| # taz.de -- Barmer-Gesundheitsreport 2017: Berlin macht schizophren | |
| > Volle U-Bahnen, Straßen, Terminkalender: Der Großstadtstress macht krank | |
| > – bestätigen Krankenkassen und Psychiater. | |
| Bild: Auch eine Möglichkeit, mit urbanem Stress umzugehen | |
| Der Dezember beginnt, die Tage werden kälter und auch nach wie vor immer | |
| dunkler. Vermehrt trifft man Menschen in dieser Stadt, die ihre alten | |
| Fluchtpläne wieder ausbuddeln, ernsthaft über Restauranteröffnungen in | |
| Süditalien nachdenken oder über eine Ausbildung zum Tauchlehrer in | |
| Thailand. Die Abwehrkräfte geben beängstigend rapide nach, der subjektive | |
| Stress nimmt zu – und insofern ist es kein Wunder, dass in Berlin im | |
| Augenblick wieder geradezu inflationär über Stress nachgedacht wird. | |
| Aber sind die Fluchtpläne wirklich so abwegig, ist der Stress tatsächlich | |
| subjektiv? Eine Vorstellung des [1][Gesundheitsreports 2017 der Barmer | |
| Ersatzkasse] am Mittwochvormittag legt nahe: Er ist es nicht. In Berlin, so | |
| stellt die Krankenkasse bei ihren arbeitenden Versicherten fest, werden | |
| zwar weniger Menschen krankgeschrieben als im Bundesdurchschnitt, dafür | |
| melden sie sich länger krank. | |
| Sie leiden nicht nur häufiger an Infektionen der oberen Atemwege und | |
| Viruskrankheiten, sondern mit 3 Prozent aller, die sich krank melden, im | |
| Vergleich zum Durchschnitt von 2,3 Prozent auch deutlich öfter unter | |
| psychischen Erkrankungen. Seelisch geht es nur noch den Hamburgern | |
| schlechter, so die Barmer, während die Frankfurter, Kölner und Münchner | |
| deutlich glücklicher sind. | |
| Es leuchtet natürlich prompt ein, dass Stadt und Stress etwas miteinander | |
| zu tun haben, dieses Phänomen wurde auch nicht erst heute beschrieben – | |
| allein die Großstadtlyrik expressionistischer Berliner Dichter vor 100 | |
| Jahren wirkt manchmal, als sei sie gerade eben erst einem gestressten | |
| Lesebühnenautor aus dem Kuli geflossen. | |
| Städte nerven, sind laut, schnell, eng und anonym. Wie man diese Nachteile | |
| aber auch als Vorteile begreifen kann, dies gab am Mittwochabend Mazda Adli | |
| bekannt, iranischstämmiger Psychiater und Psychotherapeut, der unter | |
| anderem an der Berliner Charité forscht. | |
| Im Institut für Urbanistik in der Zimmerstraße sprach er mit | |
| Institutsleiter und Stadtentwicklungsprofessor Martin zur Nedden über sein | |
| Buch „Stress and the City“, das interessante Ideen zur Stressbewältigung | |
| liefert. Ja, schreibt Adli, es ist wahr: In der Großstadt sind doppelt so | |
| viele Menschen schizophren und anderthalbmal so viele depressiv wie auf dem | |
| Land. Adli hat für sein Buch nicht nur Berlin auf Stress abgeklopft, | |
| sondern auch andere Weltstädte wie Hongkong, New York und Teheran. Seine | |
| Diagnose ist auch deshalb besorgniserregend, weil 2050 vermutlich ein | |
| Drittel der Weltbevölkerung in Städten leben werden – Adli hält die | |
| Urbanisierung für die markanteste Veränderung in der Geschichte der | |
| Menschheit. | |
| ## Sich die Stadt zu eigen machen | |
| Aber das ist nur die eine Seite. Die andere ist: Adli hält die Stadt | |
| trotzdem für gesund für uns, beschreibt nicht nur die größere Ärztedichte, | |
| die anregendere kulturelle Vielfalt, den leichteren Zugang zu Bildung und | |
| Förderung – sondern er macht auch Vorschläge, wie man mit all dem anderen, | |
| dem negativen Stress also, umgehen kann. Man könnte zum Beispiel bestimmte | |
| Großstadtfähigkeiten entwickeln: nachgeben, einlenken, flexibel sein. Und, | |
| was fast noch wichtiger ist: Man könnte sich die Stadt auch zu eigen | |
| machen, sie mitgestalten. | |
| Berlin, die nach wie vor vergleichsweise offene, unvollkommene, grüne Stadt | |
| der Baustellen und Brachen, könnte also durchaus gesünder sein als andere | |
| in Deutschland. Man müsste nur gegen die Stressauslöser etwas tun, sowohl | |
| privat wie politisch. Anstatt sich beim Abendbrot über verfehlte | |
| Stadtplanung aufzuregen, könnte man etwa Bürgerinitiativen gründen. | |
| Gesünder wäre es außerdem, sich in dieser Stadt der Singles zusammenzutun: | |
| Nach Barmer Ersatzkasse sind Menschen umso besser drauf, je nachdem ob sie | |
| einen Partner, ein Kind oder zwei Kinder haben. | |
| Und dann gibt es noch jenen nicht ganz unbedeutenden Stressfaktor, bei dem | |
| auch die Politik ihre Aufgaben machen muss – Stichworte | |
| Bildungsgerechtigkeit und prekäre Arbeitswelt. Das haben vor der Barmer | |
| auch schon die Techniker Krankenkasse oder der jährliche Kongress Armut und | |
| Gesundheit festgestellt: Menschen werden umso wahrscheinlicher krank, je | |
| schlechter ihr Schulabschluss ist, je weniger Geld sie verdienen und je | |
| unsicherer ihr Job ist. | |
| Bleibt also nur noch das Wetter in dieser grauen Stadt im Winter, an dem | |
| bislang leider keiner drehen kann. Diesbezüglich gibt selbst Optimist Mazda | |
| Adli zu: Den Menschen weiter südlich geht es tatsächlich besser. Sie | |
| verbringen mehr Zeit vor ihrer Haustür als dahinter. Das bringt bekanntlich | |
| die Hormone in Schwung. Und es hilft gegen Einsamkeit. | |
| 30 Nov 2017 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.barmer.de/presse/infothek/studien-und-reports/gesundheitsreport… | |
| ## AUTOREN | |
| Susanne Messmer | |
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