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# taz.de -- Die Wahrheit: Autonomes Altern
> Die Wahrheit-Reportage aus einer nicht allzu fernen Zukunft – beim
> Schwarzen Rollator-Block 2056: „Früher flogen die Steine einfach besser.“
Bild: Die neue Rollator-Polizei bewacht den Schwarzen Rollator-Block
Opa Beuth ist stolz auf seinen Rollator – er fährt einen 1963er Parkinson
mit Spurhalteassistent. Und er legt Wert darauf, dass er seinen Morgenbrei
noch immer mittels eines sauber gezielten Steinwurfs in die Scheibe des
Schwesternzimmers ordert.
Dass er bei diesen Worten gegrinst hat, können wir nur vermuten, denn Opa
Beuth ist natürlich vermummt. Wir haben zwar eine der ersten Genehmigungen
zum Besuch des autonomen Seniorenstifts „Rheumapflasterstein“ bekommen,
aber die Bewohner bleiben extrem misstrauisch. „Über die Strategien beim
Rommé reden wir nie, wenn Pfleger anwesend sind – das sind doch alles
Spitzel.“
Auch an den Besuchstagen vermummen sich alle, um nicht erkannt zu werden –
was zu heiterem Verwandtenraten auf jedem Zimmer führt. Ernster ist, dass
demente Autonome oft nie wieder zurück ins Heim finden, weil sie Schilder
mit revolutionären Tarnnamen um den Hals tragen – und als notorische
Schwarzfahrer auch kein Geld für den Bus dabeihaben.
## Genervtes Pflegepersonal
Für das Pflegepersonal ist die Lage nicht leicht, wie Schwester Inga
genervt berichtet: „Die wehren sich aus Prinzip gegen angeblich repressive
Maßnahmen wie Waschen und Hinternabwischen. Ihre Astra-Bettflaschen
verwenden sie als Wurfgeschosse. Wir Pfleger laufen ja nur in Kampfmontur
rum – auch bei 35 Grad.“
Dabei gibt sich das Stift viel Mühe, um den Bewohnern entgegenzukommen.
Schwarze Gardinen sind selbstverständlich erlaubt – und auch die Viagras
sind hier schwarz statt der „Bullenfarbe Blau“. Zur Anregung der Insassen
werden die Mahlzeiten nicht ausgegeben, sondern müssen erbettelt oder
gestohlen werden. Die Kasse finanziert sogar die ergonomischen Becher zum
Betteln.
Opa Beuths Füße stecken in schwarzen Randaletten, und die beliebten, hinten
offenen Pflege-Nachthemden sind hier nicht blassgrün, sondern schwarz oder
rot. Auf den Fluren stehen Rollatoren mit Pöseldorfer Kennzeichen bereit,
zum Schraubenlösen. Nur anzünden ist verboten. Für notorische Bastler gibt
es aber eine anonyme Molli-Klappe. Und nebenan wurde zur Belebung eine Kita
eröffnet: „Die Minitanten“.
Natürlich will Opa Beuth auch von früher erzählen. Seinen Ausführungen zu
Krawallen wie 2017 beim G20-Gipfel ist allerdings nicht ganz leicht zu
folgen. „Ich bin stolz, dass ich dabei war. Außerdem waren das gar nicht
unsere Leute, sondern faschistische Provokateure. Und wir haben von all dem
ja auch gar nichts gewusst. Außerdem: Befehl ist Befehl.“
Opa Beuth weiß, dass er im Faschismus gelebt hat, ist aber unsicher, in
welchem. Er erzählt vom Spanischen Bürgerkrieg – und mit Verbitterung aus
seiner Jugend: „Meine Eltern haben mich nicht geschlagen. Und? Hat’s mir
etwa nicht geschadet?“ Mit sechs erkrankte er an Altersstarrsinn; kurze
Zeit später entdeckte er die „Stammheim Tales“ für sich. Sein Fazit: „W…
wir 77 einen Führer gehabt hätten, wäre Mogadischu anders ausgegangen.“
Aber er besinnt sich auch mehr und mehr auf seine Wurzeln: „Das mit der
internationalen Solidarität war ein Fehler. Deutsch-autonom ist besser. Mit
den Kanaken kann man keine Revolution machen.“
## Einsickern als Freizeitspaß
Was machen die Bewohner den ganzen Tag? Ein beliebter Freizeitspaß ist das
Einsickern in kirchliche Bingorunden, wo man fies schummelt und danach
durch Herausnahme der „Dritten“ und Anti-Faltencreme blitzschnell sein
Äußeres verändert. Das Freizeitzentrum „Graue Flora“ meidet Opa Beuth, s…
es dort neulich diesen Riesenkrach gab: Die Frage, ob der Betriebsausflug
in diesem Jahr ans Steinhuder Meer oder zum Vermummtwandern an die
Okertalsperre führen soll, spaltet die Szene seit Wochen. Es fallen bittere
Worte: „Anarchie ist ja schön und gut – aber bitte nach meinen Regeln!“
Abends geht Beuth, der stolz auf seinen Ehrentitel „Schwarzer Blockwart“
ist, meist in seine Lieblingskneipe „Mummenschanze“; dank Parkinson ist er
dort Barkeeper und mixt unter anderem die „Hasskappe“ (8 cl
Pfefferminzlikör, 1 cl Schäferhundsabber, Schokohaube), den „Arafat“ (2 cl
Dattellikör, 1 Handvoll Sand, 1 Minzblatt und 1 Projektil Kaliber 38) und
den „Castro-Rauxel“ (3 cl Rum, 4 EL Rohrzucker, mit Fanta auffüllen).
Aber Opa Beuth will auch etwas loswerden: „Ich nehme keine Rente von diesem
faschistischen Staat – ich schicke meine Mutter, um sie abzuholen.“
Besonders nervt ihn die revolutionäre Jugend von heute – viel zu lasch.
Apropos lasch: Das Gulasch gestern Mittag sei weder deutsch noch vegan
gewesen.
Aber dann muss Opa Beuth Schluss machen. „Ich muss mit meinem Hündchen
raus. Und um drei kommt ‚Bares für Rares‘. Da gibt’s tolle alte
Springerstiefel und Spraydosen.“ Zum Abschied fällt uns ein Post-it an der
Zimmertür auf: „Ich zeige dem Kapitalismus immer noch die Zähne – dank
Kukident!“ Respekt!
18 Jul 2017
## AUTOREN
Oliver Domzalski
## TAGS
Autonome
Schwarzer Block
Rentner
Psychologie
Kulturkritik
Arbeit
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Verbraucherschutz
Russland
Schwerpunkt Frankreich
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