# taz.de -- Film über Afghanistan-Heimkehrer: An der Grenze zum Tod | |
> Im Spielfilm „Die Welt sehen“ der französischen Regisseurinnen Delphine | |
> und Muriel Coulin lauern überall Feinde. | |
Bild: In „Die Welt sehen“ stehen die Frauen im Zentrum | |
Kasernen sehen überall gleich aus. In „Die Welt sehen“ von Delphine und | |
Muriel Coulin kehren französische Soldatinnen und Soldaten aus dem | |
Afghanistankrieg zurück. Bevor sie sich allerdings in Frankreich wieder an | |
einem Privatleben versuchen dürfen, müssen sie sich bei einem sonderbaren | |
Miniurlaub auf Zypern unter psychologischer Betreuung nochmals intensiv | |
mit den Kriegserfahrungen ihrer Einheit auseinandersetzen. | |
Während also auf der Hotelterrasse die TouristInnen die Sau rauslassen, | |
denken sich die Heimkehrenden über Gruppengespräche und | |
Virtual-Reality-Simulationen drei Tage lang zurück an die Schauplätze ihrer | |
Einsätze. Vor anderen über die eigenen Gewalterfahrungen zu sprechen, das | |
ist besonders für Kerle ungewohnt. Und die Situation spannt sich weiter an, | |
als Zweifel am Verhalten Einzelner während der Kämpfe aufkommen. | |
Die Welt zu sehen, das erscheint in diesem Film voller innerer Bilder und | |
untragbarer Erinnerungen mal als Farce, mal als gewaltvolle Drohung. Weder | |
kann die grobschlächtige VR-Simulation berühren, was die Einzelnen erlebt | |
haben, noch liefert die sonderbar idyllische Hotelsituation auf Zypern ein | |
Gespür für die Rückkehr in die Gesellschaft: „Eine erbärmliche Realität�… | |
meint Marine (Soko), als sie mit ihrer Freundin Aurore (Ariane Labed) | |
zwischen den Pools umherläuft und über die Touristen spricht. | |
Aurore kennt Marine schon seit Kindertagen. So ein Kommentar von einer | |
alten Freundin macht nachdenklich. Aurores Blick wandert aus dem Bildrahmen | |
hinaus und trifft eine Handykamera, mit der eine Urlauberin sie | |
fotografiert. Der Kamerablick wirkt als Spiegel: Sie gehört zu den | |
Außenseitern. | |
Rund ein Drittel der Gruppe wurde im Film von tatsächlichen Kriegsveteranen | |
gespielt. Das schuf eine krasse Verbindlichkeit am Set des Filmdrehs, wo | |
nebenbei im regulären Hotelbetrieb tatsächlich Touristen verkehrten. Dem | |
Ergebnis merkt man eine große Authentizität an. Präzise Betrachtungen | |
versuchen genau zu verstehen, wie sich eine militärische Gruppe anfühlt, | |
welche Gesten da vorkommen, welche Rhetorik, welche Psychologien, auch | |
welche Begegnungen zwischen Einzelnen sich am Rande abspielen. | |
## Herausfordende Besetzung | |
Muriel Coulin und ihre Schwester Delphine, von der in diesem Fall auch die | |
Romanvorlage stammt, arbeiteten für „Die Welt sehen“ bereits zum zweiten | |
Mal für einen Langfilm zusammen und führten gemeinsam Regie. Dazu gehörte | |
auch die gemeinsame Arbeit mit den Schauspielern. Darin haben die beiden | |
Übung. Anfangs arbeiteten sie dokumentarisch. Schon in ihrem ersten | |
Spielfilm dann war die Besetzung herausfordernd: 17 Teenager, zum Großteil | |
Laien. | |
In „17 Mädchen“ erzählten die Filmemacherinnen von Schülerinnen, die den | |
Pakt schließen, gemeinsam schwanger zu werden und dann miteinander alle | |
Kinder großzuziehen. Die Verhandlung einer Utopie und die Skizze eines | |
Widerstreits gegen die Erwartungshaltungen an weibliche Lebensentwürfe. Die | |
Regisseurinnen betrachten in ihren Filmen gezielt Vorstellungen des | |
Femininen, fragen nach Körperlichkeit und weiblichen Gruppendynamiken. | |
Und so stehen auch im neuen Film ganz klar die drei Frauen der Einheit im | |
Zentrum: Marine, Aurore und Fanny, die nur der Uniform nach gleich sind. | |
Und in der Perspektivlosigkeit, die sie dazu brachte, zum Militär zu gehen. | |
Ganz zu Beginn, als im Flugzeug alle Männer schlafen, blicken sie um sich. | |
Weil sie dazu gezwungen sind. | |
Ariane Labeds Augenpartie eröffnet den Film, und erst ganz langsam rückt | |
die Kamera von ihrer Pupille weg auf das ganze Gesicht. Nach einem langen | |
Blick direkt in die Kamera wendet sie sich auch hier in die Ferne ab, über | |
den Bildrahmen hinaus. Die Frau hat dabei etwas Entrücktes und Ungreifbares | |
– selbst hier, wo sie weniger abstrakt spielt als in den radikalen | |
griechischen Filmen von Yorgos Lanthimos und Athina Rachel Tsangari. | |
## Eine einsame Grenze | |
Zu einer Kriegsveteranin passt das: Wo sie war, an der Grenze zum Tod, da | |
ist es einsam. Der Welt ins Auge zu sehen, das ist für alle immer wieder | |
schmerzlich. Die Welt an sich ist hier schmerzlich. | |
Der utopische Unterton von „17 Mädchen“ weicht in der posttraumatischen | |
Stresssituation von „Die Welt sehen“ einem desillusionierenden Blick auf | |
Verletzungen und Gewaltrealitäten, die nicht wegzureden sind. Die Frauen | |
sind nicht nur im Krieg mit einer gewaltvollen, reaktionären Realität | |
konfrontiert. | |
Selbst als Aurore im heitersten Moment des Films mit einem griechischen | |
Flirt eine Party verlässt, wirkt der Eingang zur Wohnung des Unbekannten | |
unmissverständlich bedrohlich. Zuvor lauert eine Schrotflinte im Kofferraum | |
seines Wagens. Vielleicht das prägnanteste Bild zum ständigen Gewaltgebaren | |
der männlichen Figuren, das sich bis zur Eskalation steigern wird. | |
Mit den Männern verbinden die Soldatinnen zwar das gemeinsame Trauma des | |
Krieges, nicht jedoch gegenseitigen Respekt. Auch wenn die Typen nicht am | |
Gewehr sitzen, suchen sie sich Feindbilder. Die Triggerwarnung ist zum | |
Dauerzustand geworden. | |
9 Nov 2017 | |
## AUTOREN | |
Dennis Vetter | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Afghanistan | |
Spielfilm | |
Film | |
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