| # taz.de -- Weihnachten jenseits der Tradition: „Oh du fröhliche, oh du seel… | |
| > Alle Jahre wieder schrecklich-schönes Fest mit Familie und Tanne? Das | |
| > muss nicht sein. Drei Leipzigerinnen feiern Heiligabend anders. | |
| Bild: Da waren sie noch fröhlich: Familie beim Kauf eines Weihnachtsbaumes | |
| Leipzig taz | „Ich wohne zusammen mit meiner Frau in einer Doppelhaushälfte | |
| in Bad Dürrenberg. Auf dem Grundstück leben noch ihre Mutter, ihre jüngste | |
| Schwester und ihre Großeltern. Normalerweise kommen wir an Weihnachten alle | |
| bei meiner Schwiegermutter zusammen und essen gemeinsam. Später folgt die | |
| Bescherung. Doch als Straßenbahnfahrerin muss ich auch an Feiertagen zum | |
| Dienst. | |
| Dieses Jahr habe ich nur am ersten Weihnachtsfeiertag frei. An allen | |
| anderen Tagen zwischen Weihnachten und Silvester arbeite ich. An | |
| Heiligabend beginnt meine Schicht mittags und endet abends um neun Uhr. | |
| Mich stört das nicht. Als ich mich für diesen Beruf entschieden habe, | |
| wusste ich, worauf ich mich einlasse. Im Sommer lagen Zettel aus, auf denen | |
| man eintragen konnte, wann man zwischen Weihnachten und Neujahr gerne frei | |
| hätte. Ich habe keinen ausgefüllt. | |
| Weihnachten ist mir wichtig und trotzdem arbeite ich gerne an diesem Tag. | |
| Normalerweise ist es doch so: Die Leute wollen so schnell wie möglich von | |
| einem Ort zum anderen. Wenn dann etwas schiefläuft, sind sie sofort | |
| gestresst. Und auch für mich als Fahrerin ist die Arbeit manchmal | |
| anstrengend, vor allem im Berufsverkehr. Wenn ich dann am Hauptbahnhof | |
| einfahre, ist alles schwarz vor lauter Menschen. | |
| An Weihnachten läuft alles viel ruhiger ab und die Leute sind freundlicher. | |
| Je später es wird, desto weniger Menschen sind unterwegs. Ich mag diese | |
| friedliche Stimmung. Wenn ich dann durch die Stadt fahre und überall die | |
| erleuchteten Fenster sehe, ist das einfach schön. Dass ich das alles so | |
| entspannt sehen kann, liegt auch an meiner Familie: Weil ich arbeiten muss, | |
| feiern wir dieses Jahr amerikanisch. Geschenke gibt nicht an Heiligabend, | |
| sondern erst am Morgen danach. Ich bin sehr dankbar, dass sich alle | |
| meinetwegen darauf eingelassen hat.“ | |
| *** | |
| ## „An Weihnachten haben wir frei“ | |
| „Jedes Jahr im Dezember fasten wir zu Ehren Gottes drei Tage lang. Von | |
| Dienstag bis Donnerstag stehe ich um 4.15 Uhr auf, um zu frühstücken und | |
| esse erst nach Sonnenuntergang wieder etwas. Ich freue mich richtig darauf, | |
| denn danach feiern wir das Ida-Ezi-Fest, das Fest des Fastenbrechens. | |
| An diesem Tag kann man sich etwas schenken, muss es aber nicht. Als wir | |
| noch im Irak gelebt haben, bin ich immer zu meiner Oma gelaufen. Sie hatte | |
| immer etwas für mich. Dieses Jahr habe ich nichts bekommen. Und noch etwas | |
| ist anders: Im Irak haben wir nur mit unserer Familie gefeiert. In Leipzig | |
| treffen sich Jesiden aus der ganzen Stadt. Ich freue mich trotzdem. Ich mag | |
| es, wenn alle zusammenkommen und tanzen. | |
| Das Ida-Ezi-Fest ist eines unserer wichtigsten Feste, Weihnachten feiern | |
| wir dagegen nicht. Ich weiß aber, dass den Deutschen dieses Fest sehr | |
| wichtig ist. Unser Klassenlehrer hat uns erzählt, dass sie Plätzchen | |
| backen, ihre Familie treffen und sich gegenseitig beschenken. Und die | |
| Kinder öffnen jeden Tag diese Türchen. Das machen wir in der Schule auch. | |
| Ich war zum Glück vor Beginn der Fastenzeit an der Reihe. | |
| Obwohl wir nicht feiern, mag ich Weihnachten. Denn dann haben wir frei. Ich | |
| habe auch schon etwas vor: Am 24. kommen meine Cousinen aus Bremen zu | |
| Besuch. Wir wollen zusammen in die Innenstadt shoppen gehen. Ich werde | |
| ihnen etwas kaufen. Und sie mir.“ | |
| *** | |
| ## „Die meisten fahren zu ihren Eltern“ | |
| „Weihnachten und Familie gehören für mich zusammen, obwohl ich das schon | |
| lange nicht mehr erlebt habe. Meine Eltern sind beide tot. Meine Mutter ist | |
| gestorben, als ich 15 Jahre alt war. Mein Vater 2012. Das Verhältnis zu | |
| meinem Vater war immer schwierig, aber bei meiner Mutter wurde klassisch | |
| mit Baum und allem Drum und Dran gefeiert. Dieses Gefühl von Geborgenheit | |
| und Gemütlichkeit vermisse ich bis heute. Was bleibt, ist die Sehnsucht, | |
| auch in einer Familie zu feiern. | |
| Mittlerweile bin ich selbst Mutter – leider von Anfang an alleinerziehend. | |
| Marlin ist jetzt zweieinhalb Jahre alt und ich liebe ihn wirklich über | |
| alles. Aber nur mit ihm zu feiern? Ne, das wäre mir nichts. Am liebsten | |
| würde ich mit einem kleinen Kreis von Menschen feiern, die ich mag. Bei mir | |
| zu Hause, mit einem Weihnachtsbaum und gutem Essen. | |
| Doch die meisten fahren an Weihnachten zu ihren Eltern. Oder sie haben | |
| mittlerweile ihre eigene Familie. Und die, die Weihnachten mit Freunden | |
| verbringen, feiern meist mit einem festen Kreis an Leuten. Es hat sich bis | |
| jetzt nicht ergeben, dass ich Teil einer solchen Gruppe geworden bin. Und | |
| so schaue ich von Jahr zu Jahr, was ich mit Marlin machen kann. | |
| Früher war das einfacher. Ich habe in WGs und Hausprojekten gelebt, da war | |
| an Weihnachten immer jemand da, der auch nicht nach Hause gefahren ist. | |
| Aber seit Marlin auf der Welt ist, funktioniert das nicht mehr. Die anderen | |
| konnten mit einem Kind nichts anfangen. | |
| Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ich mir Weihnachten selbst | |
| organisieren muss. Man wird nur selten eingeladen. In den letzten beiden | |
| Jahren hatte ich Angst, mit meinem Baby alleine zu sein. Dieses Jahr feiere | |
| ich zusammen mit einem befreundeten Paar, das eine Tochter in Marlins Alter | |
| hat. Außer uns kommen noch die Großeltern des Mädchens und weitere Freunde, | |
| die Lust haben zusammen zu feiern. Darauf freue ich mich.“ | |
| 24 Dec 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Nadja Mitzkat | |
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