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# taz.de -- Redaktionen fahren in die Provinz: Wie wäre es mit Lokaljournalism…
> Vor der Wahl starten einige Redaktionen Sonderprojekte. Sie wollen mit
> echten Menschen über echte Probleme reden. Wem bringt das was?
Bild: Wo sind die Geschichten? Eine Landstraße in Mecklenburg
Die Sonderanstrengung hat viele Synonyme. Sie kann schlicht ein
Sonderprojekt sein, eine Arbeitsgruppe oder auch eine Taskforce. Jochen
Wegner bedient sich aber einer anderen Wortschöpfung, die modern und klug
zugleich klingt, so wie das eben sein Stil ist: Der Journalist spricht von
einem „Pop-up-Ressort“.
Wegner ist Chefredakteur von Zeit Online. Als Google Anfang August zur
„frühesten Wahlparty des Jahres“ in sein Berliner Lobbybüro geladen hat,
hält er einen Vortrag und erzählt von „[1][#D17]“. Wegner ist dabei immer
noch erstaunt, denn: Seine JournalistInnen schreiben eigentlich nur
darüber, was in ihrer eigenen Heimat los ist. Die „größte Innovation, die
wir in diesem Jahr hatten“, wie der Chefredakteur sein Projekt einordnet,
ist nichts anders als: klassischer Lokaljournalismus.
„Wir hatten befürchtet, dass wir Deutschland gar nicht verstehen“, erklärt
Wegner. Er spricht von erschreckenden Wahlergebnissen in den USA,
verblüfften US-KollegInnen, die ihr Publikum anders eingeschätzt hätten,
und der Sorge hiesiger JournalistInnen, dass ihnen Ähnliches blühen könnte.
Auch das Buzz-Wort „Filterblase“ fällt natürlich.
## Nach Hause
Für „#D17“ werden Zeit-Online-RedakteurInnen zu „HeimatreporterInnen“ …
schauen sich um, wo sie aufgewachsen sind. Eine Redakteurin des
Investigativteams besuchte etwa ein Freibad im hessischen Oberscheld, das
wie viele schließen sollte – und entdeckte, dass „eine Gruppe Rentner
besorgte, was der Kommune fehlte: Geld, Ideen, Ausdauer, gute Pommes“. Mit
dieser Geschichte machte Zeit Online seine Seite auf – sie stand also dort,
wo sonst Schlagzeilen mit Trump & Co. auf Klicks warten.
Eine Wirtschaftsredakteurin beobachtete für das Projekt im
[2][rheinland-pfälzischen Nierstein], „was überall in Deutschland
geschieht: Das Ortszentrum stirbt – und am Stadtrand wachsen die
Gewerbegebiete“. Eine der meistgelesenen Geschichten auf Zeit Online
überhaupt [3][porträtiert einen Sachsen Mitte 30], der noch nie eine
Freundin hatte – auch weil es Frauen aus vielen ostdeutschen Dörfern früh
in die Ferne zieht.
„Wir tun einfach so, als wären wir gerade eingewandert, und versuchen jetzt
uns zu erklären, wie Deutschland funktioniert“, sagt Wegner. Im Wahljahr
zieht es JournalistInnen aus gefühlt allen Redaktionen weg von ihren
Schreibtischen und distanzierten Agenturmeldungen, hin ins echte Leben und
den Problemen der Leute.
Als Bild letzten Montag live aus dem Bundeskanzleramt ein Interview mit
Angela Merkel streamte, wussten die Boulevard-JournalistInnen: „Bild kennt
die Fragen der Bürger“, denn die Redaktion hat einen Bus aus den USA
importiert und umgebaut und ist mit ihm [4][nun auf „Deutschland-Tour“]: Im
„Bild kommt zu Ihnen!“-Modus – den manch einer sicher auch als Drohung
interpretieren wird – fahren die JournalistInnen insgesamt 5.000 Kilometer
durch die Republik, um auf insgesamt 65 Marktplätzen aufzuschlagen. Das
große Versprechen: „Wir wollen wissen, was los ist!“
Für [5][die Aktion taz.meinland] touren auch taz-ReporterInnen durch
Deutschland. Und auch der Autor dieser Zeilen war unterwegs: Für den NDR
und gemeinsam mit einem Kollegen des RBB hat er sich gerade vier Wochen die
Situation der Pressefreiheit in Südosteuropa angesehen, statt nur vom
Schreibtisch aus über die Bewegungen auf der Liste der Reporter ohne
Grenzen zu berichten oder heimische Experten zu befragen.
Wirklich bemerkenswert ist allerdings, wie systematisch RTL seine
JournalistInnen auf Tuchfühlung mit der Außenwelt bringt. Vor zwei Jahren
begann der Kölner Sender damit, Wohnungen für seine Mitarbeiter anzumieten
– zunächst eine in Duisburg-Aldenrade, danach eine in einem Chemnitzer
Plattenbau und immer zwei Zimmer voll mit Möbeln aus dem Discounter. „Wenn
uns interessiert, was die Menschen wollen, dann reicht es eben nicht, wenn
wir durch die Kölner Alt- und Südstadt gehen“, erklärte Chefredakteur
Michael Wulf auf den Medientagen in Leipzig und erzählte: „Ich bin gerade
durch Bitterfeld durchgefahren. Ich glaube kaum, dass auch nur einer
unserer Journalisten da je hinkommt!“
Die Mitarbeiter sollen sich fernab ihrer gewohnten Pfade unter die Leute
mischen – in den benachbarten Kneipen und Sportvereinen. Vor allem aber
sollen sie Menschen in ihre Durchschnitts-zweiraumwohnung einladen, mit
ihnen das Programm schauen, es kritisieren und über die eigenen Nöte und
Sorgen reden.
Für die heiße Phase des Bundestagswahlkampfs hat RTL, das sonst eher für
sein „Sommerhaus der Stars“ bekannt ist und [6][dort den „Kampf der
Promipaare“] inszeniert, eine WG im niedersächsischen Rinteln gemietet, das
vor allem eines sei: statistischer Durchschnitt bei Beschäftigungsquote und
Migration. Die gut 26.000 Einwohner leben nun vorübergehend in der
offiziellen „RTL-Wahlstadt“ – ob sie wollen oder nicht.
Der Sender bringt die BürgerInnen dann auch ins Programm: den Schüler, der
sich von Politikern wünscht, dass sie sich mehr um Jugendliche kümmern. Die
selbstständige Kosmetikerin, die vor lauter Fixkosten kaum leben kann. Das
Rentnerpaar, das auf die Tafel angewiesen ist. „Die Stimmen aus Rinteln
sollen ab jetzt Gehör finden – stellvertretend für alle Bürger in
Deutschland“, heißt es in einem Werbeclip.
Bürgermeister Thomas Priemer (SPD) hat nun ein Foto von sich mit RTL-Anchor
Peter Kloeppel, das er sich neben den Schreibtisch hängen kann. Der
Kommunalpolitiker schwärmt von der Kooperation: „Wir haben damit die
Möglichkeit erhalten, uns vor einem Millionenpublikum präsentieren zu
können.“
## Marketing
RTL-Chefredakteur Wulf sind solche Aktionen wichtig. JournalistInnen
sollten „nicht nur die ersten drei Treffer bei Google ansehen, sondern
rausgehen, mit den Menschen in Kontakt kommen und so auch eine Haltung zu
einem Thema entwickeln“, sagte er auf den Medientagen. „Wie soll man sonst
eine Haltung entwickeln?“
Natürlich steckt in all diesen Aktionen auch irgendwie ein bisschen
Marketing und damit Inszenierung. Bild geht es beispielsweise
erklärtermaßen auch um Präsenz, und der Bus gleicht einem fahrenden
Werbeplakat. Gleichzeitig zeigt sich in diesem Jahr so stark wie nie, dass
JournalistInnen das Bedürfnis haben, mit ihrem Publikum in Kontakt zu
treten, und das nicht bloß in den digitalen Kommentarspalten.
Zeit Online hat sein Projekt sogar ergänzt um „[7][Deutschland spricht]“
und gezielt Bürger mit unterschiedlichen politischen Meinungen ganz real an
einen Tisch gebracht – deutschlandweit bereits hunderte Male. Das hat sich
offensichtlich herumgesprochen. Jedenfalls erzählt Jochen Wegner, dass
sich ein Vertreter der argentinischen Regierung gemeldet habe. Man plane
ein „Argentinien spricht“ – und wolle sich dafür mit den deutschen
JournalistInnen austauschen.
Und auch das „Pop-up-Ressort“ von Zeit Online, diese „Innovation“
Lokaljournalismus, dürfte bleiben: „Eigentlich wollten wir das nach der
Wahl wieder einstellen“, sagt Wegner in seinem Berliner Vortrag. „Das wird
es jetzt wahrscheinlich aber nicht mehr.“
27 Aug 2017
## LINKS
[1] http://www.zeit.de/thema/d17
[2] http://www.zeit.de/wirtschaft/2017-04/stadtentwicklung-stadtplanung-nierste…
[3] http://www.zeit.de/gesellschaft/2017-03/single-land-mittdreissiger-mann-kon…
[4] http://www.bild.de/wa/ll/bild-de/unangemeldet-42925516.bild.html
[5] /!p5029/
[6] http://www.rtl.de/cms/das-sommerhaus-der-stars-2017-so-funktioniert-der-kam…
[7] http://www.zeit.de/politik/2017-05/deutschland-spricht-aufruf-d17
## AUTOREN
Daniel Bouhs
## TAGS
Medien
Provinz
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