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# taz.de -- Historiker über Oktoberrevolution: „Lenin ist für den Kreml ein…
> Das Wort „Revolution“ ist in Russland heute negativ besetzt, sagt
> Historiker Jurij Piwowarow. Der Kosmopolit Lenin ist nicht mehr gefragt.
Bild: „Lenin liegt im Mausoleum. Sein Einfluss draußen ist sehr begrenzt“,…
taz: Die Oktoberrevolution war der Stolz der Sowjetunion. 100 Jahre danach
will der Kreml nichts mehr davon wissen?
Juri Piwowarow: Der Politik wäre es recht, wenn sie nicht daran erinnert
würde. Revolution ist heute in Russland negativ besetzt. Kremlnahe
Historiker sehen in der Februarrevolution 1917 eine Verschwörung, an der
das Bürgertum, die russischen Generäle, die Intellektuellen und Freimaurer
beteiligt waren. Die Oktoberrevolution erscheint unterdessen wie eine
bolschewistisch-deutsche Verschwörung. Jedoch wird den Bolschewiki
zugutegehalten, dass sie das Imperium bei erstbester Gelegenheit
wiedererrichteten. Sie erwiesen sich als „gosudarstweniki“: Leute, die
trotz Umsturzes den Erhalt und die Größe des Staates über alles stellten.
Die Hauptschuld am Zusammenbruch trifft somit Bürgertum und liberale
Kräfte. Das stimmt so natürlich nicht.
Trotz Kritik an der Revolution ist deren Interpretation bis heute immer
noch von den Inszenierungen der Bolschewiki bestimmt.
Viele glauben, die Gegner der Bolschewiki, die antikommunistischen „Weißen“
und die „Weiße Armee“, seien für Zar und Feudalismus eingetreten. Das
trifft aber nicht zu. Unter ihnen gab es nur wenige Monarchisten und
reaktionäre Kräfte. Auch „pogromtschiki“, antisemitische Schläger, waren
kaum darunter. Weiße Generäle standen häufig Liberalen näher. Während die
Bolschewiki nicht selten mit „schwarzen Hundertschaften“ paktierten, einem
aggressiv antisemitischem Mob der Vorrevolutionszeit.
Februar- und Oktoberrevolution werden also in der offiziellen Darstellung –
in Anlehnung an die Französische Revolution – auch als eine übergreifende
Epoche gefasst?
Die neue Bezeichnung für die Oktoberrevolution, die „Große Russische
Revolution“, fasst bereits den Ausbruch des Ersten Weltkriegs bis zum Ende
des Bürgerkriegs 1921 zusammen.
Halten Sie das nicht für sinnvoll?
Nicht, wenn damit Unterschiede nivelliert und Bewertungen vermieden werden
sollen, wie es jetzt passiert. „Weiße“ und „Rote“, Lenin oder Denikin,…
Oberbefehlshaber der Weißen Armee – nach dieser Darstellung waren sie am
Ende alle gut.
Neuerdings heißt es, die Briten seien an fast allem schuld gewesen. Warum?
Soll dadurch die vermeintliche Verschwörung aller gegen Russland
herausgestellt werden? Dass Russland niemand zur Hilfe kam?
Das ist der politischen Konjunktur geschuldet. Ein Zugeständnis an die
antiliberale Grundstimmung im Land. Warum hätten ausgerechnet die Briten
die Revolution anheizen sollen? Sie waren doch daran interessiert, dass
Russland die Deutschen an der Ostfront bindet.
Wie sieht es mit den jungen Russen aus: Verbinden etwa die heutigen
Studenten mit der Revolution noch etwas?
Die meisten können damit nichts mehr anfangen, ihnen ist das egal, es ist
zu lange her. Die jetzigen Studenten unterscheiden sich aber auch von uns,
die wir in den 1960ern mit den rebellierenden Studenten von Paris und
Berlin mitfieberten. Die akademische Jugend heute reagiert eher
gleichgültig. Sie hält zu Präsident Wladimir Putin, unterstützt die
Annexion der Krim und sieht in den USA den Hauptgegner. Trump und Marine Le
Pen stehen ihnen politisch nah. Wohlgemerkt, ich spreche von Studenten der
Eliteeinrichtungen, der Moskauer Staatlichen Universität (MGU) und der
Diplomatenakademie (MGIMO). Ich habe aber auch an den anderen Hochschulen
Ähnliches erlebt. Das sind Kinder der russischen Mittel- und Oberschicht.
Der jungen Generation wird nachgesagt, dass sie besonders links sei.
Das stimmt. Sie ist aber nicht im sozialdemokratischen Sinne links. Sie
sind linksradikal und gleichzeitig nationalistisch. Zurzeit ist das der
Mainstream. Bei unseren alten Kommunisten langweilen sie sich. Radikal soll
es schon sein.
Ist das reine Attitüde?
Natürlich wollen diese Studenten keine Revolution. Sie glauben
leichtfertig, was man ihnen erzählt. Beispielsweise, dass die Briten die
Februarrevolution entfacht und die Deutschen die Oktoberrevolution
finanziert hätten.
Was passiert mit Lenin – wie wird seine Rolle heute wahrgenommen?
Lenin liegt im Mausoleum. Sein Einfluss draußen ist sehr begrenzt. Nach und
nach wurde er demontiert: Erst wurde berichtet, dass er jüdisches Blut hat.
Kalkül war wohl, dass der Antisemitismus der Menschen weiter an ihm nagen
sollte. Lenin sprach überdies mehrere Sprachen und lebte lange in der
Schweiz. Das macht aus ihm einen Kosmopoliten. Zurzeit ist dieser Typ nicht
gefragt. Kosmopolitismus widerspricht den traditionellen Werten, denen sich
der Kreml zurzeit verschrieben hat.
Es ist Stalins Stunde …
Stalin war zwar kein Russe, als Georgier gehörte er aber dem orthodoxen
Glauben an. Anders als Lenin lebte er fast nur in Russland. Putin äußerte
sich sehr kritisch über Lenin: Er habe mit der Revolution Feuer an das
Gebäude Russlands gelegt … Stalin wird verschont. Lenin ist überdies für
den Kreml ein Verräter, weil er im Friedensvertrag von Brest-Litowsk auf
Land und Leute verzichtete.
Wer zurzeit nach Russland schaut, erhält den Eindruck: Das Land lebt weder
in der Gegenwart noch, wie es die Kommunisten propagierten, für eine
strahlende Zukunft.
Es gibt keine Politik mehr, deren Platz hat die Geschichte inzwischen
eingenommen. Nach der Revolution leugneten die Bolschewiki die Geschichte
als prägenden Faktor. Sie kannten nur noch Zukunft. Daher wurde Geschichte
als Studienfach an den Universitäten zunächst gestrichen. Erst 1934 kehrte
das Fach wieder in den Lehrplan zurück. Heute ist es umgekehrt: Es gibt
keine Zukunft mehr – nur noch Geschichte.
Was sind die Lehren aus Russlands Umstürzen?
Seit der Februarrevolution ist „liberal“ in Russland zu einem Synonym für
„schwach“ geworden. Die Skrupel- und Gnadenlosigkeit der Bolschewiki hatte
niemand vorausgesehen. Eine Lehre ist: Russlands Institutionen sind schwach
und ineffektiv. Das zeigte sich auch beim Zusammenbruch der Sowjetunion
1991. Despotische Systeme sind zerbrechlich. Sie können Einzelnen zwar den
Kopf abreißen, sind aber nicht anpassungsfähig. 1991 dauerte es drei Tage,
bis alles zusammenbrach, 1917 auch nicht viel länger.
Die Geschichte der Russischen Revolution ist für Sie aber auch ein Stück
weit Familiengeschichte.
Meine Großmutter saß in dem „verplombten“ Eisenbahnwaggon, der Lenin 1917
aus dem Schweizer Exil nach Petrograd zurückbrachte. Sie war adlig und
Sozialdemokratin seit jungen Jahren. 20 Jahre hatte sie mit ihrem Mann,
einem der Gründer der sozialistischen Partei Polens, in der Schweiz gelebt.
Georgi Plechanow, damals Russlands bekanntester Marxist, war im Exil ihr
Nachbar. Nach der Revolution wurde sie eine der ersten sowjetischen
Diplomatinnen und nach Italien entsandt. Dort kam auch meine Mutter zur
Welt. Ich habe oft als Kind bei den alten Bolschewikinnen auf dem Schoß
gesessen.
Was hat sich Ihnen besonders eingeprägt?
Mir war lange nicht klar, warum in den Erzählungen die Karrieren Ende der
1930er abbrachen. Was war mit diesen Männern passiert? Wenn die Frauen von
Revolution sprachen, erschien alles romantisch und verklärt. Heroische
Geschichten waren das, keine Analysen aufgeklärter Revolutionärinnen.
Alle hassten Stalin. Sie hatten ja jahrelang in Lagern gesessen und
gehungert. Dennoch wirkten Stalins Tabus weiter. Es überstieg meine
Vorstellungskraft, dass diese gebildeten, auslandserfahrenen älteren Frauen
einer kriminellen Organisation angehört haben sollen. Meine Großmutter war
mit der Witwe von Felix Dserschinski befreundet, dem Gründer des
sowjetischen Geheimdienstes Tscheka. Auch Pjotr Woikows Frau verkehrte bei
uns. Woikow war an der Ermordung Zar Nikolais II. beteiligt. In den 1950er
Jahren wurden wir von unseren Großmüttern erzogen.
7 Nov 2017
## AUTOREN
Klaus-Helge Donath
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