete nicht betreten. Über der ganzen | |
| Stadt liegt eine Totenstille; Straßen und Marktplätze sind leer gefegt, | |
| Geschäfte kaum besucht. Der Teeverkäufer Selçuk, der seinen Laden in einer | |
| Passage in Kilis hat, erzählt, dass das Einzelgewerbe in einer sehr | |
| schwierigen Lage sei. Vor dem Krieg habe er gut verdient, aber nun sei die | |
| Wirtschaft am Boden, die Mieten gestiegen und wegen der Bomben gebe es | |
| keine Arbeit. | |
| An der Trauerfeier für Aydemir und Tabbaq nehmen kaum Leute teil. Der | |
| 72-jährige Schneider und der 28-Jähriger Geflüchtete aus Syrien, der als | |
| Simit-Verkäufer sein Geld verdiente, werden als Märtyrer verabschiedet. | |
| Ihre Särge sind in türkische Nationalfahnen eingeschlagen, auf Tabbaqs Sarg | |
| liegt zusätzlich noch eine Fahne der Freien Syrischen Armee. | |
| Am Busbahnhof trifft man dieser Tage viele Studierende und ganze Familien, | |
| die infolge der Auseinandersetzungen Tickets kaufen, um ins sicherere | |
| Umland zu fahren. Manche Männer erzählen, dass sie ihre Familien längst in | |
| Sicherheit gebracht haben. Das bleibt nicht unbemerkt. Autokonvois mit | |
| türkischen Fahnen verfluchen jene, die die Stadt verlassen oder ihre | |
| Geschäfte schließen und solidarisieren sich hupend mit der türkischen | |
| Armee. Manche Konvoi-Aktivisten rufen aus dem Auto, dass sie in den Kampf | |
| nach Afrin ziehen wollen und nur auf einen Marschbefehl vom Reis, ihrem | |
| Führer, also Staatspräsident Erdoğan, warten. | |
| „Viele aus unserem Haus sind zu ihren Verwandten nach Gaziantep gezogen, | |
| ich aber nicht“, sagt Zeynep Açıkel. Die 70-Jährige will in Kilis bleiben. | |
| „Manche verlassen aus Angst die Stadt. Schon früher sind hunderte Bomben | |
| auf Kilis gefallen, aber ich bin nicht gegangen. Wenn ich sterbe, dann in | |
| meinem Heimatland.“ | |
| Zumindest aus der Entfernung ist der Krieg für die Bewohner von Kilis schon | |
| seit einigen Jahren ein Bekannter. Seit dem Beginn des Bürgerkriegs in | |
| Syrien 2012 sind die heftigen Gefechte auf der syrischen Seite samt | |
| Artillerieeinschlägen in den grenznahen Dörfern deutlich zu hören, die | |
| Rauchwolken und pulverisierten Überreste der Zerstörung kann man mit bloßem | |
| Auge sehen. Die Zahl der aus Syrien stammenden Geflüchteten ist so hoch wie | |
| die ursprüngliche Einwohnerzahl. Auf den Hauptstraßen sieht man | |
| mittlerweile mehr arabische Ladenschilder als türkische und es gibt | |
| Viertel, in denen ausschließlich Syrer*innen leben. | |
| ## Mehr Angst als sie zugeben wollen | |
| Doch seit dem 20. Januar ist der Krieg ein ganzes Stück näher gekommen: | |
| Raketeneinschläge, beschädigte Wohnhäuser und Verletzte, die auf Bahren ins | |
| nächste Krankenhaus gebracht werden. Ein Paketzusteller hat seine | |
| Dienstleistungen eingestellt, weil die Sicherheit seiner Mitarbeiter*innen | |
| nicht mehr gewährleistet ist. Die Entscheidung hat eine Gruppe von | |
| Nationalisten derart verärgert, dass sie vor dem Büro des Paketzustellers | |
| eine Protestdemonstration veranstalteten und den Betreiber als | |
| “Landesverräter“ beschimpften. | |
| Schon ein kleiner Spaziergang über die Geschäftsstraße von Kilis reicht, um | |
| die nationalistische und konservativ-islamische Stimmung zu spüren. Sie ist | |
| so dominant, dass die Menschen zögern, ihre Meinung zu sagen und mehr Angst | |
| zu haben scheinen, als sie zugeben. | |
| Es ist nicht nur der Paketzusteller, der seine Rollläden dauerhaft | |
| heruntergelassen hat. Aufgrund der Sicherheitslage haben viele kleinere und | |
| mittlere Firmen Kilis verlassen, vor allem im Bausektor, dem wichtigster | |
| Arbeitgeber der Stadt. Für Neubauten finden sich ohnehin kaum noch | |
| Abnehmer, so dass viele Bauunternehmer abgewandert sind. | |
| Die Einwohner*innen von Kilis kämpfen immer noch mit den Folgen einer | |
| unmittelbaren Nachbarschaft zum sogenannten Islamischen Staat. Der mühsam | |
| wieder errungene Alltag wird nun von der Militäroperation gegen Afrin | |
| hinweggefegt. Trotzdem sagen viele, dass sie sich wünschen, die Grenze und | |
| das Umland würden “vom Terror gereinigt“, eine Formulierung, die die | |
| Regierung für ihr kriegerisches Vorgehen benutzt. | |
| Und dennoch bekommt man den Eindruck, dass die Bevölkerung zwiegespalten | |
| ist. Der eine Teil feiert fanatisch die Afrin-Operation. Der andere Teil | |
| beklagt sich, dass die Verantwortlichen die Stadt im Stich gelassen haben. | |
| Niemand kümmert sich um ihr Schicksal. Die Plakate, die letztes Jahr noch | |
| als Reaktion auf die bewaffneten Auseinandersetzungen in den Schaufenstern | |
| vieler Geschäfte zu sehen waren, sind jetzt weg: “Kilis stirbt. Danke | |
| Vaterland!“ wagt heute niemand mehr zu schreiben. | |
| Am 27. Januar besucht der Generalstabschef des türkischen Militärs, Hulusi | |
| Akar Kilis. „Es wird bald vorbei sein, alles wird gut“, verspricht er den | |
| Bürger*innen von Kilis. | |
| Aus dem Türkischen von Oliver Kontny | |
| 29 Jan 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Nurcan Onur | |
| ## TAGS | |
| taz.gazete | |
| Türkei | |
| Schwerpunkt Syrien | |
| Schwerpunkt Syrien | |
| Türkei | |
| Türkei | |
| taz.gazete | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Türkische Offensive in Syrien: Sieben türkische Soldaten getötet | |
| Ankara geht weiter gegen die syrischen Kurden vor. Dabei sterben sieben | |
| Soldaten. In Deutschland und Frankreich protestieren Tausende gegen die | |
| Offensive. | |
| Krieg in Syrien: Kein Ausweg mehr für Flüchtlinge | |
| In der syrischen Provinz Idlib treibt das Assad-Regime die Menschen in die | |
| Flucht. Sichere Orte gibt es dort nicht mehr. | |
| Krieg in Syrien: In Afrin wird wieder geschossen | |
| In Nordsyrien liefern sich Kurden und Türken heftige Kämpfe. Zudem wurden | |
| ein Staudamm und archäologische Stätten beschädigt. | |
| Aufgelöste Kurden-Demo in Köln: 20.000 gegen Erdoğan | |
| Tausende Menschen haben gegen den Angriff der Türkei auf Kurden in Syrien | |
| demonstriert. Wegen zahlreicher PKK- Symbole löste die Polizei die Demo | |
| auf. | |
| Türkischer Einmarsch in Afrin: Erdoğans Krieg | |
| Machtdemonstration und verordneter Patriotismus: Das Kalkül, das der | |
| türkische Präsident mit dem Einmarsch in Afrin verfolgt, geht bislang auf. |