# taz.de -- Home-Made-Pop von Camille: Ihr Freund, der Apfelbaum | |
> Der Umwelt zuliebe: Die französische Sängerin Camille benutzt nur | |
> natürlichen Hall. Und rückt auf ihrem neuen Album „OUÏ“ ihre Stimme in | |
> den Fokus. | |
Bild: Dann macht es Gong: Camille hebt in Südfrankreich ab | |
„In der Musik geht es darum, einander zuzuhören“, sagt die Vokalkünstlerin | |
Camille Dalmais. Ihr neues Album „OUÏ“, dessen Titel wie das französische | |
Wort für „Ja“ anmutet, bezieht sich auf den Sinn des Hörens: Ouïr bedeut… | |
genau hinzuhören. Zu Aufmerksamkeit, zu Achtsamkeit, lädt die Französin mit | |
ihren Songs ein. | |
Bekannt geworden ist Camille, wie sie sich als Solistin nennt, als Teil der | |
französischen Band Nouvelle Vague. Seit ihrem Soloalbumdebüt „Le sac des | |
filles“ (2002), das Orchester und Gesang in den Mittelpunkt stellte, wird | |
sie mit Musikpreisen in Frankreich überhäuft. Darauf folgten „Le Fil“ | |
(2005), basierend auf Stimme und Bass, für „Music Hole“ (2008) ergänzte u… | |
modifizierte sie ihren Gesang durch Body-Percussion, durch Klopfen und | |
Streichen ihres Körpers. | |
Auf ihrem zuletzt erschienenen Werk „Ilo veyou“ (2011) sind es rhythmisch | |
eingesetzte Saiteninstrumente, die ihre Stimme begleiten. „Sie ist mein | |
Signalinstrument“, bekennt die 39-jährige Musikerin, die ihre Stimme als | |
Instrument benutzt, umwerfend vielseitig. | |
## Ächzen, Schnalzen und Prusten | |
Ächzen, Schnalzen und Prusten, auch perkussiv Verstörendes gibt es von ihr | |
zu hören. Und dieser experimentelle Stimmeinsatz steht dabei der absoluten | |
Klarheit ihres Leadgesangs gegenüber. Mit ihrer Singstimme beherrscht die | |
Sängerin viele Register, verweilt aber meistens in den höheren Riegen. In | |
dieser Kombination von Experimentellem, Profanem und Klassischem wurde sie | |
zu einer Art Anti-Popstar. | |
Auch Camilles neues Album „OUÏ“ hat ein Oberthema: An die Stelle von | |
Body-Percussion treten Drums, dazu lotet sie mit Chören weiter die Grenzen | |
menschlicher Stimmerzeugung aus. „Alle meine Alben verfolgen ein Konzept. | |
Ich gehe bei der Produktion nicht nur konzeptuell vor, sondern auch | |
intuitiv. Es ist so, wie einem Kind einen Namen zu geben. Ich muss meine | |
Kunst transparent machen, auch auf musikalische Weise, damit die HörerInnen | |
Zugang zu ihr finden. Was sie dann daraus machen, obliegt ihrer eigenen | |
Interpretation.“ | |
Den Auftakt bildet mit „Sous le sable“ ein Song, in dem sich die Worte der | |
Sängerin sanft ineinanderschieben, begleitet von zurückhaltenden Trommeln | |
und einem bedrohlichen elektronischen Rauschen. Camilles Stimme aber | |
verfremdet sie grundsätzlich nicht elektronisch: „Alle Stimmeffekte sind | |
hausgemacht“, „home-made“, sagt sie. „Wenn ich Hall brauche, suche ich … | |
dafür einen Ort, der hallt.“ | |
## Große Klangräume | |
So verließ die Künstlerin ihr Tonstudio, das in einem alten Kloster | |
untergebracht ist, um in größeren Klangräumen einzusingen, darunter waren | |
sogar Kathedralen. Auch Echo intoniert sie selbst, in dem sie letzte Silben | |
mehrfach singt. Obwohl einige heilige Orte bei der Produktion präsent | |
waren, „OUÏ“ ist nicht religiös. Camille macht sich zwar deren Schwingung… | |
zu eigen, lädt ihre Songs aber nie esoterisch auf. Gleiches passiert mit | |
traditionellen, teils jahrhundertealten Tänzen, bei deren Rhythmik sich | |
Camille bedient und sie ins 21. Jahrhundert transportiert, indem sie sie um | |
zeitgemäße Perkussion ergänzt. Unterstützt haben Camille dabei Toningenieur | |
Maxime Leguil und Clément Ducol, Komponist zeitgenössischer E-Musik (und | |
ihr Ehemann). | |
Ducol hat auch ein weiteres Instrument eingebracht: einen | |
Moog-Analog-Synthesizer. Auch wenn er elektrisch funktioniert, der Moog | |
wirke organisch, fast lebendig, erklärt die Sängerin: „Ich mag seine | |
Verspieltheit. Man kann nicht vorhersagen, wie er klingt, er hat eine | |
eigene Persönlichkeit.“ Ducol hat zudem die klassischen Chöre arrangiert, | |
die Camilles neues Album kennzeichnen. Zum Teil klingen sie experimentell, | |
rhythmisch, atmend. In diesem einsaugenden Stimmenballett gibt die | |
Leadstimme von Camille Halt. | |
Nicht alle Songs auf „OUÏ“ sind so fragil wie der Auftakt „Sous le sable… | |
„Seeds“ wird schon fast zum eingängigen Popsong, „Les loups“ märchenh… | |
aber auch tanzbar, und „Fontain de lait“ ist ein melodiöses Lied über | |
mütterliche Liebe: Im Video wird die Musikerin mit Milch übergossen. Gemein | |
ist den elf Songs von „OUÏ“ die klangliche Bearbeitung von Sprache als | |
Medium: Camille dehnt mit Vorliebe Wörter, zieht sie beim Singen | |
auseinander, zerlegt sie in einzelne Silben und setzt sie wieder zusammen. | |
Die Künstlerin betont Wörter so, dass sie kaum wieder zu erkennen sind, sie | |
spielt mit der französischen Sprachmelodie. | |
„languellestlinguellestlonguellest“ singt Camille in „Langue“, was | |
übersetzt Sprache und Zunge bedeutet. Camille besingt ihr Arbeitswerkzeug. | |
Damit bemächtigt sich nicht nur des Organs, sie dreht und wendet auch die | |
Sprache. „Für mich ist Sprache immer klangvoll und bouncy. Genauso wichtig | |
ist es, dass Wörter eine Bedeutung haben. Ich suche sie nicht nach ihrem | |
Wohlklang aus, sondern, weil sie im Wortsinn etwas bedeuten und Bilder | |
erzeugen.“ So verhandelt Camille auf „OUÏ“ erneut das menschliche | |
Zusammenleben. Im Leben mit der Natur erkennt sie Konfliktpotenzial. | |
In „Twix“, dem nach einem Schokoriegel benannte Song, singt sie auf | |
Englisch und Französisch: „Wenn du ein Twix in die Erde pflanzt, wächst | |
dort nichts, wenn du einen Apfel in die Erde pflanzt, wächst dort ein | |
Baum.“ Camilles radikales Umweltbewusstsein sticht heraus. Hierzulande ist | |
der Atomausstieg politische Realität und Mülltrennung gesellschaftlicher | |
Konsens, in vielen französischen Haushalten steht nach wie vor nur eine | |
Mülltonne. Die Ähnlichkeit von „ouï“ zu „oui“ im Albumtitel kommt der | |
Französin gerade recht: „Wir werden oft als Nation gesehen, die gegen etwas | |
ist, aber wir schöpfen auch Positives.“ | |
## Nachtzug aus Paris | |
Zum Interview in Berlin kommt Camille mit dem Nachtzug aus Paris, sie | |
weigert sich zu fliegen. Beim Gespräch ist sie betont optimistisch. In | |
Frankreich werde mehr denn je Politik gesprochen, die Menschen möchten, | |
dass Politik die Gesellschaft verändere. „Populismus ist überall auf dem | |
Vormarsch, aber ebenso Umweltbewusstsein und neue Wege, um Alltagsprobleme | |
zu verhandeln. So oder so, der Neoliberalismus ist am Ende!“ | |
Vor den Aufnahmen hat die Sängerin ihrer Heimatstadt Paris den Rücken | |
gekehrt. Die Metropole kämpft seit Langem mit exorbitanten Mieten und | |
Überbevölkerung. Paris sei festgefahren, meint Camille: „Es gibt zu viele | |
Autos, zu viele Handys, zu viel Stress, nicht genug Fluidität.“ Mit Clément | |
Ducol und ihren zwei Kindern hat sie ihre Zelte nun in Südfrankreich | |
aufgeschlagen. Von ihren Kindern lerne sie beides, Tiefe und Simplizität – | |
und intuitive Musikalität: „Alle Kinder sind musikalisch“, sagt die | |
Künstlerin. „Auch Erwachsene können musikalisch sein, ohne Musik zu machen. | |
Und wir können Musik machen, ohne musikalisch veranlagt zu sein. Es geht | |
darum, sich aufeinander einzustimmen, richtig gestimmt zu sein. Dazu muss | |
man den anderen zuhören.“ | |
23 Jun 2017 | |
## AUTOREN | |
Diviam Hoffmann | |
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