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# taz.de -- Kolumne Kapitalozän: Die Geilheit von Hamburg
> Gewalt kickt. Unter brennenden Barrikaden blühen die Dystopien, plündern
> die Kids. Nur dem Kapitalismus geht's ganz gewaltig am Arsch vorbei.
Bild: Plünderung in Hamburg: Echte Gefahr ohne nennenswerte Folgeschäden
Hamburg, Schanzenviertel, Freitagnacht letzte Woche auf der Kreuzung
Juliusstraße Ecke Schulterblatt unweit der Roten Flora. Sie wissen schon,
die Krawall-Nacht.
Schwarzer Block brüllt A-, Anti, Anticapitalista, Plünderer, Bullen,
Wasserwerfer, SEK, Waffen, Trump, Putin, Weltgipfel, Brände neben
geöffneten Kneipen, die Faszination des Ausnahmezustands, der Gewalt, des
Kampfes, egal gegen wen, Adrenalin fegt durch Adern, hämmert in den Köpfen
tausend Mal härter als Sex.
Der Rausch des gemütlichen Bürgerkriegs, die Generation Fernsehgrusel ist
endlich LIVE dabei, die Gleichung: Echte Gefahr ohne nennenswerte
Folgeschäden, bei Überdruss ab nach Hause, in die sozialen Netzwerke,
Heldengeschichten posten, empören und pöbeln, egal gegen wen,
Bullenschweine, Linksterroristen immer im Namen der größeren Idee, ohne
irgendwas zu kapieren, sichere Verortung im Moralgerüst, sicher ohne
Konsequenzen.
Alles ab in den Eintopf der Empörung. Kurzschlüsse. Die Einen:
Saudi-Arabien, Türkei, Russland, Flüchtlinge im Mittelmeer, Hunger, Krieg,
Ausbeutung, Dreckssystem, Anticapitalista, Bullenschweine. Die Anderen:
Staat, Ordnung, Bürger, Linke, Gewalt, Terror, RAF.
Ich schildere Ihnen jetzt mal, wie sich das anfühlte, am Freitag in
Hamburg.
Gestank und Flackern einer brennenden Barrikade, bunte Menschen neben
schwarz vermummten Anarchozombies, Biertrinkende sitzen in Kneipen und
gucken Revolution, sabbernde Wasserwerfer, Polizisten mit Angst und
Aggressivität in den Augen, alles verschmilzt zu einem Strom aus Hier und
Jetzt.
Feuer verheißt das Ende von Malm, dem Ikea-Regal, eine qualmende Sparkasse
das Ende von vergessenen Geheimzahlen. Technotanzende Vermummte, die in
ihrer Freizeit Netflix gucken, massakrieren im Schein einer
Open-Air-Diskokugel vor der Hamburger Sparkasse ihre Kindheitstraumata
(Fuck you, Mutter, nie wieder um acht ins Bett).
Die Hedonisten träumen von globaler Nacktheit, die Anarchisten von
Busfahrplänen wie auf Kuba, die Kommunisten von einem Imperium aus
recycelten Kaffeesäcken, die Utopisten von LSD im Trinkwasser, die
Dystopisten wollen den Atomkrieg, die Kids wollen mehr iPhones, iPads,
iSneakers, iWurst, iBrains, iWelt, iImmer, die Säufer träumen vom Walhalla
der Dosenbiere, herbeigeeilte Bürohengste und Bürostuten lechzen nach
Erlösung vom Trott, die Journalisten fuchteln mit Presseausweisen, träumen
von Followern und Fernsehkarrieren, über allem kreisen Helikopter, die gern
Vögel wären. Ein Mädchen mit mintfarbenen Haaren verteilt aus einem
Bauchkorb frisch geplünderten Allgäuer Emmentaler in Scheiben 45% Fett i.
Tr., EDEKA, Biofrisch.
Vermutlich hätten Sie es auch geil gefunden, diese tiefe, archaische Angst,
die tierischen Triebe, die Flucht- und Kampfreflexe der Urzeit, die für ein
paar Stunden unter dieser dicken, klebrigen Schicht aus zivilisatorischer
Gutmütigkeit und Langeweile in ihrem Bewusstsein hämisch hervorgrinsen.
Später hätten Sie verschämt und überzeugt gesagt: Ich bin gegen Gewalt und
gaffe nur aus Empörung. Auch online.
Ging mir ja genauso. Ich hatte sogar eine Presseausweis dabei. Gaffen
deluxe.
Was bleibt ist dies: Der Weltgeist gähnt, dem Kapitalismus geht Hamburg
aber sowas von am Arsch vorbei, wer gewinnt sind die Talkshows, in denen
langweilige Plauderrunden über Rentenkonzepte endlich gewürzt werden von
dumpfen Parolen Berliner Sesselfurzer, die im vollgefressenen Deutschland
das Wort Bürgerkrieg in den Mund nehmen, ohne vor Scham in einem großen,
schleimigen Knall zu explodieren.
In der Türkei sind am Wochenende übrigens eine Million Menschen gegen einen
der größten Verbrecher unserer Zeit auf die Straße gegangen. Viva la
revolución!
11 Jul 2017
## AUTOREN
Ingo Arzt
## TAGS
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