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# taz.de -- Internationale Gartenschau: Im Vorgarten der Marzahner
> Oft war über die IGA geschrieben worden, dass sie an den Marzahnern
> vorbeigehen würde. Für Christian Scholl gilt das nicht. Ein Spaziergang
Bild: Verbindet Marzahn und Hellersdorf: Die Seilbahn auf dem IGA-Gelände in 2…
Bei schönem Wetter musste Christian Scholl zweimal am Tag auf den
Wolkenhain, einmal für die Aussicht und dann nochmal für den
Sonnenuntergang. Heute, am letzten Montagvormittag vor dem Ende der
Internationalen Gartenschau in Marzahn-Hellersdorf, ist ausnahmsweise der
Himmel blau. Hier oben, auf der 120 Meter über dem Meeresspiegel gelegenen
Aussichtsplattform, geht der Wind frisch. Scholl zieht sich die helle
Schirmmütze über die Stirn. Er trägt schnittige Jeans und eine silberne
Windjacke. Der Mann, der sich selbst als eher scheu beschreibt und sich
„nicht von vorn“ auf einem Foto in der Zeitung zeigen will, spricht hier
oben häufiger Leute an.
Denn Christian Scholl, 68 Jahre alt und Rentner, kennt sich aus. Er wohnt
in einer Platte am Blumberger Damm, direkt gegenüber vom Haupteingang der
IGA, der ab Dezember wieder der Haupteingang der Gärten der Welt sein wird.
„Die IGA war mein Vorgarten“, sagt er. Seit vielen Jahren besitzt er die
Dauerkarte für die Gärten der Welt und darum natürlich jetzt auch die für
die IGA. „Wegen der Gartenausstellung sind wir dieses Jahr extra nicht in
den Urlaub gefahren“, sagt Scholl. Schon während der ersten Minuten seiner
vierstündigen Führung durchs Gelände wird klar, dass es falsche
Bescheidenheit ist, wenn er sagt: „Ich interessiere mich nicht so für
Botanik.“
Seit 1980 lebt Christian Scholl hier im Bezirk, er gehört zu den so
genannten Erstbeziehern, die gern von den Anfangsjahren als
„Gummistiefelzeit“ erzählen. Damals als die Großsiedlung
Marzahn-Hellersdorf gebaut wurde, gab es noch keine festen Straßen, die
Gärten der Welt wurden erst sieben Jahre später eröffnet.
Scholl steht auf dem Wolkenhain und deutet nach unten. Er erinnert sich
gut, wo damals die Treibhäuser der Landwirtschaftlichen
Produktionsgenossenschaften standen. Er weiß, wo die allerersten
Plattenbauten der Großsiedlung gesetzt wurden und wo gerade einige der
schicksten Wohnungen im Bezirk entstanden sind: m Marzahner Tor, nördlich
der IGA.
## Marzahn symbolisierte einen echten Aufbruch
Wie für viele der gutbürgerlichen Erstbezieher, die in den medialen
Beschreibungen Marzahns oft fehlen und die den Bezirk doch mit ihrem
nachbarschaftlichen Engagement davor bewahrt haben abzustürzen,
symbolisierte Marzahn bei ihrem Einzug einen echten Aufbruch. Vor dem Umzug
lebte die Familie Scholl in einer dunklen Altbauwohnung in der
Heinrich-Roller-Straße in Prenzlauer Berg, mit Klo auf der anderen Seite
des Hinterhofs. Auch als Richter der DDR pflegte Christian Scholl aus
vielen Gründen große Distanz zum politischen System, sicher auch deshalb
musste er so lange auf seine Wohnung warten – so wie alle anderen
DDR-Bürger.
Für Scholl war immer klar, dass Marzahn ein guter Ort zum Leben ist – auch
wenn der Bezirk nach der Wende unter Abwanderung litt und gerade
einkommensstarke Einwohner wegzogen. Und auch, obwohl es hier mehr Proteste
gegen den Bau von Flüchtlingsheimen gab als irgendwo sonst in Berlin.
Christian Scholl blieb trotzdem. „Für mich wurden in Marzahn längst nicht
genug Flüchtlinge aufgenommen“, sagt er.
Doch nun geht es zunächst einmal runter vom Kienberg, über die
Tälchenbrücke, hinein in die IGA. Fast zu jedem Land, das hier in den
Themengärten präsentiert wird, hat Christian Scholl viel zu erzählen,
erklärt, warum der Kies im Japanischen Garten geharkt wird, wie die
traditionelle balinesische Wohnanlage zur IGA mit der Tropenhalle überbaut
wurde, warum der Lavendelduft im neu eröffneten Englischen Garten so
wichtig ist.
## Der Bezirk werde wenig in die IGA strahlen
In den Medien war viel darüber berichtet worden, dass einige Themen der IGA
wohl an den Marzahnern vorbeigehen würden. Dass sie zudem mit 20 Euro fürs
Tagesticket zu teuer wäre für all die Arbeitslosen, die Armen, die
Alleinerziehenden hier. Der Bezirk werde wenig in die IGA strahlen und die
IGA wenig in den Bezirk, hieß es. Christian Scholl aber ist das beste
Beispiel dafür, dass das nicht stimmt. Und er ist nicht allein: Viele
seiner Nachbarn und Bekannten im Kiez haben ebenfalls eine Dauerkarte,
erzählt er. Leute wie er wüssten zu schätzen, dass der Bezirk nicht nur die
IGA bekommen hat, sondern auch Millionen für die Infrastruktur um die
Gartenausstellung herum. Die neuen, topmodernen U-Bahn-Stationen am
Kienberg etwa und auch das goldene Bezirksinformationszentrum.
Der Marzahner Scholl wirkt wie ein Weltbürger, würde gern noch viel weiter
reisen, „wenn meine Frau keine Flugangst hätte“. Auf seiner Führung
berichtet er nicht nur begeistert von der weißgelben Blüte der Franggipani,
die in Indonesien für Gelassenheit und Unsterblichkeit steht und gerade
auch bei ihm zu Hause blüht – oder von der Verbrennung von Land für die
Fruchtbarkeit des Bodens durch die australischen Ureinwohner. Interessiert
hat er sich auch für angesagtere Inhalte auf der IGA: Themen wie
nachhaltige Stadtentwicklung oder die Förderung der Artenvielfalt, die etwa
rund um den Weltacker verhandelt wurden. Alles Themen, die man vielleicht
eher jüngeren Besuchern aus der Innenstadt zugetraut hätte. Für Christian
Scholl steht fest: Die IGA hat seinem Bezirk zu dem Ruf verholfen, den das
Bildungsbürgertum in Marzahn schon immer hochgehalten hat.
Am Ende seiner Führung zeigt der Rentner mit dem schnellen Schritt der
schlappen Journalistin ein Restaurant am Haupteingang. Er findet den Laden
„fetzig“, vieles erinnert an Pizzerien in Mitte: Betonfußboden, große
Ledercouchen. Als Scholl später erhobenen Hauptes von der Toilette
wiederkommt, wirkt er einen winzigen Moment lang so, als hätte er sich
diese Pizzeria und diese ganze schöne IGA vor seiner Haustür ganz alleine
ausgedacht.
14 Oct 2017
## AUTOREN
Susanne Messmer
Sebastian Wells
## TAGS
Berlin Marzahn-Hellersdorf
Kolumne Starke Gefühle
IGA 2017
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Landwirtschaft
Soziale Brennpunkte
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