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# taz.de -- Die Wahrheit: Mysteriöse Mustermanns
> Man grüßt sich, man redet miteinander, seit Jahren kennt man die Nachbarn
> von Gegenüber, nur ihre Namen nicht …
Schlimm, nicht wahr, das anonyme Nebeneinanderleben in Großstädten? Tja,
nun. Ich lebe in einer Kleinstadt und kriege das mit der Anonymität auch
ganz gut hin. Seit zwanzig Jahren wohnt gegenüber ein Ehepaar. Ich sah die
beiden älter werden; ich sah Tochter und Sohn in die Pubertät hinein- und
aus ihr wieder heraus wachsen. Ich habe keinen Schimmer, wie die Familie
heißt.
„Es hat sich irgendwie nicht ergeben“, antworte ich seit 1998, wenn Leute
fragen, wie das denn bitteschön sein könne und ob ich Soziopath sei. Bei
meinem Einzug in unser Mehrparteienmietshaus wohnte das Paar schon drüben
in seiner Doppelhaushälfte. Wir gaben uns auf der Straße die Hand, sprachen
miteinander, verstanden uns gut. Irgendwer – ich verdächtige die
pensionierte Studienrätin in der Wohnung unter mir – hatte ihnen meinen
Namen gesagt. Sie dachten wohl, ich wüsste auch ihren.
Sie erkundigten sich, ob ich englische Vorfahren hätte, des Nachnamens
wegen. Nach kurzen Erläuterungen zu meiner Abstammung und zum Westfälischen
Platt gingen wir auseinander. Während ich meine Matratze durchs Treppenhaus
schleppte, fiel mir ein: Ich hatte die Nachbarn nicht gefragt, wer denn sie
überhaupt seien. Zugegeben, Sekunden später war es mir auch schon wieder
herzlich egal, fürs erste zumindest.
Aber mit der Zeit machte mir die Wissenslücke zu schaffen. Meine Ignoranz
bekümmerte mich noch mehr, nachdem die beiden mir das Du angeboten hatten.
Jetzt waren sie also für mich der Jochen und die Moni – und weiter? „Wie
wär’s denn mit Mustermann?“, schlug hämisch ein Kollege vor, dem ich mich
anvertraut hatte. Bezeichnend ist, dass dies abends nach dem dritten Bier
geschah.
Lange hatte ich die Hoffnung gehegt, eines Tages möge ein Paketbote mir
eine Lieferung für die Familie anvertrauen. So würde ich den Namen bequem
ablesen können! Aber von wegen – die Boten schellten immer woanders. Eines
Nachts träumte ich, in der Doppelhaushälfte drüben geschähe ein
grauenhafter Mord. Die Kripo befragte mich zu dem Fall. Bei dieser
Gelegenheit erfuhr ich endlich Monis und Jochens vollständige Identität.
Ich wachte auf, konnte mich an keine Details mehr erinnern. Wie ich meine
Traumqualität kenne, hat der Name sowieso nicht gestimmt.
Schließlich schien es nur noch eine Lösung zu geben: heimliches
Auskundschaften. Mitten in der Nacht schlich ich rüber, schaute auf das
Klingelschild. Darauf stand: nichts. Wenigstens sprang keine Alarmanlage
an.
Ich habe resigniert. Das Einwohnermeldeamt verweigerte die Kooperation – in
sehr barschem Ton, wenn ich das als Steuerzahler einmal kritisch anmerken
darf –, die pensionierte Studienrätin will ich nicht fragen. Es wäre zu
peinlich. Dabei mag ich Moni, Jochen und die Kinder. Ich habe verfügt, dass
sie zu meiner Beerdigung eingeladen werden. Auf meinem Grabstein soll
stehen: „Es hat sich irgendwie nicht ergeben.“
17 Jan 2018
## AUTOREN
Andreas Milk
## TAGS
Nachbarn
Familie
Wahlkampf
Medien
Wissen
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