# taz.de -- Dokumentarfilm im Kino: Als die Gemälde laufen lernten | |
> „David Lynch: The Art Life“ verknüpft die Biografie und die Ästhetik des | |
> stilbildenden US-Regisseurs. Der Film liefert Grundlagenforschung. | |
Bild: David Lynch in „David Lynch: The Art Life“ | |
Muss man eine dokumentarische Arbeit, die US-Filmemacher David Lynch gilt, | |
für enttäuschend halten, weil in ihr weder „Blue Velvet“ noch „Twin Pea… | |
erwähnt werden, weil darin kein Wort über die Musik Angelo Badalamentis, | |
die Traumdeutung in „Mulholland Drive“ oder die Motive der Schizophrenie in | |
„Lost Highway“ verloren wird – und weil die Transzendentale Meditation, d… | |
der Regisseur längst zu seiner Mission gemacht hat, nicht einmal am Rande | |
vorkommt? | |
Man muss nicht, denn eigentlich erscheint die Idee, gar nicht erst zu | |
versuchen, ein Künstlerleben in seiner Totalität zu erfassen, doch sehr | |
vernünftig. „David Lynch: The Art Life“ macht sich frei von der Zumutung, | |
vollständig sein zu müssen, versteht sich nicht als letztes, gar | |
definitives Wort in Sachen Lynch und keineswegs als Kurzfassung einer | |
Weltkarriere. | |
Wer das Werk von David Lynch nicht kennt und sich dennoch in diesen Film | |
verirrt, wird bis kurz vor Schluss meinen, das Porträt eines bildenden | |
Künstlers zu verfolgen; aber falsch ist das nicht, denn Lynch war lange, | |
ehe er zum Kino übertrat, Maler – und er ist es, wie man hier sieht, noch. | |
Das Regietrio, das hinter „The Art Life“ steht (Jon Nguyen, Olivia | |
Neergaard-Holm und Rick Barnes), beschränkt sich auf zwei Zeitebenen, auf | |
die ersten zweieinhalb Dekaden in Lynchs Leben, die Jahre zwischen 1946 und | |
1971 – und auf die jüngste Vergangenheit, die aktuelle Kunstproduktion des | |
Regisseurs. | |
Lynch, inzwischen 71 Jahre alt, lebt das Künstlerleben, von dem er schon | |
als Halbwüchsiger geträumt hat. Das Kino bleibt, weil es hier um die | |
komplizierte Initiation eines singulären Filmemachers über den Weg der | |
Malerei geht, lange ausgeblendet; Lynchs Arbeit an den Bewegtbildern setzt | |
erst 1967 ein. Mit dem Beginn der jahrelangen Produktion des | |
albträumerischen Debüts „Eraserhead“ (1977) endet „The Art Life“. | |
Der dokumentarische Zugriff ist minimalistisch. Interviews mit | |
Wegbegleitern oder sonstigen Zeitzeugen wird man vergeblich suchen, hier | |
erzählt nur einer, zögerlich zwar und oft fragmentarisch, aber durchaus | |
konzentriert: Lynch selbst. An die 20 Interviews, die meisten davon ohne | |
Kamera geführt, sind der Grundstoff, aus dem „The Art Life“ besteht; Lynch | |
berichtet, fast immer aus dem Off, von seiner Kindheit und Jugend. | |
## Figurative Kunst | |
In den Bildern, die ihn selbst bei der Arbeit zeigen, spricht er nicht. Mit | |
einer langen, stillen Einstellung des Porträtierten in seinem Atelier | |
startet der Film, mit dem sinnierenden Lynch, den Blick auf etwas außerhalb | |
des Bildrahmens gerichtet – die eine Hand hält, wie stets, eine Zigarette, | |
die andere scheint etwas Unsichtbares zwischen den Fingern zu zerreiben. | |
Der ikonische Charakterkopf mit dem weißen, wie elektrisiert zu Berge | |
stehenden Haar dominiert „The Art Life“ – und man sieht dem Mann gerne | |
dabei zu, wie er im kreativen Chaos seines weitläufigen Studios geduldig an | |
abgründigen Bildschöpfungen werkt, seine kleine Tochter Lula meist um ihn: | |
Mit blauen Gummihandschuhen bearbeitet er Oberflächen, trägt Farbe auf, | |
appliziert Schriften. | |
Lynchs Kunst ist figurativ, aber im Bacon’schen Sinne auch entrückt: In den | |
verkratzten, schuppigen Texturen erkennt man abgetrennte Gliedmaßen, | |
entstellte Körper, rätselhafte Situationen zwischen Groteske und | |
Fiebertraum. Lynchs Erzählungen weisen dasselbe gemessene Tempo auf wie die | |
Rhythmen der Filmbilder: Porträt des Künstlers im Nebel seiner Zigaretten. | |
## Crowdfunding-finanziert | |
Die Crew hinter diesem per Crowdfunding-finanzierten Werk genießt offenbar | |
das Vertrauen ihres Helden, der den Dokumentaristen viel Privates – | |
Home-Movies, Familienfotos, intime Erinnerungen – überlassen hat: Jon | |
Nguyen und Kameramann Jason S. koproduzierten bereits 2007 den – um die | |
Entstehung von „Inland Empire“ konzipierten – Dokumentarfilm „Lynch“.… | |
organisatorische Präsenz von „Twin Peaks“-Produzentin Sabrina Sutherland | |
dürfte außerdem vertrauensbildend gewirkt haben. Er sei ungetrübt glücklich | |
aufgewachsen, konfliktfrei und in „voller Freiheit“, gibt David Lynch zu | |
Protokoll, habe mit seinen wohlmeinenden Eltern und freundlichen | |
Geschwistern einen „super happy household“ bewohnt, ein „Fundament der | |
Liebe“ erhalten. | |
Zu den glückseligen Augenblicken seiner frühen Kindheit zählt er das Sitzen | |
in kühlen Matschgruben an heißen Sommertagen mit einem Freund, dessen | |
archetypischen Namen er parat hat: Little Dickie Smith. Lynch malt | |
Kleinstadtidyllen nach, auch die Kriegsspiele, die von den Kindern um 1950 | |
in Imitation einer allzu nahen Vergangenheit ausgetragen wurden. Die | |
Mutter, die alle nur „Sunny“ nannten, kaufte David, anders als den | |
Geschwistern, keine Malbücher, um seine blühende Fantasie nicht zu | |
behindern. Von der Stadt seiner Geburt – Missoula, Montana – zieht die | |
beruflich unstete Lynch-Family nach Idaho, erst nach Sandpoint, dann nach | |
Boise und weiter nach Spokane, Washington; als Teenager erreicht David | |
schließlich Alexandria, Virginia, wo er in eine erste Psycho-Krise | |
schlittert, sich mit den falschen Freunden einlässt, die Gewalt über sich | |
zu verlieren droht. | |
Er wird das Gefühl, in der Hölle zu leben, nicht los, und sein Hass auf die | |
Schule trägt pathologische Züge. Die Träume, so erinnert sich Lynch, | |
übernehmen die Kontrolle. Lynch seziert Insekten, beforscht die dunkle | |
Welt. Seine Vorliebe für das Morbide ist früh so deutlich ausgeprägt, dass | |
ihm sein Vater – als er sieht, woran der Sohn arbeitet – ernstlich | |
nahelegt, niemals Kinder zu kriegen. | |
## Aus der Kleinstadt-Hölle | |
Abgründe des Kleinstädtischen nehmen in Lynchs Rückschau einigen Platz ein: | |
Beunruhigende Begegnungen wie jene mit einer nackten und weinenden, aus dem | |
Mund blutenden Fremden, die den Kindern spätabends begegnet, dabei wie aus | |
einer anderen Welt wirkt, scheinen sich ganz unmittelbar in sein späteres | |
filmisches Werk eingeschrieben zu haben. Ähnliches gilt für die eigenartige | |
Story aus einer Sommernacht im sonst so schönen Boise, Idaho, als Mr. Smith | |
von gegenüber unerwartet sein Haus verließ und auf seine Nachbarn zukam – | |
aber Lynch bricht ab, er kann die Geschichte nicht zu Ende erzählen. Hat | |
sich da Unaussprechliches ereignet? | |
In den 1960er Jahren wird die Perspektive der Malerei für Lynch immer | |
konkreter. Das „Art Life“ schwebt ihm vor, als Vision unglaublichen Glücks: | |
Tag für Tag nur malen, rauchen, Kaffee trinken, nichts sonst. Er zieht ins | |
arme Philadelphia, um dort die Kunsthochschule zu besuchen, und er hegt | |
eine Utopie: ein Gemälde herzustellen, das sich bewegt. So beginnt er, sich | |
mit Animation auseinanderzusetzen, das Kino ins Auge zu fassen. Ein | |
Stipendium reißt ihn aus der Armut – und der Umzug nach Los Angeles, um | |
Film zu studieren, besiegelt sein Schicksal. | |
Der Ästhetik des Surrealisten David Lynch ist „The Art Life“, auch wenn es | |
da und dort zu viel an Nachstellung des Gesprochenen gibt, offensichtlich | |
verpflichtet: Ein starker Stilwillen herrscht in diesem Film; die | |
atmosphärische, detailsinnige Fotografie nutzt ausgiebig Zeitlupen und | |
Entfärbungen, die Musik malt eigenwillige Stimmungen. Die Erzählung endet | |
mit der sehnsüchtigen Erinnerung des Helden an die Zeit, als er in den | |
alten Ställen seiner kalifornischen Kunsthochschule über Jahre hinweg jene | |
epochale Wahnvorstellung, die er „Eraserhead“ nennen würde, erschaffen | |
konnte – wo das Leben und die Kunst so lange ineinanderbluteten, bis | |
niemand mehr das eine vom anderen unterscheiden konnte. | |
30 Aug 2017 | |
## AUTOREN | |
Stefan Grissemann | |
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