# taz.de -- Neuer Roman von Annie Proulx: Gewalt im Wald | |
> Zwischen ursprünglicher Akkumulation und idealistischer Philosophie: | |
> Proulx’ Roman zur Geschichte der Forstwirtschaft in Nordamerika. | |
Bild: Fällen, flößen, verarbeiten: Holzwirtschaft in Kanada | |
Wo Heimattümelei und Traditionsdogmen regieren, ist Annie Proulx nicht | |
weit. Ihr Werk besteht überwiegend aus Romanen, die von einer Vorliebe fürs | |
Kleine, Regionale und Betuliche geprägt sind und in denen Farmer oder | |
Fischer im Mittelpunkt stehen. „Postkarten“, „Schiffsmeldungen“, „Mit… | |
Amerika“ – von North Dakota über Neufundland bis Oklahoma zieht sich die | |
schriftstellerische Spur Proulx’, immer auf der Suche nach lebensweltlicher | |
Authentizität, schrulligen Land- oder Küstenbewohnern und den vielen | |
Widersprüchen, die aufeinanderprallen, wo das Alte sich gegen das Neue | |
wehrt. | |
Auch diesmal, in ihrem neuen Werk „Aus hartem Holz“, sind sie alle wieder | |
da: gute, einfache, ehrliche, naturverbundene Familienmenschen und ihr | |
Widerpart, die krassen Auswüchse eines traditions- und | |
naturressourcenfressenden Kapitalismus. Proulx’ Liebe gilt einer Welt, die | |
am ehesten dem „unwiederbringlich verlorenen Naturzustand“ in der | |
idealistischen Philosophie Jean-Jacques Rousseaus entspricht. Und so ist es | |
kein Zufall, dass „Aus hartem Holz“ im Jahr 1693 beginnt, gerade mal 19 | |
Jahre vor der Geburt Rousseaus. | |
Auf fast 900 Seiten lässt Proulx 320 Jahre der Geschichte der großen | |
Waldbestände in Nordamerika passieren. Der Roman beginnt im Süden des | |
heutigen Kanadas, breitet sich über den Norden der heutigen USA aus und | |
macht Abstecher nach China, Neuseeland und Brasilien. Ein Großteil der | |
Handlung spielt im Wald. Proulx beginnt ihre Story mit den Einwanderern | |
René Sel und Charles Duquet, jungen Franzosen, die es im späten 17. | |
Jahrhundert nach Kanada verschlägt oder, wie es damals heißt, „la nouvelle | |
France“. Was folgt, sind etwa zehn Generationen der Nachfahren Sels und | |
Duquets und ihr Leben bis ins Jahr 2013. | |
Stammbaum-Literatur, die von verzweigten Generationen erzählt, ist weit | |
verbreitet, doch noch nie hat eine Autorin den Begriff so wörtlich | |
genommen. Sel, Duquet und ihre Erben verbindet, dass ihr weiterer Lebensweg | |
vom Wald abhängt, sei es als Ort der Hoffnung, wo sich ein freies Leben | |
verwirklichen lässt oder ein traditionelles wie im Fall der Mi’kmaq – | |
kanadischer Ureinwohner, die ihre Lebensräume erst von französischen, | |
später von britischen Siedlern bedroht sehen –, sei es als Holzhändler oder | |
Holzarbeiter oder sei es in einer Mischung aus alldem. | |
## Der Mensch nimmt | |
Wo die Natur reichlich zu geben hat, nimmt der Mensch mit vollen Händen. | |
Und so saust die Axt im Wald schneller und schneller, denn es kommen mehr | |
Menschen nach Nordamerika und sie kommen auf Schiffen, die aus Holz gebaut | |
werden, und wollen in Häusern leben, die auch aus Holz bestehen. | |
Französischer und britischer Kolonialismus müssen der Eigenständigkeit der | |
USA und Kanadas weichen, der Kapitalismus kommt und mit ihm die | |
Massenfertigung und genau dafür ist Holz eine ideale Ressource – ist sie | |
doch scheinbar unendlich in den waldreichen Gebieten Kanadas und New | |
Englands vorhanden. | |
Wie die Anfänge des Kapitalismus auf den Kolonialismus ist längst auch | |
Marx’ Analyse der ursprünglichen Akkumulation auf Rousseaus Naturzustand | |
gefolgt. Wer kann, schließt sich den Holzfällerbrigaden an, die es | |
Quadratkilometer um Quadratkilometer krachen lassen. Mittendrin natürlich: | |
Proulx’ geliebte Mi’kmaq, zu deren traditionellem Handwerk seit | |
Jahrhunderten das Fällen und Flößen von Bäumen gehört. Auch die „edlen | |
Wilden“ müssen ja von was leben und tragen ihren Teil bei, damit sich Marx’ | |
Worte aus „Lohn, Preis, Profit“ erfüllen können, nach denen die „sogena… | |
ursprüngliche Akkumulation nichts andres (ist) als eine Reihe historischer | |
Prozesse, die in einer Auflösung der ursprünglichen Einheit zwischen dem | |
Arbeitenden und seinen Arbeitsmitteln resultieren“. | |
Höhepunkt von Proulx’ „Aus hartem Holz“ ist eine Passage, wo noch mehr W… | |
gefällt werden muss, um dem Bedarf nach Axtstielen nachzukommen, die dann | |
ihren Teil dazu beitragen, noch mehr Wald zu fällen, der dann usw. An | |
dieser Stelle hat Proulx längst ihre Vorliebe für Tradition und edle | |
Naturverbundenheit aufgegeben. Etwa die Hälfte des Romans besteht aus | |
Widersprüchen, die nicht versöhnt werden können, aus Veränderungen, die | |
nicht aufzuhalten sind, aus Totalität, in der individueller oder | |
kollektiver Eskapismus kein Ausweg ist. | |
Proulx führt, freiwillig oder unfreiwillig, ihre Mischung aus „edlen | |
Wilden“, unberührter Natur, „echter“ Freundschaft und fehlender | |
„Entfremdung“ als Authentizitätskitsch vor, den nicht einmal ihre | |
Protagonisten ernsthaft wollen, weil sie aktiver Teil einer sich | |
verändernden Welt sind und weil all das, wenn es denn je vorhanden war, nun | |
schlicht nicht mehr zu haben ist. | |
Was bleibt, sind eine stringent leichte Sprache, die Komplexität angenehm | |
schlicht beschreibt, ohne sie zu reduzieren, und eine literarische Eloge | |
auf Naturschutz. Über die gefallenen (und teilweise wiederaufgeforsteten) | |
Wälder wenden sich die Sel-Duquet-Nachfahren am Ende dem globalen | |
Klimaschutz zu. | |
24 Jul 2017 | |
## AUTOREN | |
Maik Söhler | |
## TAGS | |
Roman | |
Wald | |
Literatur | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Fünf Tipps für die Sommerlektüre: Das sind Geschichten | |
Was gibt es Besseres, als am Strand, auf dem Balkon oder im Café zu lesen? | |
Fünf Romane von Nava Ebrahimi, J. L. Carr, Julia Weber, Martin Spieß und | |
Brian Sewell. | |
Kreative Jugend im Netz: Mein Homer, dein Homer | |
Im Netz hat sich eine Schreibplattform etabliert, auf der Jugendliche | |
Romane, Comics und TV-Serien recyceln. Sie heißt fanfiction.com. Das | |
Internet als Forum der kulturellen Alphabetisierung? |