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# taz.de -- Die Wahrheit: Ködern um den Titel
> Sogar im Clickbaiting gibt es nun deutsche Meisterschaften der
> Online-Koberer. Eine Reportage aus den Abgründen des Klickjournalismus.
Bild: Zur ersten Meisterschaft entsandten die Online-Redaktionen ihre besten Kl…
Etwas unscheinbar wirkt die alte Tanzscheune im Stadtteil Katzenhirn der
schwäbischen Stadt Mindelheim – und doch findet hier die erste deutsche
Meisterschaft im Clickbaiting statt. Die Elite der Onlineangler hat sich
versammelt, um ihre spitzesten Haken und verführerischsten Köder zu
prämieren, mit denen neugieriger Internetpöbel aufgespießt werden kann,
damit er die Zugriffsraten auch für ödesten Content-Müll in
schwindelerregende Höhen klickt.
Immerhin 50 Zuschauer vor Ort und 1,9 Milliarden vor dem Livestream sind
den leeren Versprechungen der Medienmagier auf den Leim gegangen. Vom Glanz
und Prunk der Flyer, die Gelage römischen Ausmaßes versprachen, ist denn
auch wenig zu spüren.
TV Movie verkündet zu Beginn der Veranstaltung, dass einer der vier
Moderatoren Krebs hat und die Show deshalb nicht zu Ende moderieren wird.
Ein Raunen geht durch das Publikum, die Fachjury nickt und hebt anerkennend
ihre gelben Wertungstafeln: Drei WTFs und zwei entsetzte LOLs – der Start
immerhin ist gelungen.
## Marode Bühne
Während die Moderatoren Star um Star ankündigen, aber allerhöchstens deren
entfernte Verwandte über den roten Teppich und die marode Bühne jagen,
bleibt genug Zeit für einen Spaziergang durch die Scheune. Vom großspurig
angekündigten Fünfsternecatering ist keine Spur zu finden. Ein lokaler
Getränkelieferant verkauft lauwarmes Bier direkt aus seinem Kombi, daneben
werden spärlich belegte Schnittchen aufgefahren.
Die Infostände halten da schon eher, was ihre Name versprechen. Beim Stand
der Internetpostille heftig.co kann sich der geneigte Klick-Enthusiast
erklären lassen, welche historische Person er in seinem früheren Leben war
(Spoiler: Hitler) und welche 20 Gründe es dafür gibt, dass Katzen die
besseren Menschen sind. Die Huffington Post hat eine Hüpfburg mitgebracht,
die sie allein mit heißer Luft aus eigener Redaktion aufgepustet hat.
Auf der Bühne hält derweil ein Texter eine emotionale Rede darüber, wie er
seine große Liebe beim Onlinepoker fand. Ein Manifest der Zärtlichkeit,
kein Auge bleibt trocken, kein Klischee unberührt und in der Luft liegt ein
Hauch von Rosenblüten. Die Singles im Publikum wühlen emsig nach ihren
Kreditkarten, damit auch sie bald ihrer großen Liebe am virtuellen
Pokertisch das letzte Hemd ausziehen können. Die Jury vergibt für so viel
Gefühl vier weinende Smiles und ein rotes Herz. Der Redakteur beschließt
sein Plädoyer mit 20 Fakten über seine harte Kindheit – wobei besonders
Nummer drei das Publikum zu Tränen rührt.
## Lange Tradition
Das Clickbaiting hat eine lange Tradition, weiß Honorarprofessor Dr. Cliff
Henger von der Startup-Universität im kalifornischen Buzzfeed, der die
Veranstaltung wissenschaftlich betreut. „Bereits die Skeptizisten der
Antike bewarben ihre Vorlesungen mit dem Verweis ‚Was wir nächste Woche
besprechen, werden Sie nicht glauben … können!‘ Man denke auch an den
allerersten Listentext, den Moses in Form von zehn Geboten am Berg Sinai
entgegennahm und mit den Worten anteaserte: ‚Diese zehn Gebote kommen
direkt von Gott – besonders das sechste werden alle Männer hassen‘“,
amüsiert sich der Experte ob der journalistischen Abgebrühtheit des Herrn.
Der Abend ist mittlerweile fortgeschritten, die Aldi-Sektkorken sind
geknallt. Auf der Bühne geht es heiß her, der Chef von heftig.co hat einem
Moderator eine Plastiktüte über den Kopf gezogen und schleift ihn von der
Bühne. Die Menge tobt und schmeißt mit unangebrachten Hashtags, die Jury
kaut verzweifelt auf ihren Wertungstafeln – fünf OMGs, der heutige
Highscore. Erst später wird sich aufklären, dass der Moderator
hyperventilierte und es sich um eine simple Rettungsaktion handelte – doch
bis dahin regiert die erwünschte Empörung den Zuschauersaal.
Die kurze Verwirrung wird dreist ausgenutzt: Unmittelbar vor der
Preisverleihung stürmt ein Redakteur der FAZ die Bühne und schreit:
„Seriöse Onlineredakteure wollen mit so einer Klickschinderei nichts zu tun
haben.“
Ein Brüller, der gesamte Saal tobt, der junge Mann klatscht Backstage mit
seinem Gagschreiber ab und zählt seine neuen Facebook-Likes.
14 Nov 2017
## AUTOREN
Felix Bartsch
## TAGS
Online-Journalismus
Katholische Kirche
Fitnessstudio
Massentourismus
Karl Theodor zu Guttenberg
Wahlkampf
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