# taz.de -- Essay Journalismus: Meute oder Wachhund? | |
> Autor Robert Harris zeichnet ein populistisches Zerrbild vom | |
> Journalismus. Was der Beruf braucht, damit er leisten kann, was von ihm | |
> erwartet wird. | |
Bild: Die Dreyfus-Affäre hätte einen idealen Stoff abgegeben, um den Faktoren… | |
Kein Wort zu denen', sagt Périer. Wir gehen leicht vorgebeugt an den | |
Journalisten vorbei. Die Fragen prasseln alle gleichzeitig auf uns ein. | |
Esterházy …? Dreyfus …? Verschleierte Dame …? Untersuchung …? Ein grel… | |
Lichtblitz leuchtet auf, ich höre den dumpfen Knall von sich entzündendem | |
Magnesiumpulver. ‚Armand‘, sage ich. ‚Ich kann dir gar nicht sagen, wie i… | |
mich freue, dich zu sehen.‘ ,Ein Automobil wartet auf uns', sagt er. ‚Lass | |
uns gleich fahren, sonst ist die Meute vor uns am Haupteingang.‘“ | |
Die Meute der Journalisten, denen man lieber aus dem Weg geht. So sieht es | |
Oberstleutnant Marie-Georges Picquart, dem allein zu verdanken ist, dass | |
die Intrige der Militärs gegen den jüdischen Offizier Alfred Dreyfus | |
aufgedeckt und das Fehlurteil wegen Landesverrats über ihn revidiert wird. | |
Nicht der historische Picquart wohlgemerkt – sondern der von dem britischen | |
Autor Robert Harris in seinem von Wolfgang Müller ins Deutsche übersetzten | |
Bestseller „Intrige“ (Wilhelm Heyne 2015) erzählte. | |
In den Seminaren des einflussreichen Schweizer Germanistik-Professors Emil | |
Staiger, der in den 1960er Jahren die Methode der textimmanenten | |
Interpretation propagierte, war es eine Todsünde, nach dem historischen | |
Autor eines Textes zu fragen; es kam nur auf den erzählten Autor an. Kein | |
Wunder, hatte doch der historische Staiger kein Interesse, Merkwürdigkeiten | |
aus seinem Leben vor 1945 ans Licht kommen zu lassen. | |
Hier betreiben wir keine textimmanente Interpretation, sondern halten das | |
von Harris in seinem Roman konstruierte Bild der Dreyfus-Affäre gegen das | |
von Historikern wie Vincent Duclert in kundigen Büchern aus vielfältigen | |
Quellen und von Zeitzeugen wie Léon Blum aus der Erinnerung rekonstruierte. | |
## Sensationsgeile Journalisten | |
Die Meute – dieser Begriff deckt sich mit einer weitverbreiteten | |
Vorstellung vom Journalismus. Damit kommt man besonders beim | |
bildungsbürgerlichen Publikum an. Der Bestseller-Autor Harris bedient sich | |
naturgemäß der Rezepte, die maximalen Verkaufserfolg versprechen. Wie im | |
Hollywood-Western gehört dazu die romantische Illusion vom einsamen Helden | |
– in diesem Fall der unbestechliche Offizier Picquart, der ganz allein die | |
Gerechtigkeit gegen eine Welt der Intrige und des Antisemitismus | |
durchsetzt. | |
Und dazu gehört dann eben auch das gängige Vorurteil von der Meute der | |
sensationsgeilen Journalisten – verbunden mit einem Begriff von | |
Öffentlichkeit, der darin nur ein Machtinstrument sieht. | |
Harris’ Kriegsminister Mercier genügt das entwürdigende Spektakel der | |
Degradierung von Dreyfus vor 20.000 Gaffern im Hof der École Militaire am | |
5. Januar 1895 nicht, um sich politischen Zuspruch bei der reaktionären | |
Armeeführung und bei der Masse der antisemitischen Wähler zu sichern. | |
„Eigentlich wollte ich ja, dass die Zeremonie auf der Rennbahn von | |
Longchamp stattfindet. Die hat ein Fassungsvermögen von fünfzigtausend.“ | |
Dabei ist gerade die Dreyfus-Affäre ein selten eindrucksvolles Lehrstück | |
über mögliche Leistungen von Journalismus und Öffentlichkeit. Leistungen, | |
die moderne, hochdifferenzierte und deshalb von zahllosen | |
Kommunikationsbarrieren durchzogene Gesellschaften brauchen, um Probleme zu | |
erkennen und zu regulieren. Leistungen, ohne die | |
Selbstregulierungsmechanismen wie Demokratie, Markt oder Solidarhilfe nicht | |
funktionieren. | |
## Der gute Ausgang der Affäre | |
Es stimmt: Auch der historische Picquart hat als Geheimdienstchef den Major | |
Ferdinand Walsin-Esterházy als wahren Verräter entlarvt und daran im | |
Generalstab festgehalten – gegen den Korpsgeist. Ohne ihn wäre das | |
Fehlurteil vom 22. Dezember 1894 nicht revidiert worden, das Dreyfus auf | |
die Teufelsinsel verbannt hatte; ebenso wenig wie ohne den Verbannten | |
selbst, der den ihm nahegelegten Suizid nicht begangen und auch unter | |
folterartigen Repressionen kein Geständnis abgelegt hat; oder ohne die | |
Generäle, die – wie so oft in solchen Fällen – erst durch Vertuschungen u… | |
Fälschungen das Ende ihrer faulen Sache herbeigeführt haben. Sie alle haben | |
zum guten Ausgang der Affäre beigetragen, indem sie mit rationaler | |
Beharrlichkeit an ihren Überzeugungen festhielten. | |
Die Bedeutung von Persönlichkeit(en) wird ja in der modernen, auf | |
Institutionen und Strukturen fixierten Sozial- und Geschichtswissenschaft | |
gern vergessen. Aber nicht zu bezweifeln ist auch, dass erst Publizisten, | |
die sich an die Aufgabe hielten, unerschrocken Öffentlichkeit herzustellen, | |
die Bereinigung des Missstands bewirkt haben. Damit haben sie die Weichen | |
für die Entwicklung zu Laizismus und Demokratie in Frankreich gestellt – | |
auch wenn die Spaltung in republikanische „Dreyfusards“ und reaktionäre | |
„Anti-Dreyfusards“ noch immer nicht überwunden ist. | |
Berühmt ist Émile Zolas offener Brief an den Staatspräsidenten Félix Faure | |
„J’accuse…!“ („Ich klage an …!“), mit dem der Schriftsteller am 1… | |
1898 in der Zeitung L’Aurore in Massenauflage die Generalstabsoffiziere, | |
die Schriftsachverständigen, die rechte Presse und das Militärgericht | |
attackierte, nachdem es Esterházy trotz dessen offenkundiger Schuld | |
freigesprochen hatte. Egon Erwin Kisch hat das Pamphlet 1923 in seine | |
Sammlung „Klassischer Journalismus“ aufgenommen. | |
## Die Artikelserie „Les Preuves“ | |
Aber auch schon vorher hatten Presseveröffentlichungen von Bernard Lazare | |
oder Georges Clemenceau die Zahl der Dreyfusards wachsen lassen. Zum | |
Umschwung der öffentlichen Meinung führte im Sommer 1898 eine Artikelserie | |
„Les Preuves“ („Die Beweise“) in der Zeitung La Petite République, in … | |
Jean Jaurès die Machenschaften des antisemitischen Establishments und damit | |
die Unschuld von Dreyfus detailliert nachwies. | |
Der spätere Ministerpräsident Léon Blum hat sich 1935 in einer Artikelserie | |
in der Zeitschrift Marianne daran erinnert, die der Berliner | |
Berenberg-Verlag 2005 auch auf Deutsch zugänglich gemacht hat: „Die | |
‚Preuves‘ haben dieselbe Rolle gespielt wie das ‚J’accuse‘. Sie haben… | |
Vorteile erobert, denn die Chancen für die Revision verbesserten sich | |
notwendigerweise mit jeder nachgewiesenen Gemeinheit. Jaurès untersuchte | |
die Affäre ganz allein, von Grund auf. Er nahm sich alle Beschuldigungen | |
vor, die seit dem Prozess von 1894 gegen Dreyfus erhoben worden waren.“ | |
Die Artikelserie des maßgeblichen französischen Sozialisten und Pazifisten | |
jener Jahre, der auch ein großer Journalist war, ist 1898 dann noch als | |
Broschüre in hoher Auflage erschienen. Soweit mir bekannt, wurde sie bisher | |
nicht ins Deutsche übersetzt. Das hängt hoffentlich nicht mit einer | |
Tradition der deutschen Sozialdemokratie zusammen, die damals – anders als | |
die französischen Sozialisten – an Dreyfus’ Schuld festhalten wollte. | |
Linke, die Antisemitismus für Antikapitalismus halten, hat es immer | |
gegeben. | |
Zolas „J’accuse“ wird vom Bestseller-Autor Robert Harris immerhin zitiert, | |
wenn auch zusammenhangslos als Morgenlektüre von Picquart. Aber der Name | |
Jaurès taucht im Roman nur im Personenverzeichnis und einmal en passant im | |
Text auf, auf eine Erwähnung oder gar Würdigung seiner journalistischen | |
Meisterleistung wartet der Leser vergebens. Und abgesehen von La Libre | |
Parole, einem antisemitischen Hetzblatt, kommt die Presse, die für den | |
Ausgang der Dreyfus-Affäre doch entscheidend war, bei Harris nur in der | |
Funktion einer zeitgenössischen Chronik der Ereignisse vor, aus der trocken | |
zitiert wird. | |
## Die Wachhund-Funktion | |
Die Dreyfus-Affäre hätte einen idealen Stoff abgegeben, um den Faktoren | |
nachzugehen, die die Wachhund-Funktion von Journalismus stärken: ein | |
offensichtlicher, wenig komplexer Missstand; das Zusammenspiel von | |
investigativen Avantgarde- und massenhaft verbreiteten Boulevardmedien wie | |
auch von anwaltschaftlichem (Zola) und nüchtern-präzisem (Jaurès) | |
Darstellungsstil; ein Verfassungsrahmen, der Pressefreiheit und | |
Rechtsstaatlichkeit garantiert; und, last but not least: ein gespaltenes | |
Meinungsklima. Von all dem ist in Robert Harris’ Roman nichts zu spüren, | |
geschweige zu lesen. | |
Harris hat sich der Mittel bedient, die auch Journalisten nutzen, um ein | |
großes Publikum zu erreichen: Negativklischees, Personalisierung, | |
Zuspitzung auf individuelle Charaktereigenschaften und Rivalitäten. | |
Bestsellerautoren sind Buchjournalisten. Damit verfolgen sie ihre eigenen | |
und verlagseigene wirtschaftliche Interessen. Sie mögen dabei auch | |
publizistische Ziele im Auge haben: Ein Buch, das auf der | |
Spiegel-Bestsellerliste erscheint, sorgt immerhin dafür, dass die | |
Dreyfus-Affäre nicht ganz in Vergessenheit gerät. Angesichts der | |
grassierenden digitalen Amnesie ist das nicht wenig. | |
Aber unter den Klischees und Auslassungen, die großes Publikum versprechen, | |
leidet eben auch der Sinn für gesellschaftliche Zusammenhänge wie die | |
produktive Funktion von Transparenz und Öffentlichkeit. Der ist nötig, um | |
zu verstehen, wozu der Journalistenberuf da ist, wo seine Probleme liegen | |
und was er braucht, damit er leisten kann, was von ihm erwartet wird. | |
Zumal angesichts der digitalen Expansion der Stammtische und shit storms | |
wäre es wichtig, dass der auf das Verbreiten richtiger und wichtiger | |
Informationen spezialisierte Beruf als nützlich und notwendig verstanden | |
wird. | |
Hätte er dieses Verständnis fördern wollen, so hätte Robert Harris mit der | |
Dreyfus-Affäre einen besonders geeigneten Stoff vorgefunden. Aber dafür | |
hätte er auf die Rezepte des Bestseller-Autors verzichten müssen. Auf die | |
sollten auch Journalisten verzichten, wenn sie anderen ihren Beruf | |
erklären. | |
14 Jan 2018 | |
## AUTOREN | |
Horst Pöttker | |
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