| # taz.de -- Irakische Kurden in der Defensive: Flaggenwechsel in Kirkuk | |
| > In der irakischen Metropole regiert wieder die Zentralregierung. Aber wer | |
| > profitiert davon, wer muss sich jetzt fürchten? | |
| Bild: Irakische Sicherheitskräfte patrouillieren durch Kirkuk | |
| Kirkuk taz | Buben spielen auf einem umzäunten Kunstrasen Fußball, ein Mann | |
| schaufelt vor seinem Altwarenladen, Mädchen mit roten Schleifen im Haar | |
| kommen von der Schule nach Hause, und eine Frau in knielangem Rock | |
| schlendert gemächlich durch eine holprige Seitenstraße. Es ist eine | |
| friedliche Szenerie. Doch wenn man Diyar Jaafer glaubt, täuscht der | |
| Eindruck. Der 27-Jährige betreibt in der Straße in Shoraw einen | |
| Friseursalon. Wie die meisten in dem Viertel im Norden von Kirkuk ist er | |
| Kurde. | |
| „Uns geht es elendiglich“, sagt er. „Sie plündern unsere Häuser und zü… | |
| sie an.“ „Sie“, das sind laut dem rundlichen Friseurmeister und vielen | |
| anderen Kurden in der Stadt die Haschd al-Schaabi, der Dachverband von | |
| Dutzenden schiitischen Milizen im Irak. | |
| „Dort drüben haben sie das Café niedergebrannt. Dort hinten das Haus | |
| ausgeraubt“, fährt Jaafer fort. Wütend fuchtelt er mit der Hand, zeigt auf | |
| ein Haus gegenüber und einen Neubau ein paar Meter hinter seinem Salon. Das | |
| Café ist tatsächlich ausgebrannt. Doch der Besitzer des frisch getünchten | |
| Mehrfamilienhauses widerspricht. „Mein Haus ist voller Wertsachen, niemand | |
| hat sich daran vergriffen“, sagt der hagere Araber. „Im Gegenteil, die | |
| Haschd al-Schaabi haben meinen Besitz geschützt. Es stimmt einfach nicht, | |
| was sie behaupten.“ | |
| ## Wie Massud Barsani Kirkuk verspielte | |
| So umstritten wie die Wahrheit ist auch der Status der erdölreichen Region. | |
| Für die Kurden ist Kirkuk das „Herz“ oder „Jerusalem“ von Kurdistan, f… | |
| die Araber und Turkmenen, eine turksprachige Minderheit, die vor vielen | |
| hundert Jahren in das Land einwanderte, ein integraler Bestandteil des | |
| Irak. Nach vielen fehlgeschlagenen Versuchen, die Stadt unter ihre | |
| Kontrolle zu bringen, schlug für die Kurden mit dem Vormarsch des | |
| „Islamischen Staats“ die Stunde. | |
| Peschmerga, die Kämpfer des kurdischen Teilstaats, füllten im Sommer 2014 | |
| das Vakuum, das die irakischen Sicherheitskräfte hinterlassen hatten. Schon | |
| kurz danach erklärte Massud Barsani, bis zu diesem Mittwoch noch mächtiger | |
| Präsident des kurdischen Teilstaats, die Frage von Kirkuk habe sich | |
| erledigt, die Stadt sei ein Teil Kurdistans. Doch dann wollte er den Worten | |
| auch Taten folgen lassen. Gegen die Widerstände selbst aus den eigenen | |
| Reihen setzte Barsani durch, dass das Unabhängigkeitsreferendum Ende | |
| September auch in den umstrittenen Gebieten stattfindet. | |
| Das Referendum habe jeglicher rechtlichen Grundlage entbehrt, sagt der | |
| Verfassungsrechtler Aram Ahmed. Obwohl selbst Kurde, teilt er damit die | |
| Sichtweise der Regierung in Bagdad. Dass es auch am Abstimmungstag nicht | |
| mit rechten Dingen zuging, räumen selbst viele Kurden ein. Er habe | |
| siebenmal seine Stimme abgegeben, sagt ein Automechaniker. Ein anderer gibt | |
| an, Stimmzettel in Serie mit einem Ja ausgefüllt zu haben. | |
| Die Kurden kam das Referendum teuer zu stehen. Anders als von Barsani | |
| erwartet, stellten sich weder die US-Amerikaner noch die Europäer hinter | |
| ihn. Der Iran und selbst die Türkei, mit der er in den letzten Jahren enge | |
| politische und wirtschaftliche Beziehungen aufgebaut hat, suchten | |
| stattdessen den Schulterschluss mit Bagdad. Der irakische Regierungschef | |
| Haider al-Abadi schickte die Armee und Polizisten. Die Kurden verloren ein | |
| riesiges Gebiet, darunter mehrere große Ölfelder. Und sie verloren die | |
| Millionenmetropole Kirkuk. Viele Araber, Turkmenen und selbst manche Kurden | |
| sind froh, dass Bagdad die Autorität der Zentralregierung wiederhergestellt | |
| hat. | |
| Auf dem Markt in südlichen Stadtteil Domiz haben Händler auf dem Gehsteig | |
| ihre Waren aufgetürmt. Der Geruch von frisch gegrilltem Fleisch, Tomaten | |
| und Zwiebeln erfüllt die Luft. Männer und Frauen mit ihren Kindern | |
| flanieren über den Markt, begutachten Qualität und Preise. | |
| Auf seinem Stand hat Ibrahim Juma leuchtend rote Granatäpfel aufgetürmt. | |
| Vereinzelt habe es Schießereien und Plünderungen gegeben, sagen Verkäufer | |
| und Kunden übereinstimmend. Diese seien jedoch nicht auf das Konto von | |
| Soldaten und schiitischen Milizionären gegangen. „Ich bin Sunnit und | |
| Araber“, sagt Juma. „Sie haben uns kein einziges Mal belästigt. Sie | |
| schützen uns.“ So hatte es Abadi in Bagdad versprochen. | |
| Die kurdischen Flaggen, die vor Wochen noch über öffentlichen Gebäuden und | |
| an Straßen wehten, sind verschwunden. An ihrer Stelle flattern jetzt die | |
| irakische Fahne sowie an einigen Plätzen und Straßenzügen schiitische | |
| Fahnen – aber keine von den umstrittenen schiitischen Milizen. Einmal fährt | |
| ein Pick-up mit unbewaffneten schiitischen Kämpfern an uns vorbei. | |
| Ansonsten sind sie im Straßenbild nicht zu sehen. Für die Sicherheit sorgen | |
| Einheiten der paramilitärischen Bundespolizei und lokale Polizisten, unter | |
| ihnen auch Kurden. Selbst die Soldaten, die anfangs noch mit Panzern ein | |
| kurdisches Quartier bewachten, sind inzwischen verschwunden. | |
| ## Klagen der Araber | |
| Obwohl Araber und Turkmenen die Peschmerga dafür loben, dass sie in den | |
| letzten drei Jahren die Sicherheit in der Stadt wiederhergestellt haben, | |
| klagen viele auch über politische und wirtschaftliche Benachteiligung | |
| durch den ehemaligen kurdischen Gouverneur. „Als Araber hatte ich | |
| keinerlei Rechte, ich erfuhr keinenRespekt“, sagt Juma. „Ich konnte nur | |
| arbeiten und den Mund halten.“Die Kurden hätten sich die besten Grundstücke | |
| unter den Nagel gerissen und öffentliche Aufträge seien an Unternehmer mit | |
| guten Beziehungen zum Gouverneur gegangen, sagen Händler. | |
| Sämtliche hohe Posten in der Verwaltung der Stadt besetzte der | |
| Ex-Gouverneur Nejmeddin Kerim mit Kurden, gleichzeitig bauten sie ihre | |
| eigene Parallelverwaltung mit eigenen Sicherheits- und Geheimdienstorganen | |
| auf. Kerim, der in der Nacht vor der irakischen Offensive die Kurden noch | |
| zu den Waffen gerufen hatte, ist in den Norden nach Kurdistan geflohen. | |
| Seinen Sitz in der mit Sprengschutzmauern geschützten Lokalverwaltung nimmt | |
| jetzt sein Stellvertreter ein, der arabische Sunnit Rakkan Said Ali Juburi. | |
| Juburi, der bei aller Kritik auch lobende Worte für seinen Vorgänger | |
| findet, verspricht einen Neuanfang. „Alle Nationen in Kirkuk müssen | |
| zusammenarbeiten, anders funktioniert es nicht“, sagt er. Für viel Ärger | |
| unter Turkmenen und Arabern sorgte Kerims Entscheidung, dass nur Familien, | |
| die bereits während des letzten Zensus im Jahr 1957 in Kirkuk lebten, | |
| Ausweise beantragen konnten. Ohne Ausweis kann man weder wählen noch Grund | |
| und Immobilien erwerben noch Neugeborene registrieren lassen. „Alle Kinder | |
| haben ein Recht auf eine gesicherte Zukunft“, sagt Juburi jetzt. | |
| Politischer Streit mit den Kurden ist damit vorprogrammiert. Schon jetzt | |
| behaupten kurdische Medien, Bagdad würde im großen Stil zu seiner früheren | |
| Arabisierungspolitik zurückkehren. Turkmenen und Araber werfen den Kurden | |
| ihrerseits vor, seit dem Sturz von Saddam eine systematische Kurdifizierung | |
| der Stadt betrieben zu haben. | |
| Unterdessen ist der Provinzrat politisch gelähmt. Die Vertreter von | |
| Barsanis Demokratischer Partei Kurdistans (KDP) sind geflohen, ihre | |
| Parteiniederlassungen verweist. Die Patriotische Union Kurdistans (PUK), | |
| die sich auf einen Deal mit der Zentralregierung in Bagdad eingelassen hat, | |
| ist zwar weiterhin präsent, doch ohne die KDP fehlen ihr im Provinzrat die | |
| Stimmen, um einen Nachfolger von Kerim wählen zu können. | |
| „Wenn Araber herrschen, unterdrücken sie die anderen. Was passiert, wenn | |
| die Kurden herrschen, haben wir in den letzten vier Jahren gesehen“, sagt | |
| Mehmet Agaoglu, Chef der Turkmenischen Nationalistischen Bewegung. „Wären | |
| Turkmenen an der Macht, wäre es das Gleiche.“ Die Politik, dass der | |
| Herrscher sich alles nimmt, sei tief in der Psyche der Iraker verankert. | |
| „Deshalb gab es auch immer Ungerechtigkeit und Krisen auf Krisen.“ Die | |
| einzige Möglichkeit, aus dem Teufelskreis herauszukommen, sei deshalb ein | |
| Proporz, gemäß dem sämtliche Ämter und Stellen sowie der Provinzrat zu | |
| jeweils 32 Prozent mit Turkmenen, Arabern und Kurden sowie zu 4 Prozent mit | |
| Christen besetzt werden und der Gouverneursposten alle drei Jahre an eine | |
| andere Gruppierung geht. „Auf diese Weise fühlt sich keiner benachteiligt, | |
| und wir können eine Demokratie aufbauen“, sagt Agaoglu. „Nur so können wir | |
| einen Bürgerkrieg verhindern.“ | |
| Glaubt man kurdischen Medien aus dem Umfeld der Barsani-Familie, hat dieser | |
| längst begonnen. Beinahe täglich berichten sie über angebliche Gräueltaten | |
| von schiitischen Milizionären. Von den Milizen kontrollierte Sender heizen | |
| ihrerseits das Klima mit chauvinistischer Propaganda gegen die Kurden auf. | |
| Angesichts dessen wirkt die Stadt fast schon gelassen. Selbst Anfang | |
| November ist es noch heiß. Wer kann, zieht sich am Mittag zur Siesta | |
| zurück. Erst am späten Nachmittag, wenn es kühler wird, füllen sich die | |
| Straßen. In Richtung Zentrum drängt sich der Verkehr, ein paar Buben | |
| verkaufen irakische Fahnen. Hinter großen Glasfassaden sieht man die hell | |
| erleuchteten Auslagen von Boutiquen mit der neuesten Mode aus der Türkei. | |
| Das ändert sich freilich, sobald man in die mehrheitlich kurdischen Viertel | |
| kommt. In Shorja, einem Viertel im Zentrum, ist nur jeder zweite Laden | |
| geöffnet. Zehntausende Kurden sind aus Kirkuk geflohen, doch zumindest in | |
| Rahimawa, dem größten Kurdenviertel, sind viele wieder zurückgekehrt. | |
| Gegenüber dem ausgebrannten Hauptquartier des ehemaligen KDP-Geheimdienstes | |
| vertreiben sich Männer auf Plastikstühlen den späten Nachmittag mit einem | |
| Plausch. „Wir wollten mit dem Referendum wie Europa werden“, sagt Imad | |
| Saber. „Stattdessen leben wir jetzt wie Hunde. Jeder hier hat Angst.“ Zwei | |
| in der Gruppe widersprechen, zwischen den Kurden entbrennt ein heftiger | |
| Streit. „Du lügst“, fährt ein Junger den Älteren an. „Nur wer Dreck am | |
| Stecken hat, muss sich fürchten, sonst niemand. Hier ist alles normal.“ Wie | |
| viele in der Stadt, ob Turkmenen, Araber oder Kurden, macht er für die | |
| Überfälle und Diebstähle in erster Linie kriminelle Banden verantwortlich. | |
| Barsani hat die Konsequenz aus den desaströsen Folgen des Referendums | |
| gezogen und auf eine Verlängerung seiner ohnehin seit zwei Jahren | |
| abgelaufenen Amtszeit verzichtet. In einer Fernsehansprache gab er sich | |
| kämpferisch. „Ich bin ein Peschmerga“, sagte er. „Ich werde weiterhin an | |
| der Seite meines Volkes in seinem Kampf für Unabhängigkeit stehen.“ Für den | |
| Verlust von Kirkuk machte er den „Verrat“ von rivalisierenden Politikern | |
| verantwortlich. | |
| Auch der junge Hitzkopf hat für die Unabhängigkeit gestimmt. Er bereue es | |
| zutiefst, sagt er. Inzwischen sei er froh, dass die Regierung in Bagdad das | |
| Ruder übernommen hat. Ein älterer Herr nickt eifrig. „Was haben sie uns | |
| gebracht? Nichts“, sagt er über die beiden kurdischen Parteien. „Sie haben | |
| das Öl verkauft und das Geld in ihre eigene Tasche gesteckt.“ Von Bagdad | |
| erhofft er sich, dass künftig die Öleinnahmen gerechter verteilt werden. | |
| „Die Leute wollen eine Stelle beim Staat und ein Gehalt“, sagt der Ältere, | |
| der Rentner Nazim Rashid. „Das ist es, was zählt, egal ob für Kurden, | |
| Turkmenen oder Araber.“ | |
| 2 Nov 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Inga Rogg | |
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