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# taz.de -- Eklat in türkischer #MeToo-Debatte: Schreiben über das Unsagbare
> Die Autorin Aslı Tohumcu beschreibt in einem Magazin selbst erlebte
> sexuelle Übergriffe aus Tätersicht. Damit löst sie eine Welle der
> Empörung aus.
Bild: Eine Perspektive, die provoziert: Aslı Tohumcu kehrt #MeToo in #YouToo um
Mit einem literarischen Beitrag zur #MeToo-Debatte hat sich die türkische
Autorin Aslı Tohumcu unversehens zur Zielscheibe einer Welle von Empörung
und Häme gemacht. In der Dezember-Ausgabe des Literaturmagazins Bavul stand
ihr Text „Auch du hast es getan, auch du!“, epigraphisch überschrieben mit:
„Beitrag mit 'wahren’ Geschichten, zur Anregung für Männer aus
Männerperspektive erzählt’“: acht Szenen, in denen Männer „berichten�…
sie ein Mädchen, eine junge Frau, eine Ehefrau, eine Mitarbeiterin
belästigen und das Opfer hilflos, beschämt, verzweifelt zurücklassen.
Statt Solidarität zu erfahren und eine konstruktive Debatte auszulösen,
trat Tohumcu damit jedoch eine Welle der Empörung los, der Text wurde als
„unsittlich, sexistisch, erotisch, pornographisch, lustvoll geschrieben,
die Gefühle der Opfer verletzend und benutzend“ geschmäht. Es wurde an die
Verantwortung der Redaktion appelliert und eine – mittlerweile abgewiesene
– Beschwerde beim Presserat eingereicht.
Sieben der acht Episoden sind kürzere Szenen, wie viele Frauen und Mädchen
sie in ähnlicher Weise erlebt haben. Stein des Anstoßes ist die erste
Szene:
#MeToo Auch ich rieb mich im städtischen Bus an einer Grundschülerin. Auf
der Linie Altıparmak-Çekirge. Sie war einfach nur auf dem Heimweg von der
Schule. Ich stellte mir ihr weißes Baumwollhöschen unter der schwarz-weißen
Schuluniform vor und presste mein Ding gegen ihren kleinen Arsch. In der
dicht gedrängten Menge konnte sie nicht weg. Zum ersten Mal passierte ihr
so etwas, sie war wirklich noch sehr jung, wie vom Donner gerührt erstarrte
sie. Bis Çekirge hatte ich meinen Spaß. Ich schubberte vor und zurück und
hin und her und kam sogar. Als die Leute ausstiegen, stand sie immer noch
reglos da, weinte. Ich stieg aus, fuhr mit derselben Linie zurück, dorthin,
wohin ich ursprünglich wollte. Erst als Gymnasiastin traute die Kleine sich
wieder in einen Bus.
## „Das Mädchen, die Frauen im Text bin ich“
Diese Sätze wurden von vielen als „pornografisch“ und „Empathie für den
Täter“ empfunden. Empathie entwickelt Tohumcu insofern, als sie deutlich
macht, wie überlegen und sicher die Täter sich fühlen, wie wenig sie die
Psychologie ihrer Opfer kümmert, wie sie sich zum Teil sogar an deren
Hilflosigkeit und Entsetzen aufgeilen.
Verfremdung, Umkehr oder Diversifizierung der Erzählperspektive sind
probate literarische Mittel. Ausdruck für Unsagbares, für Unsägliches zu
finden, gehört zu den Grundmotivationen von SchriftstellerInnen. Aslı
Tohumcu verfasst sowohl fiktive literarische wie auch journalistische
Texte, sie widmet sich bevorzugt problematischen zwischenmenschlichen
Beziehungen, Gewalt gegen Frauen und Kinder steht häufig im Fokus ihrer
engagierten Literatur. Immer wieder experimentiert sie mit Textformen und
Perspektiven.
Ihr aktueller Beitrag zur #MeToo-Debatte ist als „wahre Geschichten“
gekennzeichnet, hebt sich allerdings durch literarisierte Form von einem
schlichten Erlebnisbericht ab. Ohne hohen literarischen Anspruch ist es ein
Versuch, eine Sprache für traumatisch Erlebtes zu finden. „Die Mädchen, die
Frauen im Text bin ich“, machte sie auf Twitter klar, als die Kritik
hochkochte.
Am 20. Dezember sah sie sich genötigt, eine Erklärung nachzuschieben:
Selbstverständlich habe sie nicht beabsichtigt, Opfer zu verletzen, Täter
zu rühmen oder gar zu ermutigen. „Seit 20 Jahren schreibe ich in meinen
Erzählungen und Romanen aus Frauenperspektive über Männergewalt. In diesem
Text tat ich das Gegenteil, versuchte, aus Tätersicht zu schreiben.
Offenbar wurde die Art, wie ich über mich nach wie vor schmerzende Traumata
schrieb, als problematisch empfunden.“ Darüber sei zu diskutieren, sie habe
von diesem Schmerz bewusst in einer „brutalen Sprache“ berichten wollen.
## Verantwortung abgeschoben
Daraufhin erklärte die Bavul-Redaktion ebenfalls über Twitter, in den
sozialen Medien sei der erste Absatz aus dem Zusammenhang gerissen und ohne
Namen der Autorin verbreitet worden, weshalb er missverstanden werden
konnte. Letztlich schiebt die Redaktion die Verantwortung auf die Autorin
ab, die man nicht habe zensieren wollen, und entschuldigt sich bei den
LeserInnen, die „entgegen unserer Absicht aufgrund des Stils des Textes
glauben, wir wollten das erlebte Trauma reproduzieren, und sich davon
verletzt fühlen“. Man habe auch von ihr eine Entschuldigung erwartet,
berichtet Tohumcu enttäuscht.
Unterstützer dagegen meldeten sich nur wenige öffentlich zu Wort,
vorwiegend männliche Autorenkollegen. Tohumcu sagt, Männer hätten ihr
gegenüber geäußert, der Text habe sie veranlasst, eigenes Verhalten zu
überdenken. Auch von Frauen habe sie privat eine Menge Zuspruch erhalten.
Eindeutig positionierte sich Kultautor Murat Uyurkulak: „Ich fühle Aslı
Tohumcu in meinen Adern“ schrieb er in seinem Artikel „Lasst endlich die
Vergewaltigten reden!“ (Gazeteduvar, 21.12.17). Er schildert einen als Kind
erlittenen Missbrauch, ein Trauma, das manche erfahren (haben), aber
durchweg beschweigen. Ein gesellschaftlicher Diskurs über Kindesmissbrauch
findet kaum statt – außer als empörte Reaktion auf Gesetzesinitiativen zu
Straffreiheit von Tätern, die ihr minderjähriges Opfer heiraten, oder über
die angebliche Ehefähigkeit von Mädchen ab neun Jahren, die die
Religionsbehörde jüngst postulierte.
Uyurkulak baute bereits in seinen Debütroman Zorn einen Hinweis auf das
traumatische Kindheitserlebnis ein, jetzt führt er die damals angedeutete
Szene aus und berichtet, was der Missbrauch für sein Leben bedeutet, noch
heute, auch wenn er immer wieder auf unterschiedliche Weise versuchte, ihn
zu bewältigen. Sein Text ist nicht „lustvoll“ erzählt, sondern in dem
Stottern der Verstörung. Aus der ursprünglichen #MeToo-Perspektive des
Betroffenen, der – wie aus den Reaktionen auf Aslı Tohumcu ersichtlich –
offenbar erwarteten, akzeptierten Sichtweise.
## In welcher Sprache kann man über Traumata sprechen?
Wenn auch in ungewollter Weise erfüllte der Eklat doch einen Zweck der
#MeToo-Debatte: Er hat für Aufmerksamkeit und Sichtbarkeit gesorgt. Doch
eine Debatte darüber, wie Abhilfe geschaffen werden kann, schloss sich
nicht an. Stattdessen geht es weiter, wie es vor #MeToo üblich war und
vielfach weiter üblich ist: Das Opfer wird der Provokation bezichtigt, wird
zum Täter oder zumindest Komplizen gemacht und zum Schweigen gebracht.
Damit sind die wahren Täter aus dem Blickfeld und letztlich fein heraus.
Doch nicht die Opfer sollten sich mies fühlen und verstummen, egal auf
welche Art sie von dem, was ihnen angetan wurde, berichten, sondern die
Täter. Hasskommentare und Häme, wie sie Aslı Tohumcu für ihren
literarisierten Bekenntnistext entgegenschlugen, entlassen aber wieder
einmal nur die Täter aus der Verantwortung. #YouToo lautet der Titel ihres
Textes verkürzt, und sie hofft weiter auf „Vorschläge in Literatur und
Workshops“, in welcher Sprache es möglich sein kann, von solchen Traumata
zu reden, sowie auf Einsicht und Selbstkritik der Täter.
Ein Schritt in diese Richtung verspricht die am 10. Januar gestartete
Initiative „52 Männer schreiben 52 Wochen lang auf Bianet über
Männergewalt“ zu werden, die ein türkischer Beitrag zu #HowIWillChange sein
will.
10 Jan 2018
## AUTOREN
Sabine Adatepe
## TAGS
taz.gazete
Literaturbetrieb
Sexismus
Schwerpunkt #metoo
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