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# taz.de -- Fazit des JazzFestes Berlin: Musik ohne Kontrolle
> Der scheidende Festivalchef Richard Williams traf beim JazzFest Berlin
> abermals gute Entscheidungen. Zum Abschluss gelang der große Wurf.
Bild: Ein Auftritt im Rahmen des JazzFestes Berlin
Berlin taz | Gemurmel, Geraschel und Handyläuten. Gerade wenn Tyshawn
Soreys Sound ominös klingt, ermutigt die Musik des New Yorker Jazzdrummers
besonders dazu, sich neuen Klanghorizonten zu öffnen. Das Berliner Publikum
habe ganz schön grob auf sein Trio reagiert, bekundet Tyshawn Sorey, der
vergangenen Donnerstag die große Bühne beim Jazzfest im Haus der Berliner
Festspiele mit einem triumphalen Konzert eröffnete.
Tatsächlich gelingt es dem 37-jährigen Multiinstrumentalisten Sorey, der
als erster JazzFest Artist in Residence die Möglichkeit offeriert bekam,
sein Können in verschiedenen Line-ups und Projekten vorzustellen, zu
polarisieren. Linientreue Jazz-Erwartungskontexte bricht Sorey mit Anleihen
aus Neuer Musik, World-Folk und Solokompositionen für Perkussion, Bass
und Klavier. An die Oberfläche kommen so in mehreren Schichten gestapelte
Klangflächen, statt der Klanggebirge des Free Jazz von einst ertönen nun
größte Weite und Achtsamkeit.
Die Spielhaltung seines Trios hat etwas gewollt Vorläufiges, signalisiert
neue musikalische Kompetenz im Übergang. Als Referenz immer spürbar ist
Soreys Bewunderung für die afroamerikanische Chicagoer Musikerorganisation
AACM (Association for the Advancement of Creative Musicians). Ihrem in den
1960ern von Malachi Favors und Roscoe Mitchell entwickelten unbegrenzten
Einsatz unterschiedlicher Instrumente (besonders sogenannte little
instruments wie Triangel, Glöckchen und Klöppel) verfolgt Sorey heute
weiter, um neue Möglichkeiten des Ensembleklangs zu erlangen.
Im Zusammenspiel mit der deutschen Saxofonistin Angelika Niescier
übertrifft Tyshawn Sorey am Schlagzeug alle Erwartungen. Niescier wurde im
Rahmen des Jazzfests mit dem angesehenen Albert-Mangelsdorff-Preis
ausgezeichnet. Die Kölnerin arbeitet regelmäßig mit Sorey zusammen. Er
nennt sie seine Wahlverwandte, die unermüdlich fragend und forschend ihr
Können transidiomatisch erweitere. Im ständigen Austausch mit der New
Yorker Szene, speziell dem Umfeld des Komponisten Anthony Braxton, zu dem
auch Sorey gehört, hat sich Niescier zu einer großen Saxofonistin
entwickelt.
Im Zusammenspiel mit Sorey und dem Bassisten Chris Tordini erzeugt Niescier
eine kraftvolle und rastlose Improvisationslandschaft. Neugierde, Puls
und ein gemeinsamer Wille zum Experiment und das Wissen um Wirksamkeit
führen zu einem organischen Ganzen, keiner der drei KünstlerInnen eilte dem
jeweils anderen voraus.
## Von Wilmersdorf nach Kreuzberg
Die Idee, Tyshawn Sorey als ersten JazzFest Artist in Residence nach Berlin
einzuladen, war einer der vielen Glücksgriffe des scheidenden
Festivalleiters (und britischen Jazzjournalisten) Richard Williams. Auch
die multistilistische Ausrichtung und die Idee, das Festivalzentrum vom
bürgerlichen Wilmersdorf um eine Club-Spielstätte in Kreuzberg zu
erweitern, tat dem von ihm verantworteten Festival ungemein gut.
Im Kreuzberger Lido begann das sechstägige JazzFest mit einem Auftritt des
britischen Saxofonisten Shabaka Hutchings, der sich mit seiner
südafrikanischen Band The Ancestors bewusst in die afrofuturistische
Klangwelt von KünstlerInnen wie Pharoah Sanders und Alice Coltrane
versetzte und in pure Energie übersetzte. Sänger Siyabonga Mthembu bekam
vom größtenteils jungen Publikum viel Applaus für Sätze wie: „If All Lives
Matter I wouldn’t need to say that Black Lives Matter.“
Auch die indisch-amerikanische Sängerin und Harmoniumspielerin Amirtha
Kidambi, die mit ihrer New Yorker Band Elder Ones im Lido auftrat, stellte
mit neuen Stücken wie „Eat the Rich“ klar, was sie von der amtierenden
US-Regierung hält. Die politische Sozialisation der 31-Jährigen verlief im
Kontext der Bürgerrechtsbewegung [1][#blacklivesmatter], wo sie sich
zusammen mit der Saxofonistin Matana Roberts engagiert.
Auch Kidambi ist deutlich von der AACM und dem Zusammenwirken von
improvisierter Musik und Widerstandsgeist inspiriert, sie widmete ihr
Konzert dem kürzlich verstorbenen AACM-Gründer Muhal Richard Abrams, einer
Inspirationsquelle für diverse diesjährige JazzFest-Künstler.
## Musik soll nicht kontrolliert werden
In Zeiten von #blacklivesmatter sind gerade afroamerikanische Künstler wie
Tyshawn Sorey auf der Hut, da sie ihre Musik keinesfalls auf eine
vermeintlich griffige identitäre Kategorie wie Herkunft und Hautfarbe
reduziert sehen wollen. In seinem Konzert mit 20 in Berlin lebenden
Improvisatoren gelang Sorey zum Abschlusskonzert am Sonntagabend dann der
große Wurf: Nach nur wenigen Probenstunden brachte er das eigens für diesen
Auftritt zusammengestellte Großensemble auf der großen JazzFest-Bühne zum
Brennen.
Angelehnt an die „Conduction“-Methode von Butch Morris gelang es Sorey,
mit 20 Gesten und einigen spontan notierten Anweisungen in Sachen Dynamik
und Geschwindigkeit den Entstehungsprozess der Musik zu entflammen und zu
steuern. Das Ziel war für eine glorreiche Stunde erreicht: Neue Musik soll
nicht kontrolliert werden. Die Notation steht nicht länger als Synonym für
Unterdrückung und Unterwerfung, sondern als Symbol für Transgression und
Freiheit.
8 Nov 2017
## LINKS
[1] https://twitter.com/search?q=%23blacklivesmatter&src=typd
## AUTOREN
Christian Broecking
## TAGS
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