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# taz.de -- Kreative Jugend im Netz: Mein Homer, dein Homer
> Im Netz hat sich eine Schreibplattform etabliert, auf der Jugendliche
> Romane, Comics und TV-Serien recyceln. Sie heißt fanfiction.com. Das
> Internet als Forum der kulturellen Alphabetisierung?
Bild: Harrypotterfanfiction.com, die aktivste Harry-Potter-Gemeinschaft, verzei…
Viele Erziehungsberechtigte sind sich vielleicht noch nicht ganz sicher, ob
sie die Ergebnisse der in diesen Tagen in Deutschland veröffentlichten
JIM-Studie besorgt oder beglückt aufnehmen sollen. Die Studie untersucht
seit zehn Jahren im Auftrag der Länder Baden-Württemberg und
Rheinland-Pfalz das Mediennutzungsverhalten der 12- bis 19-Jährigen. Und
2008 ist das erste Jahr, in dem der Anteil der Computer den der
Fernsehgeräte in den Kinderzimmern deutlich übersteigt. Einerseits
übertrifft, was sein Eskapismuspotenzial anbelangt, der Computer das
TV-Gerät doch bei Weitem. Aber noch sind die Klagen nicht verhallt, dass
Internet dumm und leseuntauglich mache. Andererseits lässt der Erfolg einer
Seite aus den USA, die, wie die deutsche JIM-Studie, ebenfalls gerade
zehnten Geburtstag feierte, auch auf das Gegenteil schließen: Auf den
Seiten des [1][fanfiction.net] beschäftigt man sich intensiv mit Texten, ja
sogar Literatur. Oder versucht es zumindest, mit tapferer Ausdauer.
Seit 1998 existiert die interaktive Lese- und Schreibplattform, und genau
so sieht sie auch aus: eine primitiv anmutende Buchstabenwüste, keine
bunten Grafiken, keine Bilder, von Videos ganz zu schweigen. Dann und wann
blinkt ein einsames Werbebanner. Andere populäre Seiten, wie die aufwendig
und schrill gestalteten Nutzerprofile bei Myspace, sind dagegen ästhetische
Frontalattacken. Trotzdem gehört [2][fanfiction.net], gemessen an der
Verweildauer der Besucher, mittlerweile zu den beliebtesten Seiten des
Netzes.
Über siebeneinhalb Stunden verbringt der durchschnittliche Nutzer im Monat
dort, wo nichts als das Wort im Mittelpunkt steht. Seiten wie Youtube,
Facebook oder Myspace werden zwar häufiger angeklickt, fesseln jedoch
weniger Aufmerksamkeit: Im sozialen Netzwerk von Facebook hält man es
durchschnittlich knappe drei Stunden pro Monat aus, weniger als die Hälfte.
Nur auf drei Internetseiten wird noch mehr Zeit als bei [3][fanfiction.net]
verbracht: auf der Online-Spielplattform [4][pogo.com] und zwei
Datingportalen. Kein Märchen für Bildungspessimisten also, dass, nach
Spielen und Flirten, Geschichtenlesen die zeitraubendste Beschäftigung im
Netz ist.
Diese Geschichten, die so unheimlich viel Anklang finden, haben eines
gemeinsam: Sie stehen in keinem Buch. Größtenteils sind es Teenager, die
sie verfassen und unter Pseudonym online veröffentlichen. Alle basieren auf
Plots und Charakteren, die es bereits gibt - in Comics, TV-Serien,
Computerspielen, Kinofilmen und natürlich Büchern. "Unleash your
imagination", lautet das schlichte Motto der Seite. Nur ein kurzer Blick
auf das Angebot reicht, um zu erkennen, dass die User diesen Rat beherzigen
und keine Freunde allzu einfühlsamer Klassikeraneignung sind.
Don Quijote etwa muss im Text der Autorin Emily Lydic einen Rückfall
erleiden, als er eines Tages nach den Pulp-Sci-Fi-Heften seines Neffen
greift, sich mit Raumanzug, Raketenschuhen und einer Taschenlampe als
Lichtschwert rüstet, um auszuziehen und gegen außerirdische Würmer zu
kämpfen. Dr. Hannibal Lecter verrät dafür seine romantische
Weihnachtsüberraschung für Clarice Starling, mit der er mittlerweile in
einer friedlichen Vorgartensiedlung lebt. Marge Simpson hat es nach
monatelangem Body-Workout geschafft, Homers Fernsehapparat zu packen und
auf den Müll zu werfen. Oft sind die Stoffe in die Gegenwart verpflanzt. So
auch ein parodistisches Epenfragment über Odysseus, einen Mann, der in ein
Land namens "The Mall" entsendet wird, um ein Geschenk zurückzubringen.
Etwa elf Million Besucher verzeichnet die vor allem in den USA populäre
Seite pro Monat. Mittlerweile gibt es deutsche, französische, spanische
Ableger. Hartgesottene Fans finden jenseits von fanfiction.net in
speziellen Netzwerken wie der "Bonanzaworld" oder "Jane Austen for
Beginners" Gleichgesinnte, mit denen sie an ihren Lieblingsstoffen
weiterspinnen. Zweifellos die meisten Nach- und Neudichtungen kann "Harry
Potter" verbuchen: Allein [5][harrypotterfanfiction.com], die aktivste
Harry-Potter-Gemeinschaft, verzeichnet um die 50.000 Geschichten, verfasst
von 25.000 selbst ernannten Autoren.
Spätestens hier drängt sich die Frage auf, inwieweit das, was die
enthusiastische Masse produziert, um es mit demselben Atemzug zu
konsumieren, mehr ist als ein vorbeirauschender Buchstabenschwall. Zwar hat
es schon immer glückliche Dilettanten gegeben, die ihren Lieblingsdichtern
nacheiferten. Die heutige Verbreitung, die nicht nur eine neue Ära der
Lese-, sondern auch der Schreibwut markiert, ist jedoch dem Internet zu
verdanken. So wird [6][fanfiction.net] von Spöttern "The Pit" genannt. Sie
bezeichnen das Archiv als Grube, in die jeder nach Belieben Eingebungen und
Empfindungen ablassen kann. Für eine Veröffentlichung gibt es nur ein
Teilnahmekriterium: Wer bei der Registrierung angibt, das 13. Lebensjahr
vollendet zu haben, darf publizieren.
Den Texten mangelnde Druckreife vorzuwerfen, wäre allerdings überzogen,
denn meistens wird sie gar nicht angestrebt. Sie bedienen zunächst, bei
Lesern und Schreibern, die Lust an der zwanglosen Begegnung mit kanonischen
Stoffen. Wer darunter leidet, dass sein Lieblingsheld aus der TV-Serie
brutal herausgeschrieben wurde, verfasst einfach eine Version, in der sie
während des Auslandspraktikums bei einer Hilfsorganisation eben nicht auf
eine Landmine tritt. Wer herausfinden will, warum Long John Silver in "Die
Schatzinsel" so ein undurchsichtiger Typ ist, dichtet ihm eine erläuternde
Vergangenheit an. Der Bedarf an solchen Ergänzungen ist offensichtlich
groß. Im virtuellen Zwischenstadium von Mündlichkeit und Schriftlichkeit
wuchert ein Fan-Kanon, auch "Fanon" genannt.
Unter Berufsautoren herrscht Uneinigkeit darüber, wie man mit den kreativen
Fans umgehen soll. Der Komparatist und MIT-Professor Henry Jenkins feiert
die kollektive Autorschaft: "Fanfiction macht den Schaden wieder gut, den
eine zunehmend privatisierte Kultur verursacht. Fans lehnen die Idee einer
endgültigen Version, die von einem Medienkonzern produziert, autorisiert
und reglementiert wurde, ab", schreibt er in seinem Buch "Convergence
Culture". Stattdessen fördere der mediale Austausch ihrer Ideen die
"Schaffung und Verbreitung zentraler, kultureller Mythen".
Von der Remythisierung ihrer Werke sind diejenigen, die ihr Urheberrecht
verletzt sehen, nicht begeistert. Die Schriftstellerin Annie Proulx
bezeichnete gegenüber dem Wall Street Journal die Verfilmung ihrer
Kurzgeschichte "Brokeback Mountain" als "Quelle ständigen Ärgernisses", da
ihr seitdem Fans regelmäßig "verbesserte Versionen" schickten. Anne Rice
will per Bekanntgabe auf ihrer Homepage den Fans das Verfassen von
Fanfiction verbieten. Joanne K. Rowling hingegen scheint ihren Tod als
Autorin nicht zu fürchten: Sie fühle sich "geschmeichelt" von der Tatsache,
dass Harry Potter andere zum Schreiben inspiriere, und begrüße dies,
solange damit keine kommerziellen Interessen verfolgt würden.
Bedeutet dies die Geburt einer mündigen Leserschar aus dem Datenverhau des
Internets, einer neuen Autorengeneration? Zweifellos verhilft
eigenmotiviertes Lesen und Schreiben zu mehr Textkompetenz. Auch Kritik
kommt online nicht zu kurz: Jeder kann die Geschichten unmittelbar
kommentieren, in speziellen Foren werden Lektorendienste angeboten.
Trotzdem ist die Qualitätsskala, auf der die Texte rangieren, mehr als
breit, und manche Jane-Austen-Fan-Adaption liest sich wie eine Karambolage
von Immenhofmädels mit Barbara Cartland; was sicherlich auch manches
Leserherz entzückt.
Die neue Popularität von Fanfiction entkräftet jedoch Prophezeiungen, dass
gesteigerter Internetkonsum bei Jugendlichen zwangsläufig zu einer modernen
Form des Analphabetismus führt, zu einer schreib- und leseschwachen,
bewegtbildfixierten Öffentlichkeit. Eher motivierte die Möglichkeit, anonym
vor einem Millionenpublikum zu debütieren, in den letzten zehn Jahren viele
dazu, selbst zu schreiben. Die totale Nivellierung von Werkgrenzen und
Qualitätsansprüchen, die Selbstermächtigung des Lesers, bereitet jedoch
nicht nur manchem Schriftsteller Kopfschmerzen. Werden in Zukunft nicht nur
- schlimm genug - alle schreiben, sondern auch noch alle hemmungslos
abschreiben? Zumindest in Letzterem sieht der Pulitzerpreisträger Michael
Chabon, dessen erste Kurzgeschichte den Titel "Sherlock Holmes meets
Captain Nemo" trägt und der zuletzt den Roman "Die Vereinigung jiddischer
Polizisten" veröffentlichte, kein Problem. Vielmehr begrüßt er das
Schwinden von Einflussangst bei heutigen Autoren: "Jede Literatur seit der
Aeneis", so Chabons Überzeugung, "ist Fanfiction."
16 Dec 2008
## LINKS
[1] http://fanfiction.net
[2] http://fanfiction.net
[3] http://fanfiction.net
[4] http://pogo.com
[5] http://harrypotterfanfiction.com
[6] http://fanfiction.net
## AUTOREN
Franziska Seng
## TAGS
Roman
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