# taz.de -- Freundschaft in der Politik: „Die Deutschen sind konsenssüchtig�… | |
> Angela Marquardt ist links, Hugo Müller-Vogg hingegen erzkonservativ. Die | |
> beiden sind Freunde. Wie geht das denn? | |
Bild: „Müller-Vogg ist speziell, ich bin speziell – vielleicht verbindet u… | |
taz.am wochenende: Frau Marquardt, Herr Müller-Vogg, warum sind Sie | |
Freunde? | |
Angela Marquardt: Wir mögen uns, und wir streiten gern. Müller-Vogg fordert | |
mich heraus, weil er völlig andere Meinungen hat. Weil wir uns so gut | |
kennen, denke ich: Sei genau! Aus Streit nimmst du was mit. | |
Hugo Müller-Vogg: Ich finde es interessanter, mich mit Leuten zu | |
unterhalten, die anderer Meinung sind, als mit Gleichgesinnten. Und die aus | |
einer anderen Welt kommen. | |
Der eine ein Konservativer, die andere eine Linke: Frau Marquardt, Sie | |
arbeiten in der SPD seit Jahren an Rot-Rot-Grün. Ist der Traum jetzt | |
ausgeträumt? | |
Marquardt: Rot-Rot-Grün ist kein Traum, sondern … | |
Müller-Vogg: … ein Albtraum! | |
Marquardt: Ja, Herr Müller-Vogg, für Sie ist es ein Albtraum. Ich nenne es | |
eine Möglichkeit. | |
Was brächte eine rot-rot-grüne Bundesregierung? | |
Marquardt: Es gibt einige Projekte, etwa wenn ich an die Bürgerversicherung | |
denke … | |
Müller-Vogg: … die Zwangs-AOK … | |
Marquardt: … an eine andere Rüstungspolitik, an Änderungen bei Hartz IV, an | |
das Thema Rente oder eine sozial gerechte Umweltpolitik. | |
Müller-Vogg: Wir würden uns in außenpolitische Abenteuer stürzen, eine | |
Politik ohne oder gar gegen die Nato versuchen. In Europa würden wir andere | |
Volkswirtschaften, die sich selbst ruiniert haben, mit deutschen | |
Steuergeldern aufpäppeln. Deutschland würde ein Betreuungs- und | |
Bevormundungsstaat, finanziert durch eine gigantische Umverteilung. | |
Marquardt: Spannend, dass Sie Gerechtigkeit und Chancengleichheit mit | |
Bevormundung verbinden. Ich komme aus einem Land, das seine Menschen extrem | |
bevormundet hat und wenn ich eins überhaupt nicht, nicht mal im Ansatz in | |
mir trage, dann ist es, Menschen bevormunden zu wollen. Ich will etwas | |
anbieten. | |
Müller-Vogg: Mit Bevormundung meine ich staatlich verordnete Political | |
Correctness. | |
Frau Marquardt, was befürchten Sie, falls Angela Merkel noch mal mit Union | |
und FDP regieren könnte und Ihre SPD in der Opposition landet? | |
Marquardt: Die Demokratie würde leiden. Sie würde noch mehr ausgehöhlt, | |
aber auch langweiliger und ermüdend. Spannend ist doch an der | |
Rot-Rot-Grün-Debatte, dass sich alle mit dieser Möglichkeit | |
auseinandersetzen. Auch wenn die einen sagen: Dann regiert die Stasi mit! | |
Rot-Rot-Grün könnte demokratische Prozesse wiederbeleben, weil sich viele | |
stark an dieser Politik reiben würden. Politik sollte wirklich gestalten | |
nicht nur verwalten. Ich wünsche mir einen Aufbruch. | |
Müller-Vogg: Mich stört das Argument Langeweile. Die spannendste, | |
dramatischste Konstellation, die wir in Deutschland je hatten, war die Wahl | |
am 5. März 1933. Es gab eine extrem hohe Wahlbeteiligung. Viele saßen auf | |
gepackten Koffern, weil sie wussten: Wenn das schiefgeht, dann ist die | |
Demokratie zu Ende. Sie hatten ja auch recht mit ihrer Befürchtung. Auf die | |
Art von Spannung kann ich verzichten. Da habe ich lieber eine stabile | |
Demokratie, die ein bisschen langweilig ist. | |
Wenn man Ihnen zuhört, ist da jede Menge Dissens, trotzdem sind Sie | |
Freunde. Was fangen zwei wie Sie überhaupt miteinander an? | |
Müller-Vogg: Ich fand Angela Marquardt schon bei der ersten Begegnung | |
interessant und sympathisch. Uns verbindet die „Lindenstraße“ (Müller-Vogg | |
lacht laut). Konservative wie ich müssen einmal in der Woche 28 Minuten | |
konzentriertes Gutmenschentum erleben. Eine Serie, wo die Männer alle | |
Luschen sind und nur die Frauen stark, die Arbeitgeber Verbrecher … | |
Marquardt: … der Vermieter ist auch ein Verbrecher. | |
Müller-Vogg: Ja, genau. In der „Lindenstraße“ übernimmt niemand | |
Verantwortung für das, was er macht. Ob man mit 16 schwanger wird oder | |
durchs Abitur fällt, weil der Arsch von Lehrer, wie es dann heißt, die | |
falschen Fragen gestellt hat. Mich amüsiert das. Wir kommentieren manchmal | |
die „Lindenstraße“ live per SMS. | |
Warum gucken Sie „Lindenstraße“, Frau Marquardt? | |
Marquardt: Richtig eingestiegen bin ich in den Neunzigern, weil Klausi | |
Beimer Nazi war. Das interessierte mich, wie die Geschichte aufbereitet | |
wird, weil es damals Thema war und weil mich als Linke solche Leute auch | |
konkret attackiert haben. Uns verbindet auch das Kochen, ich hab schon mal | |
gekocht für ihn. | |
Müller-Vogg: Nein, zweimal. Und jedes Mal hervorragend, sage ich Ihnen. | |
Was gab es? | |
Marquardt: Beim ersten Mal Seeteufel im Pancettamantel. | |
Müller-Vogg: Ich hab die Gerichte fotografiert und meiner Frau geschickt, | |
als Vorlage zum Nachkochen. | |
Herr Müller-Vogg, als Frau Marquardt 1971 in Mecklenburg geboren wurde, | |
haben Sie gerade in Mannheim Ökonomie studiert. Wie sahen Sie damals die | |
DDR? | |
Müller-Vogg: Ich war mit einer Gruppe der katholischen Jugend das erste Mal | |
in Ostberlin, Mitte der Sechzigerjahre. Ich spürte eine gewisse Faszination | |
des Perversen: die Mauer, der Todesstreifen, diese rigorosen | |
Passkontrollen. Danach bin ich oft, wenn ich in Berlin war, rüber. Ich habe | |
dort eine junge Frau kennengelernt, wir haben uns auch geschrieben. Und | |
beide die Erfahrung gemacht, dass Briefe geöffnet wurden – von der Stasi | |
wie vom Verfassungsschutz. | |
Mädchen aus Ostberlin: wie im Lied von Udo Lindenberg. | |
Müller-Vogg: Von dem Mädchen habe ich erfahren, welche Nachteile etwa | |
kirchentreue Christen hatten. Später bin ich oft auf die Leipziger Messe | |
gefahren, da war ich in einem Privatquartier bei einer Familie, mit der ich | |
mich angefreundet hatte. Ich habe denen vor einer Reise nach Leipzig ein | |
großes Paket geschickt. Wie es das Schicksal wollte, kam das Paket | |
gleichzeitig mit mir an. Ich werde nie vergessen, wie die Frau das | |
ausgepackt hat und aus dem Packpapier die Adresse und den Absender | |
herausschnitt. Als ich sie fragte, warum, antwortete sie: Wenn ich das | |
jetzt in die Mülltonne tue, weiß der Hausmeister, wer ein Westpaket | |
bekommen hat. So klein machten die ihre Leute. | |
Frau Marquardt, wie finden Sie Hugo Müller-Voggs DDR-Bild? | |
Marquardt: Er hat die DDR zu einer Zeit erlebt, die ich nicht erlebt habe. | |
Aber was soll ich dazu sagen? Das ist ja ein richtiges Bild. Ich habe als | |
Kind keine Westpakete bekommen. Mein Opa hatte zwar Verwandtschaft im | |
Saarland, aber er hat die Pakete immer zurückgeschickt. Mein Opa wollte | |
diese Pakete nicht annehmen. | |
Nach der Wende gingen Sie in die PDS. Was hielten Sie von der FAZ, bei der | |
Müller-Vogg damals Karriere machte? | |
Marquardt: Ich habe Medien erst richtig wahrgenommen, als ich in Berlin | |
gelebt und im Vorstand gearbeitet habe. Meine damalige Partei, die PDS, ist | |
nirgends gut weggekommen und ich oft auch nicht. | |
Müller-Vogg: Erschwerend hinzu kam Ihre grüne Punkfrisur (lacht). | |
Marquardt: Ja, ich fühlte mich zuweilen ungerecht behandelt, weil unwahre | |
Dinge über mich geschrieben wurden. So was wie: Sie verherrlicht Gewalt, | |
sie ist die Verbindung zwischen Autonomen und der PDS – das waren so die | |
Neunzigerdebatten. | |
1998 kamen Sie in den Bundestag. Bald lernten Sie den FAZ-Herausgeber Hugo | |
Müller-Vogg kennen. | |
Müller-Vogg: Das war 2000 in Heidelberg, eine Art Sommeruniversität, es | |
ging um Medien und Digitalisierung. Wir waren beide eingeladen. Ich bin da | |
hin, mit allen Vorurteilen, die man so gegenüber einer PDS-Punkerin hat. | |
Dann haben wir uns aber auf dem Podium ganz vernünftig unterhalten. | |
Marquardt: Ich wusste erst mal gar nicht, wer er ist. Mein medialer Fokus | |
waren Junge Welt, Neues Deutschland, später Jungle World. | |
Müller-Vogg: Wiedergetroffen haben wir uns am 2. Oktober 2000, als Gregor | |
Gysi wieder mal eine Abschiedsfeier gab, diesmal vom Fraktionsvorsitz. Ich | |
war da platziert mit irgendwelchen Vertretern sozialistischer | |
Bruderparteien. Und plötzlich tippt sie mir auf die Schulter und sagt: | |
„Tach, Herr Müller-Vogg.“ | |
Und dann? | |
Müller-Vogg: Wir haben den ganzen Abend geklönt und was getrunken. Und dann | |
hat sie mir erklärt, dass sie in der PDS demnächst die Macht übernimmt und | |
bis Ende 2008 entweder Parteivorsitzende ist oder Ministerpräsidentin in | |
Ostdeutschland. Darauf haben wir gewettet. | |
Marquardt: Die sechs Flaschen Champagner gingen an ihn. | |
Müller-Vogg: Sie hat mir den Karton vorbeigebracht, er war innen und außen | |
mit der Bild-Zeitung beklebt, mit einer Ausgabe, in der eine Kolumne von | |
mir drin war. Das fand ich ganz toll. Eine Flasche haben wir zusammen | |
getrunken. | |
Kommen wir auf die Politik zurück. Ist die AfD rechtsextrem? | |
Marquardt: Diese Partei stellt die Demokratie infrage. Wenn mir jemand in | |
Diskussionen in Wahlkämpfen erklärt: Es ist egal, mit wem ihr regiert, ihr | |
macht sowieso nichts für die Leute. Damit ihr das endlich merkt, wähle ich | |
AfD. Da gehe ich rein – da dürfen Sie gern lachen, Herr Müller-Vogg – und | |
sage: Aber deswegen darf man doch keine Nazis wählen. | |
Müller-Vogg: Ich lache, weil ein Teil der Leute, die Sie jetzt als Nazis | |
kritisieren, vorher die Linken gewählt haben. Damals fanden Sie das gar | |
nicht so falsch. | |
Marquardt: Aber wie Sie wissen, sind die AfD und die Linken nicht gleich. | |
Müller-Vogg: Doch: Protestwähler sind sich sehr ähnlich. Hauptsache gegen | |
die da oben. | |
Marquardt: Es ist ein Unterschied, ob ich aus Protest Nazis wähle oder ob | |
ich Leute wähle, die für Steuererhöhung, bedingungsloses Grundeinkommen, | |
kostenfreie Kitas, für Antirassismus stehen. | |
Müller-Vogg: In der AfD gibt es Nationalkonservative, Ex-CDU-Leute, | |
Rechtspopulisten, Rechtsradikale, NPD-Fans, Völkische, eine wilde Mischung. | |
Die generell als Nazis zu bezeichnen, ist mir zu pauschal – und ihre Wähler | |
erst recht. | |
Marquardt: Ich habe nicht gesagt, dass alle AfD-Wähler Nazis sind. | |
Aber Sie würden die AfD als Nazi-Partei bezeichnen? | |
Marquardt: Ja, dabei bleibe ich auch. Da brauche ich mir nicht nur Höcke | |
anzusehen. Es reicht, sich die Parteidiskussionen anzugucken, die | |
Pamphlete, die Anträge. Die Zählung von Homosexuellen, das ganze | |
Familienbild – das ist für mich rechtsextrem. | |
Sie gehen da nicht mit, Herr Müller-Vogg? | |
Müller-Vogg: Nein. Ich halte es für unerträglich, dass die AfD es nicht | |
schafft, Antisemiten wie Gedeon rauszuwerfen. Oder dass sie den Höcke seine | |
Ansichten verbreiten lässt, weil sie wissen, der bindet einen Teil der | |
Wähler. Genauso, wie ich es für unerträglich halte, dass sich Ihr früherer | |
Verein, Frau Marquardt, nicht aufraffen kann zu sagen, die DDR war ein | |
Unrechtsstaat. Einen solchen Schnitt wagt die Linke nicht, und auch die AfD | |
nicht. | |
Es fällt auf, Herr Müller-Vogg, dass Sie, wenn Sie nach der AfD gefragt | |
werden, kurz streifen, was an der AfD noch nicht so richtig läuft, und dann | |
zur Linken übergehen. | |
Müller-Vogg: Ich weiß, die Gleichbehandlung der ganz Rechten und ganz | |
Linken gefällt Ihnen nicht. Ich bin ein entschiedener Gegner der AfD, ich | |
wäre froh, die rutschten unter fünf Prozent. Aber ich finde es genauso | |
schlimm, dass die Linke nicht wenige in ihren Reihen hat, die heute noch | |
Mauer, Stacheldraht und Schießbefehl für sozialistischen Fortschritt | |
halten. | |
Marquardt: Es hilft nur der Debatte gar nicht, wenn wir über die AfD | |
diskutieren, sofort den Bogen zur Linkspartei zu machen. | |
Müller-Vogg: Na, Sie wollen doch mit denen regieren. | |
Bleiben wir mal bei der DDR-Vergangenheit. Herr Müller-Vogg, als Sie 2002 | |
gehört haben, dass Angela Marquardt von der Stasi als Informantin geführt | |
wurde, wie haben Sie da reagiert? | |
Müller-Vogg: Ich vertrete ja die These der Sozialisation, der Prägung durch | |
das Umfeld: Wer in einer politischen Familie groß wird, wird von den Eltern | |
beeinflusst, oder er rebelliert. Ich wurde sozialisiert in einer | |
katholischen CDU-Familie in Mannheim, hatte ein sehr gutes Verhältnis zu | |
meinem Vater. Wäre derselbe Vater in Rostock in der SED gewesen, bin ich | |
nicht sicher, ob ich in den Widerstand gegangen wäre. Deswegen bin ich weit | |
davon entfernt, jemandem seinen Werdegang vorzuwerfen. | |
Frau Marquardt, wie ist das für Sie, eine Geschichte zu haben, die nie | |
vergeht? | |
Marquardt: Das, was mir 2002 passiert ist, möchte ich so nicht noch einmal | |
erleben. Bis ich vor zwei Jahren mit Miriam Hollstein mein Buch über meine | |
Jugend und die Stasi geschrieben und mich auf diese Weise meiner Geschichte | |
gestellt habe, habe ich eine Riesenangst mit mir rumgeschleppt. | |
Dass immer jemand die Stasiakte zieht? | |
Marquardt: Ja. Ich bin damals sogar öffentlich angespuckt worden. Diese | |
Zeit hat sich in mein Hirn eingebrannt. Im Bundestag hingegen sind 2002 | |
viele auf mich zugegangen, Guido Westerwelle und andere. Aber die | |
Allgemeinheit hat nicht auf das Alter geschaut, darauf, dass ich eine | |
Jugendliche war, als ich verpflichtet wurde. Die hat nur Stasi gesehen. | |
Aber die Verantwortung für mein Handeln als Jugendliche will ich schon | |
übernehmen. | |
Steht nicht Ihr Freund Hugo Müller-Vogg genau für diese Denkschule: | |
Menschen aus der DDR genauso zu beurteilen wie im Kalten Krieg? | |
Marquardt: Er sieht meine Geschichte differenziert. | |
Müller-Vogg: Ich war von Ihrem Buch sehr angetan und zugleich sehr | |
betroffen. | |
Marquardt: Aber Ihnen gefiel das Cover nicht. Ich hätte mich von der | |
falschen Seite fotografieren lassen. Er meinte das Piercing und sagte: Sie | |
wollen doch ernst genommen werden. | |
Müller-Vogg: Ich vermutete, dass Sie mit dem Piercing bei manchen | |
SPD-Genossen nicht gut ankommen. | |
Andere Leute irritiert ein Einstecktuch, Herr Müller-Vogg. | |
Müller-Vogg: Deshalb trage ich extra für die taz heute eine Krawatte. | |
Ist es nicht einfach auch ein guter Deal? Das Dissensduo: viel | |
interessanter als Müller-Vogg oder Marquardt allein. | |
Marquardt: Das hat Hugo Müller-Vogg nicht nötig. | |
Müller-Vogg: Angela Marquardt ebenso wenig. Aber ich bin schon mehrfach bei | |
SPD-Veranstaltungen von hochrangigen Genossen sehr distanziert begrüßt | |
worden, wenn ich zusammen mit ihr auftauchte, auch kürzlich beim | |
Vorwärts-Fest. Derselbe SPD-Mann hat sich später mit mir allein sehr | |
freundlich unterhalten. | |
Marquardt: Ich vergesse nie, wie ich für eine Rot-Rot-Grün-Veranstaltung | |
vorgeschlagen habe, ihn als Moderator zu gewinnen. Die haben mich alle | |
total entsetzt angeguckt. Der Toni Hofreiter ist Sturm gelaufen (sie | |
grinst). Aber wir fanden niemanden. Und Hugo Müller-Vogg sagte sogar: Für | |
Sie mache ich es ohne Honorar. | |
Und waren die Rot-Rot-Grünen mit dem Moderator zufrieden? | |
Marquardt: Toni Hofreiter hat danach jedenfalls gesagt, okay, ich hab mich | |
getäuscht. | |
Müller-Vogg: Er hat mich hinterher sogar im Bundestagsauto mitgenommen. | |
Wenn Ihr Freund als Kommentator auftritt: Haben Sie da gar keine | |
Schmerzgrenze, Frau Marquardt? | |
Marquardt: Ich mag zum Beispiel nicht, was er bei Tichys Einblick über | |
Flüchtlinge und dass er dort überhaupt schreibt. Roland Tichy bedient in | |
seinen Beiträgen rhetorisch Pegida und die AfD. Leider unterstützt er sie | |
aktiv mit seinem Magazin. Ich finde das verantwortungslos, | |
antidemokratische Bewegungen in ihrem eindimensionalen Weltbild zu | |
bestätigen. | |
Müller-Vogg: Ich schreibe ja nicht nur für Tichys Einblick, sondern auch | |
für Huffington Post oder Cicero. Tichys Einblick ist ein | |
liberal-konservatives Onlinemagazin, in dem auch Necla Kelek, Norbert Blüm, | |
Hamet Abdel-Samad, Kristina Schröder oder Nicola Beer schreiben. Weil es | |
mit vier Millionen Impressions im Monat erfolgreich ist, wird es in die | |
rechte Ecke gerückt – eine auf der politischen Linken erprobte Methode. Ich | |
bin auch nicht mit allen Beiträgen dort einverstanden. | |
Marquardt: Da bin ich aber froh … | |
Können Sie sich auf Müller-Vogg verlassen? | |
Marquardt: Als ich aus der PDS draußen und in der SPD noch nicht richtig | |
angekommen war, niemand etwas von mir wollte und mir auch niemand einen Job | |
gegeben hat, da hat Herr Müller-Vogg gesagt: Ich schau, was ich tun kann. | |
Er hat dann im Wahlkampf 2009 dafür gesorgt, dass ich mit ihm ein | |
Video-Battle für N24 machen konnte. Das war wichtig für mich. Die berühmte | |
Solidarität, die die Linken immer vor sich her tragen, da wartet man | |
manchmal lange drauf. Müller-Vogg hält Wort. | |
Herr Müller-Vogg, Sie sind 2001 bei der FAZ geschasst worden als | |
Herausgeber – vielleicht nach einer Auseinandersetzung mit ihrem damaligen | |
Kollegen Frank Schirrmacher … | |
Müller-Vogg: Es gab überhaupt keine offene Auseinandersetzung, weder mit | |
Schirrmacher noch mit einem anderen Herausgeber. Ich wurde im Dunkeln | |
erdolcht – von hinten. | |
Und Sie, Frau Marquardt, haben sich entfremdet von der PDS, sind 2003 | |
ausgetreten. Diese Entfremdung von, dieser Bruch mit Institutionen, von | |
denen Sie jeweils lange geprägt wurden, ist das Ihre Gemeinsamkeit? | |
Müller-Vogg: Nein. Ich weiß ja bis heute nicht, warum die Herren | |
Herausgeberkollegen mich bei der FAZ rausgeworfen haben. Frau Marquardt | |
hingegen hat sich bewusst entschieden, mit der PDS Schluss zu machen. Der | |
Vergleich stimmt nicht. | |
Sind Sie beide Außenseiter? | |
Müller-Vogg: Wir sind beide unabhängig, das kann man schon sagen. Natürlich | |
haben mich einige Opportunisten nach meinem Rauswurf nicht mehr gekannt. So | |
what? Dafür sind viele neue freundschaftliche Beziehungen entstanden. Wenn | |
Sie die Gästeliste meines jährlichen Saumagen-Essens in Bad Homburg | |
kennten, würden Sie mich nicht für einen angeblichen Outcast halten. | |
Marquardt: Mein Freundeskreis geht von Gregor Gysi bis Hugo Müller-Vogg. | |
Das würde ich nicht als Außenseitertum bezeichnen. Ich würde mich und | |
meinen Weg eher speziell nennen. Hugo Müller-Vogg ist speziell, ich bin | |
speziell, vielleicht verbindet uns das. Und wir wollen beide was. Er will | |
gehört werden. Und ich möchte vorankommen. Ich bin noch zu jung, um nur | |
speziell zu sein. Vor ein paar Jahren hätte ich das so sicher nicht | |
ausgesprochen, ich hatte Ängste in mir. Heute weiß ich, was ich kann und | |
dass ich mehr kann. Und das würde ich in der Politik gern stärker unter | |
Beweis stellen. | |
Ist die Gesellschaft streitscheu? | |
Marquardt: Eher streitmüde, weil Streit so negativ konnotiert ist. Scheu | |
sind die Leute dort, wo sie keine Argumente haben. Dort grenzt man lieber | |
aus. | |
Müller-Vogg: Die Deutschen sind konsenssüchtig. Die Leute reden eher über | |
ihre Sexualpraktiken als darüber, wen sie wählen. Wer würde bei uns ein | |
Wahlplakat in den Vorgarten stellen, wie das in den USA praktiziert wird? | |
Es kommt ja nicht von ungefähr, dass die Deutschen große Koalitionen mögen. | |
Das hat eine lange Tradition. Schon Hindenburg ließ im | |
Präsidentschaftswahlkampf eine Münze verteilen, auf der stand: Für den | |
Staat beide Hände. Aber keine für die Parteien. | |
Ist es in den letzten Jahren seltener geworden, dass Menschen sich mögen, | |
die politisch sehr weit auseinander sind? | |
Müller-Vogg: Im Bundestag gibt es einige Freundschaften über Parteigrenzen | |
hinweg. Mich erinnert der Bundestag da manchmal an Professional Wrestling. | |
Die legen sich aufs Kreuz, die schreien vor Schmerz – und anschließend | |
gehen sie ein Bier trinken. | |
Warum siezen Sie beide sich eigentlich? | |
Müller-Vogg: Ich bin mit dem Du sehr sparsam. Sie Rindvieh, das sagt man | |
nicht so leicht wie: du Rindvieh. Ich habe einen guten Freund, mit dem bin | |
ich seit fünfzig Jahren per Sie, da wäre es auch komisch, das noch zu | |
ändern. | |
Marquardt: Mit der Schauspielerin Inge Meysel, mit der ich befreundet war, | |
hab ich mich auch gesiezt. Sie hatte dann irgendwann mal du gesagt, das | |
rutschte ihr so raus, aber ich habe sie trotzdem weiter gesiezt. | |
Das Sie ist Ihnen ein Zeichen der Wertschätzung? | |
Müller-Vogg: Bei mir ja. Frau Marquardt respektiert, dass ich als der viel | |
Ältere ihr das Du noch nicht angeboten habe. Wenn wir unser Zwanzigjähriges | |
feiern, können wir mal drüber reden. | |
20 Jun 2017 | |
## AUTOREN | |
Anja Maier | |
Georg Löwisch | |
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