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# taz.de -- Mode und Gesellschaft: Es wird Winter auf der Haut
> Sie denken, in den dunklen und kalten Monaten hat bloß Konjunktur, was
> warm hält? Sie liegen falsch. Ein Überblick zu aktuellen Trends.
Bild: Das „Face“ als Hauptkriegsschauplatz, der Bart als Zentrum: Dieser He…
## 0. Warum wir was brauchen
Kaum haben sich Dachs, Fuchs und Igel mit deftigen Kastanienmännchen etwas
Winterspeck auf die Hüften gedengelt, trägt der deutsche Hipster auch schon
Schwarz. Der Grund: Es ist Winter, mein Gott! Das merken Sie doch selber!
Doch nicht nur Schwarz – auch Grau, Beige, Bunt, Warm, Kohle und Azur
feiern ihr Revival. Und was ist mit Blumen? Alle wichtigen Wintertrends im
Überblick.
## 1. Der sich mit Eigenhaar kleidet
Knebelbart, Mongolenbart, Backenbart oder Unterlippenbart „Soulpatch“: Ein
Bart steht für Individualität. Das Face ist heutzutage schließlich der
Hauptkriegsschauplatz und sollte daher nicht vergessen werden (wie auch).
Gesichtsbehaarung verhält sich zu Neugier wie Zucker zu Socke: alles
durcheinander. Umso wichtiger ist die Konzentration auf das Wesentliche –
den Wuchs.
Um den zu fördern, schwört jede*r auf anderes. Ob Hautkiespastillen,
magischer Heilstein aus Bremen, stündliches Wasserkochen oder Urlaub mit
der toten Oma: Die Hauptsache ist der Effekt. Solange der Borstenschub vor
dem Haarausfall einsetzt, bleibt Deutschland barttraktiv wie ein Witz über
Friseurlädennamen.
Ab dann zählt jedes Gramm. Statt Bierkästen schleppt der coole Trendstudent
seit Neuestem den eigenen Haarwurzelausstoß, genannt Vollbart, gestützt vom
Rollator. Der Pump ist gigantisch. Zentnerbart? Bald keine Seltenheit mehr.
Gut für den Rücken – gut für die Umwelt.
## 2. Die Schuhe für Faschismus hält
Supertrend Fuß: einfach unfußbar. Schlicht zum Aus-den-Latschen-Lecken.
Dabei gilt es jedoch aufzupassen, denn das gemeine Unterdrückungsregime aus
Macht-Herrschaft-Zauberkraft hat uns von Kopf bis Knöchel am Schlafittchen.
Gieselha Nase (28) hat daraus die Konsequenzen gezogen: „Ich lehne jegliche
Form von Fußbekleidung ab!
Ich will mich endlich wieder spüren“, so die Nageldesign-Studentin aus
Magdeburg. Wie so viele andere nervige Menschen läuft sie barfuß durch die
Gegend. Und zwar auch im Winter! Schuld an der generellen „Faschokacke“,
die sie analysiert, trägt für Nase die „internationale Schuhlobby, zwinker,
Sie wissen, wen ich meine – die Deichmanns dieser Welt eben. Tod Israel!“
## 3. Der mit seiner Brille spricht
Unsere verrückten Nachwuchsforscher wieder! Was ist es diesmal?
Leistungsdruck? Einsamkeit? Zukunftsangst? Feueralarm? Nein, schlimmer,
seltsamer, crazyger: Ein Internettrend namens #academicswithglasses lenkt
den Blick auf die kleinen Freunde der großen Denker – posten, was die
Brille macht. Denn so viel ist sicher: Die Dinger haben ihre Tücken.
Kaum umgedreht (zum Beispiel zur Wand, um zu heulen), sitzt die Brille auch
schon auf dem Kühlschrank, hängt lässig vom Laptop oder kreischt elendig,
weil sie Svon zwei schweren Keilrahmen eingequetscht wird. Manche wechseln
auch, so schwören jedenfalls Promoventen des Forschungszentrums für
angewandte Homologie in Ingolstadt/Frankfurt (Oder), je nach Laune ihre
Farbe.
Vielleicht kommt das aber auch von den Wahnvorstellungen, die jahre-, ja
jahrzehntelange Lektüre und Relektüre von Husserliana und Kafka-Exegesen in
den Hirnen der possierlichen Nerds in stetiger, sicherer Höhlung erzeugten.
„Ich weiß es doch auch nicht! Bitte gehen Sie jetzt – ich muss Hundefutter
kochen“, sagt Ludger R. (42) aus Freiburg. Zynisch: Zur Erforschung des
Netzphänomens soll nun ein Promotionskolleg gegründet werden.
## 4. Die sich wie wild in Schalwerdung wickeln
Der heilige Stoff für den modischen Studi: Wie ein Netz aus intertextueller
Referenzdichte webt sich die Verschalung seiner selbst um ihn. Spätestens
Mitte September werden die Schlaufen des Todes aus dem Schrank gekramt;
wird Kälte zu eisigem Frost; werden harmlose Luftmoleküle zu taktischen
Waffen im Isolierschichtkrieg; wird nackte Haut zu schlaffem Schal.
Es stofft sich, es wickelt und türmt sich und wird seine eigene Werdung.
Wie ein vier Tonnen schwerer Salat schleppt sich der textile Ballaststoff
in Schlaufen unter, vor und um den Kopf. Ein klarer Fall von Mimikry: Wie
menschliche Perserkatzen taumeln die so Überladenen, verwöhnt von Mutter,
Staat und kostenlosen Straßenschildern, ganz irre durch die Stadt.
„Ich bin ein Schal“, wollen sie sagen – dabei hat sich der diskursive
Schleier schon in alle Richtungen verstreut, ist die Schalwerdung-Werdung
längst uneinholbar geworden. Verflucht sei der Faden!
## 5. Die sich den Baustoff ins Rektum reinhämmern
Während ihrer fremdfinanzierten Faultauschsemester nach Grönland mit
Geilheit auf Fun und Abenteuer angefüllt, probiert die junge studentische
Zielgruppe einfach alles aus, was geht: Sex unterm Schreibtisch, 100 Seiten
Habermas auf einmal, sieben Jever Fun hintereinander. Der alte 68er-Spruch
entfaltet hier seine volle Gültigkeit – wer sich erinnern kann, war nicht
dabei. Mehr noch: Wer dabei war, kann auch nicht dabei gewesen sein. Und
umgekehrt.
Nachdem sie sich schon alle verfügbaren Drogen (inklusive der Rotze ihrer
zu betreuenden bolivianischen Nachhilfeschüler) durch die Nase gezogen
haben, kommt nun der Anus dran. Mega-Faszinosum Mörtel: Eine Handvoll
kritischer Humangeographen der TU Dortmund hat es tatsächlich geschafft,
sämtliche Bausünden der Bundesrepublik unter Einsatz ihrer Lenden
nachzubilden. Wahnsinn!
## 6. Der irre Hype um Altersflecken
Das Ärmliche, Ältliche, Kränkliche, darauf, ja, stehen wir doch. Finden
zumindest die vor Gesundheit ganz rosigen Tuttis der Generation
Schnupfenselfie. Falten, Cellulite, Haarausfall, Gerüche und seltsame
Flecken: Verbunden mit der immer höheren Lebenserwartung der Alten und
Superalten verschieben sich die Komplexe und Sexfantasien im kollektiven
Imaginären zusehends gen Oma und Opa – und wecken Begeisterung für die
Insignien des nahenden Todes.
„Es ist ein bisschen wie Containern“, sagt Fynn Rosto (24) aus Leipzig/Ost.
Vor anderthalb Jahren ließ er sich das erste Mal „droppen“. Seitdem ist er
süchtig. Damit nicht genug: Mit einem Bleistift und einer Plastikgabel
machte er sich inkontinent; in einer 38-stündigen Operation unter
Vollnarkose ließ er sich alle Zähne und den Orientierungssinn entfernen;
dank über einen Tropf zugeführter Medikamente steht er ständig kurz vor
einem Herzinfarkt.
Doch der Aufwand ist es wert, findet Rosto: „Die Mädels fahren voll drauf
ab.“ Verliebte, Verrückte, sagt der Lateiner und meint es auch so.
2 Jan 2018
## AUTOREN
Adrian Schulz
## TAGS
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