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# taz.de -- Interview zur Medikamentenzulassung: „Identifizierung nicht mögl…
> Das Leibniz-Institut für Arzneimittelrisikoforschung darf künftig die
> Daten von 24 Millionen Patient*innen speichern. Wofür das gut ist,
> erklärt Direktorin Iris Pigeot
Bild: Durch das Schlafmittel Contergan des Aachener Pharmaunternehmens Grünent…
taz: Frau Pigeot, wieso konnte das Medikament Contergan gegen
Schwangerschaftsübelkeit in den Sechzigern weltweit bis zu 10.000 Kinder
schädigen?
Iris Pigeot: Es gab damals keine Überwachung von Arzneimitteln nach der
Zulassung. Nach der Entwicklung kam ein Medikament direkt auf den Markt.
Kann ein derartiger Skandal heute noch passieren?
Nicht in diesem Umfang. Heute gibt es vor einer Marktzulassung zunächst
umfangreiche Wirksamkeitsprüfungen.
Wie viele Menschen braucht man für eine Zulassung?
Es sind eher kleine Patientenkollektive. An 3.000 bis 5.000 Menschen wird
über kurze Zeiträume ein neues Medikament getestet. Keine Zulassung sollte
zu lange dauern, sonst wäre den Kranken nicht geholfen.
Wie kann man so seltene Nebenwirkungen oder Spätfolgen von Medikamenten
herausfinden?
Gar nicht. Hinzu kommt, dass die Einnahme im wahren Leben auch anders als
in einer Studie ist: Oft werden etwa mehrere Medikamente gleichzeitig
genommen. Deswegen ist es dringend nötig, Arzneimittel nach der Zulassung
zu monitorieren. Das gab es früher ebenso wenig wie große Datenbanken.
Heutzutage würden bereits einzelne Fälle bei der Einnahme von Contergan zu
einer strengen Prüfung des Medikaments führen und gegebenenfalls zur
Marktrücknahme. Ein solches Ausmaß an Schaden könnte ein Medikament heute
nicht mehr anrichten.
Der Bundesrat hat gerade beschlossen, dass Sie über große Datensätze länger
verfügen dürfen. Warum?
Sozialdaten sind in Deutschland gut geschützt. Sie können zu
Forschungszwecken verwendet werden, wenn das Allgemeinwohl betroffen ist.
Vor der Gesetzesänderung mussten Daten für konkrete Forschungsvorhaben
angefragt und am Ende des Projekts wieder gelöscht werden. Die langfristige
Sicherheit von Arzneimitteln und unbekannte Arzneimittelrisiken konnten so
nicht untersucht werden.
Inwiefern hat sich das geändert?
Jetzt können wir in Bremen eine Gesundheitsdatenbank zur systematischen
Überwachung der Arzneimittelsicherheit aufbauen. Unsere Daten aus einer
zehnjährigen Studie umfassen 24 Millionen Personen. Die hätten eigentlich
zum Jahresende gelöscht werden müssen. Jetzt dürfen wir einen Antrag auf
weitere Nutzung stellen.
Wie gewährleisten Sie die Sicherheit solch sensibler Datenmengen?
Eine Identifizierung von Personen ist nicht möglich. Bevor wir die Daten
bekommen, ersetzt die Krankenkasse Namen von Personen mit Nummern. Dann
gehen verschlüsselte Datenträger per Boten an eine Vertrauensstelle. Dort
werden die Nummern entfernt und neue vergeben und die Daten vergröbert. So
wird nur das Geburtsjahr und die Gemeindekennziffer des Wohnorts
übermittelt. Erst dann gehen sie in die Aufbereitungsstelle unseres
Forschungsinstituts. Dort bereiten wir die Daten so auf, dass sie nur
zweckgebunden für eine konkrete Studie benutzt werden können. Die Forscher
haben niemals Zugriff auf den gesamten Datensatz.
Gab es in letzter Zeit Medikamente, die Schäden nach ihrer Zulassung
verursacht haben?
Ja klar. Das berühmteste ist Diclofenac. Wir haben herausgefunden, dass das
Schmerzmittel zu Herzinfarkten führen kann. Das heißt, dass man bei der
Verschreibung dieses Medikaments die familiäre Vorbelastung berücksichtigen
muss. Ein weiteres Beispiel: Die Impfkommission hat eine Zeit lang eine
Vierfach-Impfung gegen Mumps, Masern, Röteln und Windpocken empfohlen. Wir
haben herausgefunden, dass diese Impfung gegenüber der alten
Dreifach-Impfung mit einer separaten Windpocken-Impfung das
dreieinhalbfache Risiko für Fieberkrämpfe barg. Die Impfkommission ist
zurückgerudert und empfiehlt jetzt wieder eine Dreifach-Impfung plus der
Windpockenimpfung.
Für wie sinnvoll halten Sie Tierversuche in der Forschung? Ärzte gegen
Tierversuche kritisieren, dass sie gar keinen Mehrwert haben, und selbst
wenn es so wäre, sie dennoch aus ethischen Gründen abzulehnen wären. Wie
schätzen Sie das ein?
Ich kann nicht sagen, dass Tierversuche nicht sinnvoll sind. Ich habe mich
sehr lange mit dieser Frage beschäftigt, um sie in Gänze zu verstehen. Als
ich jünger war, habe ich ein Tierversuchslabor besucht. Da waren fünf
Kätzchen, die normal aussahen, schmusten und sprangen. Ich habe gefragt:
Was ist mit denen? Ihnen wurde nach der Geburt ein Auge entfernt.
Warum?
Wenn kleine Kinder etwa nach einem Sturz ein Glasauge brauchen, gibt es das
Problem, dass Prothesen nicht mitwachsen und sich der Kopf und das Gehirn
infolge dessen asymmetrisch entwickeln. Das ist ganz furchtbar und hat auch
kognitive Folgen. Es braucht ein Auge, das mitwächst, wie ein Ballon.
Deswegen haben sie ballonartige Prothesen zunächst bei Kätzchen getestet
und geguckt, ob sich deren Proportionen und Gleichgewichtssinn mit der
Prothese normal entwickeln. Das war so. War dieser Versuch nun nicht
sinnvoll?
Ein großes Problem bei Tierversuchen ist die Übertragbarkeit.
Genau wie in Zulassungsstudien braucht es eine Ethikkommission. Es sollte
kein Tierversuch durchgeführt werden, der nicht so geplant ist, dass er die
notwendigen Erkenntnisse bringen kann. Wo immer ein Versuch ersetzt werden
kann, sollte man das tun. Früher hat man toxische Stoffe in Kaninchenaugen
gesprüht, später nahm man stattdessen dann Eidotter dafür. Tierversuche
müssen genauso stark reglementiert sein wie Versuche am Menschen, und
schließlich sind Arzneimittelzulassungsstudien nichts anderes als solche.
Insgesamt hat sich bei Tierversuchen in der Zwischenzeit viel verändert.
Dennoch bleibt das grundsätzliche Problem, ob die Ergebnisse von
Tierversuchen auf den Menschen übertragen werden können, was von vielen
hinterfragt wird. Die Entscheidung bleibt unglaublich schwer: Ohne
Forschung an lebenden Organismen wäre unsere medizinische Versorgung
schlechter.
25 Jul 2017
## AUTOREN
Gareth Joswig
## TAGS
Contergan
Datenschutz
Big Data
Schwerpunkt Frankreich
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